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"Der negative Revolutionär"

Exkurs zu Schönbergs Wurzeln und Folgen

Jahrhundertelang war es selbstverständliches Signum tonsetzerischer Meisterschaft, daß bei einer musikalischen Komposition die auf Können und Vision – und deren Umsetzung mittels konkreter Vorstellungskraft – sich gründende Erstellung und das daraus für den Hörer mittelbar (über den oder die ausübenden Musiker) resultierende Klangerlebnis sich weitestgehend decken. An den Überraschungen, die ihm die Aufführungen seiner Werke offerieren, reift der aufmerksame Komponist, und nicht alles, was so klingt, hat er so gewollt. Wo diese Übereinstimmung von Bemühung und Resultat sich einstellte, konnte man von Gelingen sprechen, in einigen Fällen – Namen wie Bach oder Mozart seien Symbol – sogar von genialem Gelingen. Dieses setzt auch – da die Musik eine Zeitkunst ist und ihrem Schöpfer nicht alle Zeit läßt, sondern ihm in einem bestimmten Moment das reale innere Erleben des von ihm in Gang Gesetzten abfordert, die "geistige Feuerprobe" sozusagen – voraus, daß seine gestalterischen Mittel, egal wie kompliziert erklügelt ihre Herkunft eventuell sein mag, sich irgendwann letztlich widerstandslos in den Fluß des unausgesetzten Erlebnisses fügen. Wenn er dann imstande ist, alle Teile in Bezug aufeinander und ein sich aus ihnen konstituierendes Ganzes, auf welches es schließlich ankommt, zu hören, hat er ein zusammenhängendes Werk geschaffen, von dem er sich zurecht eine Kommunizierbarkeit erhofft.
Auch Arnold Schönberg war durchdrungen von diesem Bestreben, stets aufs Neue ein zusammenhängendes Ganzes zu schaffen: "Faßlich ist etwas dann, wenn das Ganze überblickbar ist und aus Teilen besteht, die untereinander und zum Ganzen keine zu fernliegenden Beziehungen (oder besser solche Beziehungen haben, daß sie dem Geist des Beschauers verständlich sind) und wenn die Anordnung dieser Teile so ist, daß die Beziehung untereinander und zum Ganzen nicht verloren geht." (Vielleicht liegt hier schon ein Fehler, in der selbstverständlichen, autonomen Setzung des Ganzen.) Zugleich wollte er Geschichte schreiben, forderte grundsätzlich das Neuartige, Zukunftsweisende von sich und seinen Anhängern. Die Genialität des Komponisten Schönberg wird heute kaum ein Kenner ernstlich anfechten. Dabei ist interessant, daß Schönberg zwar auf spätere Komponistengenerationen den überhaupt folgenschwersten Einfluß genommen hat – mehr als Debussy, Mahler, Strauss oder Strawinskij –, dies jedoch nicht durch seine Kompositionen. Vielmehr hat er die Geschichte der Musik damit revolutioniert, daß er das eingangs ausgeführte Ideal der Deckung von Erstellung und resultierendem Klangerlebnis aus den Angeln hob. Mit anderen Worten: Es wurde hinfällig, daß der Komponist beim Schaffensprozeß noch das erlebte, was hinterher erklingen sollte. Entscheidend wurde der Zusammenhang auf dem Papier. Diese Trennung von innerem und äußerem Erleben, genaugenommen eine Aufhebung des inneren Erlebnisses, erreichte er mittels der von ihm ab 1923 propagierten und praktizierten "Methode der Komposition mit zwölf Tönen". Daß er die Priorität aufs zwölftönige Schreiben beanspruchte, war übrigens recht dreist, hatte doch schon vor ihm Josef Matthias Hauer, gleichfalls Wiener, ein eigenes System zwölftöniger "Tropen" entwickelt. Schon in seinen ersten Voraussetzungen ist Schönbergs Zwölftonsystem ein Beispiel für das Auseinanderklaffen von simplem Kalkül und gigantischen Anforderungen an die Wahrnehmung des Hörers. Es ist ein Reglement, das anstelle der nunmehr für überkommen gehaltenen Tonalität mit ihrer Hierarchie verschiedener Tonstufen, ihrer Anziehungskraft zum Grundton, hier die Idee einer neutralen Tonreihe setzt. Jede Reihe, so schreibt es das Reglement vor, muß sämtliche zwölf Töne (also den gesamten Vorrat unseres temperierten Tonsystems innerhalb einer Oktav) enthalten, und keiner der Töne darf ein zweites Mal auftreten, bevor sämtliche anderen gebracht wurden.
Zuvor hatte Schönberg die unermeßlichen Weiten der freien Tonalität erkundet. Man hat dies fälschlich (und gegen seinen Willen) als Atonalität bezeichnet. Denn nach wie vor sind überall tonale Bezüge am Wirken, wenngleich höchst kompliziert und im ständigen Richtungswechsel nicht über allzu weite Strecken tragfähig – was in ähnlicher Weise für die wuchernde Chromatik seines Zeitgenossen Max Reger gilt. Also merkte Schönberg, wie ihm mit zunehmender Befreiung von den Verbindlichkeiten herkömmlicher Tonalität der formale Zusammenhang entglitt. In der Exaltiertheit auf engstem Raum, von welcher z. B. ein Werk wie das Monodrom "Die Erwartung" lebt, geriet alles extrem kurzatmig, tendierte naturgemäß zu knappen Formen und ließ sich allein durch motivische Verwandtschaften nicht zusammenhalten – die ja dann auch noch dem Auflösungsprozeß unterworfen wurden.
Mit der Einführung des Zwölftonsystems glaubte Schönberg, die Kontrolle über die auseinanderstrebenden Kräfte wiedergewonnen zu haben und wieder in der Lage zu sein, große Formen zu schaffen. Woher? Natürlich herrschen auch in der Zwölftonreihe noch ebenso die tonalen Bezüge, aber sie sind wie nie zuvor kaleidoskopischem Wechsel unterworfen, wodurch die Gesamtgestalt ständig in Binnengestalten zerfällt. Vor Schönberg hatte Webern sich an einer Zwölftongestalt versucht und befand: "Wenn die zwölf Töne abgelaufen sind, ist das Stück zu Ende." Woher, abgesehen von der numerischen Vollständigkeit, rührt die ungebrochene Faszination der Zwölftonreihe? Man hat Experimente gemacht mit rhythmisch gleichförmigen Reihen, wo am Schluß als 13. der Anfangston wiedergekehrt, somit Grundtonfunktion übernimmt und eine geschlossene Gestalt ermöglicht. Und man hat festgestellt, daß unter diesen Konditionen jede Reihe – außer eindimensional schematischen oder aufgrund allzu weiter Sprünge melodisch nicht mehr auffassbaren – eine sinnvolle musikalische Gestalt bildet, etwas Vollendetes, in sich Abgeschlossenes. Das ist in der vollständigen Balance der auf den Grundton bezogenen harmonischen Richtungen, also der quintabwärts und der quintaufwärts auseinanderstrebenden, begründet: Die Harmonik gleicht sich von selber aus, da alle Töne erscheinen und keiner außer dem Grund- und Rahmenton besondere Gewichtung erhält. Das Gebilde trägt sich sozusagen "von selbst". Nicht so, wenn der Anfangston am Schluß nicht wiederkehrt – aber auch dann gilt, daß bereits nach dem ersten Auftreten der Reihe sämtliche harmonischen Expansionsmöglichkeiten ausgereizt sind, mithin eine Entwicklung auf harmonischem Gebiet ausgeschlossen ist. Bleiben also rhythmische Modifikation, dynamische und farbliche Abstufungen. Und, denn sonst "ist das Stück zu Ende", die rechnerischen und für das Gehör fast durchweg nicht wahrnehmbaren Entsprechungen der Grundreihe: Umkehrung (die gleichen Schritte in die entgegengesetzte Richtung), Krebs (die Reihe rückwärts) und Krebs der Umkehrung – macht 4 Reihen, die zudem auf jedem der 12 Töne der Oktav beginnen können, also dem Komponisten 48 mögliche Tonfolgen zur Kombination anbieten. Aufwendigste Analysen sind notwendig, um das Geflecht, welches auch die Vertikale in beliebigem Zusammenklang durchdringt, zu durchschauen, ein Geflecht, das sich niemals durchhören läßt.
Wenn sich sowieso kein harmonischer Bezug mehr herstellt – ja: nicht herstellen soll! –, muß man sich fragen, warum die Oktav weiterhin nach dem temperierten System in 12 Töne eingeteilt wird. Diese Einteilung ergab sich ja nur aus dem Bedarf nach unbeschränktem Modulieren, also aus tonalen Gründen. Wo Tonalität ausgehebelt werden soll, hat dieses künstliche System keine Berechtigung mehr, es könnten ebenso 11, 15 oder 22 Töne sein. Jede arithmetisch gleiche Einteilung des Tonraums ist unnatürlich und somit eine willkürliche Grundlage für ein System, auch wenn Schönberg später meinte, ein Hörer, der sein System nicht akzeptiert, sei "nicht genügend vorgebildet. Denn musikalisch-sein heißt: ein Ohr haben im Sinn der Musik, nicht im Sinn der Natur. Ein musikalisches Ohr muß die temperierte Skala assimiliert haben. Und ein Sänger, der natürliche Tonhöhen angibt, ist unmusikalisch, so wie jemand unsittlich sein kann, der sich auf der Straße 'natürlich' benimmt." Musikalisch ist 'gegen die Natur': Alle Musiker, die nicht wie Pianisten an unveränderliche Tonhöhen gebunden sind, können ob solcher Ignoranz nur den Kopf schütteln.
Die Problematik der großen Form ist mit der Zwölftontechnik offenkundiger denn je, z. B. in Schönbergs Violin- oder Klavierkonzert – auf wen bezieht sich Schönberg eigentlich – auf den Komponisten oder auf den Hörer? –, wenn er einräumt: "Die Grenzen des Faßlichen sind nicht die Grenzen des Zusammenhangs. Der kann auch da sein, wo Faßlichkeit aufgehört hat. Denn es gibt Zusammenhänge, die hinter dem Bewußtsein liegen. Solche wirken dann eventuell auf besser Vor- und Ausgebildete." Wem wird denn der 'unfaßliche Zusammenhang' dargebracht, und hat er irgendwelche musikalische Relevanz? Oder will der Komponist hier gar, vielleicht unbewußt, die Rolle eines selbstherrlichen Weltschöpfers beanspruchen, auf Kosmisches pochen? Weit fesselnder, konzentrierter als die beiden Solokonzerte sind, nicht zuletzt dank des unerschöpflichen instrumentatorischen Einfallsreichtums, seine Orchester-Variationen op. 31 geraten, in denen man gerne, auch aufgrund des B-A-C-H-Zitats, eine Kunst der Fuge des 20. Jahrhunderts gesehen hätte. Die eigentlichen musikalischen Konsequenzen aus den technischen Vorgaben aber zog Schönbergs Schüler Anton von Webern, indem er an der Verknappung der Form festhielt und die sowieso geschwächte Melodik in pointillistischem Wechsel der Mitwirkenden flackernd auf die Reise schickte. Während Schönberg zusehends die Vorschriften lockerte und zeitweise gänzlich aus seinem System, welches ursprünglich "der deutschen Musik die Vorherrschaft für die nächsten hundert Jahre" sichern sollte, ausbrach (bis hin zur Suite in G für Streichorchester von 1934) und Alban Berg sein Bedürfnis nach tonalem Bezug sowieso nie verleugnet hatte, wurde Webern nun in seiner dodekaphonen Clarté, der "kristallinen Faktur" zum eigentlichen Exponenten der zwölftönigen Bewegung. Die mit Messiaens Klavieretüde "Mode de valeurs et d’intensités" einsetzende serielle Bewegung, die mit dogmatischem Zugriff auch die Dauern sowie die für das menschliche Bewußtsein unstrukturierbaren Aspekte wie Klangfarbe, Artikulation und Intensität regulierte, war dann die unvermeidliche Folge der auf künstlicher Basis errichteten Rechenmethode der Zwölftöner. Und von hier war, ebenso unvermeidlich, der Weg in die "elektronische Musik" vorgezeichnet, indem man von den Musikern das absolute Gehör für Unterschiede (z. B. Lautstärke) verlangte, die nur relativ empfunden werden können. Das konnte die Maschine letztlich besser.
Man hat Schönberg als den "konservativen Revolutionär" (Willi Reich) bezeichnet und damit seinen hohen Ansprüchen entsprochen. Er war Autodidakt und fand in dem nur zwei Jahre älteren Alexander von Zemlinsky einen hochkarätigen Mentoren. Bis dahin 'Brahmsianer', erschloß sich ihm nun auch nachhaltig die Welt Liszts und Wagners. Das Streichquartett in D-Dur von 1897 – das erste größere Werk, mit dem er sich hervortat – ist von Dvorák befruchtet. Danach begann der chromatische Tristan-Einfluß Wagners zu dominieren, und in gelegentlich atemberaubendem Tempo trieb Schönberg das voran, was als "Emanzipation der Dissonanz" die Gemüter erregte. Später zog Schönberg folgende Bilanz:
"Meine Lehrmeister waren in erster Linie Bach und Mozart; in zweiter: Beethoven, Brahms und Wagner.
Von Bach habe ich gelernt:
1. Das kontrapunktische Denken, d. i. die Kunst, Tongestalten zu erfinden, die sich selbst begleiten können.
2. Die Kunst, alles aus Einem zu erzeugen und die Gestalten ineinander überzuführen.
3. Die Unabhängigkeit vom Taktteil.
Von Mozart:
1. Die Ungleichheit der Phrasenlänge.
2. Die Zusammenfassung heterogener Charaktere in eine thematische Einheit.
3. Die Abweichung von der Gradtaktigkeit im Thema.
4. Die Kunst der Nebengedankenformung.
5. Die Kunst der Ein- und Überleitung.
Von Beethoven:
1. Die Kunst der Entwicklung der Themen und Sätze.
2. Die Kunst der Variation und Variierung.
3. Die Mannigfaltigkeit des Aufbaus großer Sätze.
4. Die Kunst, unbedenklich lang, aber herzlos kurz zu schreiben, wie es die Sachlage erfordert.
5. Rhythmik: die Verschiebung der Gestalten auf andere Taktteile. Von Wagner:
1. Die Wendefähigkeit der Themen hinsichtlich des Ausdrucks und ihre richtige Anlegung zu diesem Zweck.
2. Die Verwandtschaft der Töne und Akkorde.
3. Die Möglichkeit, Themen und Motive manierenartig aufzufassen, wodurch sie dissonant gegen Harmonien gestellt werden können.
Von Brahms:
1. Vieles von dem, was mir durch Mozart unbewußt zugeflogen war, insbesondere Ungradtaktigkeit, Erweiterung und Verkürzung der Phrasen.

2. Plastik der Gestaltung: nicht sparen, nicht knausern, wenn die Deutlichkeit größeren Raum verlangt; jede Gestalt zu Ende ausführen.
3. Systematik des Satzbildes.
4. Ökonomie und dennoch: Reichtum.
Ich habe auch von Schubert gelernt und auch von Mahler, Strauss und Reger. Ich habe mich gegen keinen verschlossen und konnte deshalb von mir sagen: Meine Originalität kommt daher, daß ich alles Gute, das ich gesehen, sofort nachgeahmt habe. Auch wenn ich es nicht bei anderen zuerst gesehen habe. Und ich darf sagen: ich habe es auch oft genug bei mir zuerst gesehen. Denn ich bin nicht stehengeblieben bei dem, was ich gesehen habe: ich habe es erworben, um es zu besitzen; ich habe es verarbeitet und erweitert, und es hat mich zu Neuem geführt."
So also sah sich Schönberg eingebettet in die höchste Kunst des Komponierens, zugleich stets in historischer Notwendigkeit weiterschreitend, als Klassiker unter Klassikern. Er eignete sich mit besessener Akribie an, was ihm nur irgend wertvoll erschien, und durchlief dabei extreme Wandlungen bezüglich der verwendeten Ausdrucksmittel, der diesen zugrundeliegenden Ideen sowie seiner Anschauungen. Dabei proklamierte er immer wieder schöpferische Unfehlbarkeit und geistige Überlegenheit, im Zweifelsfall unter Berufung auf das Unbewußte: "Ich bin überzeugt, daß ein Hirn, welches in musikalischer Logik geübt ist, nichts wahrhaft Falsches denken wird, sogar wenn es sich nicht alles dessen bewußt ist, was es tut." Irrtum ausgeschlossen? Ja: "Obwohl ich recht hatte und die anderen unrecht, fühlte ich mich sehr einsam…" Dabei übertrug er solch momentgegebene Gewißheit, auch hinsichtlich des historisch für notwendig Postulierten, mit allem Nachdruck auf seine Schüler, die sich als oftmals geradezu hörige, unterwürfige Jüngerschar um ihn sammelten – zumal auf die Begabtesten unter ihnen, also Berg und Webern. Hanns Eisler und Egon Wellesz hingegen z. B. bewahrten sich eine in vielem skeptischere, nüchterne Haltung in dieser eingeschworenen Gemeinschaft. 1931 warf Schönberg Strawinskij und Hindemith, deren Erfolge ihm ein Dorn im Auge sein mußten, vor, sie hätten "von vornherein auf den Zweck der Allgemeinverständlichkeit hin komponiert; so sicher sie nicht einmal das erreichen konnten, so sicher haben sie dagegen dadurch erreicht, daß in 50 Jahren kein Mensch mehr nach einer Sache fragen wird, die man so lange vorher schon zur Genüge verstanden hat. Denn es gibt keine andere Methode, sich die Zukunft zu sichern, als: weder an die Zukunft noch an die Gegenwart zu denken, sondern bloß an die Ewigkeit." Schönberg, der Fortschrittler aus Tradition, widmet sich der Ewigkeit, um – "die Zukunft zu sichern". Fürwahr, ein kühner Gedanke. Natürlich, Schönbergs so oft erfolgreiches Bemühen um die musikalische Immanenz, die sich vom Neoklassizismus abhebende Ausschaltung des bloß Dekorativen, der willkürlichen Kombination der zu Gebote stehenden Ausdrucksmittel ist aus seiner schöpferischen Konsequenz zu erklären, dem "blutigen Ernst", mit dem er komponierte. Und sich verteidigte, gegebenenfalls gegen den Rest der potentiell interessierten Menschheit: "Die Rücksicht auf den Hörer kenne ich so wenig, wie er die Rücksicht auf mich kennt. Ich weiß nur, daß er vorhanden ist und, soweit er nicht aus akustischen Gründen 'unentbehrlich' ist (weil’s im leeren Saal nicht klingt), mich stört." Welcher Großmutbeweis von einem geistigen Führer, der später verkünden sollte, er sei "überzeugt, daß man einmal in diesem Neuen erkennen wird, wie innig es mit dem Besten verbunden ist, was uns als Vorbild gegeben war. Ich maße mir das Verdienst an, eine wahrhaft neue Musik geschrieben zu haben, welche, wie sie auf der Tradition beruht, zur Tradition zu werden bestimmt ist." Und allgemeinverbindlich die Zukunft sichert: "Ich denke, man wird gegen mich nur einwenden können, daß ich eine Musik schreibe, die denen, die nichts davon verstehen, nicht gefällt. Während man zugeben muß, daß sie denen gefällt, die sie verstehen (Genaugenommen steht diese Sache nur so). Und daß mein Vorbild die jungen Leute dazu bringe, ähnliches zu komponieren. Dieser Einwand ist in keiner Weise stichhaltig. Erstens habe ich tatsächlich diesen Einfluß auf Schüler nicht, und will ihn gar nicht haben. Sondern ich wirke nur auf jene in dem verpönten Sinne, die von vorneherein dazu disponiert sind, während solche, die ihrer Anlage nach gegen meine Kunst immun (= untalentiert) sind, es bleiben und sich so entwickeln, wie sie sich sonst entwickelt hätten. Nur, daß sie etwas mehr wissen. Zweitens aber wird das nicht zu hindern sein, daß die jungen Leute, die Begabten, meinem Stil nachstreben. Denn in zehn Jahren werden alle Talentierten so schreiben; gleichviel ob sie direkt bei mir gelernt haben, oder nur aus meinen Werken." Mithin, eine Religion. Dagegen könnte man seine späte Mitteilung an den Dirigenten Hans Rosbaud nicht nur für grenzenlos naiv, sondern fast bescheiden halten: "Ich aber wünsche nichts sehnlicher (wenn überhaupt) als daß man mich für eine bessere Art von Tschaikowski hält – um Gotteswillen: ein bißchen besser, aber das ist auch alles. Höchstens noch, daß man meine Melodien kennt und nachpfeift." Die zwölftönigen?
Die destruktiven Auslegungspotentiale der Zwölftonlehre fanden ihren Propagandisten in einem Mann, der, wie man seiner 1948 beschlossenen "Philosophie der neuen Musik" unschwer entnehmen kann, dem zwölftönigen Reglement abgeneigt war und eigentlich die vorangegangene sogenannte freie Atonalität, die expressionistische Entfesselung an seinem Lehrer und Meister Schönberg am meisten bewunderte: in Theodor W. Adorno, dem scharfzüngigen Avantgardisten der Negation. Als musikalischer Berater Thomas Manns im amerikanischen Exil gefiel er sich bei der Erstellung des "Doktor Faust" als des Autors Mephisto und inszenierte die perfide und treffsichere Idee, die Zwölftonmethode als Erfindung des Teufels zu deklarieren. Später frönte Adorno im seriellen Darmstadt als philosophischer Wegweiser in Diensten der Teufelserfindung seiner pathologischen Lust am Untergang aller Kultur, hatte doch "Musik, die noch zu Menschen und Herzen sprechen könnte", endgültig ausgedient: "Emphatisch arbeitet in Schönbergs Spätwerk die Vergeistigung der Kunst an deren Auflösung und findet sich so mit dem kunstfeindlichen und barbarischen Element abgründig zusammen." Es ging um eine Kunst, die sich in letzter Konsequenz selbst ausmerzt. Schönberg verachtete Adorno zutiefst.
Im zweiten Band seiner umfassenden Aufklärungsschrift "Schönberg und die Folgen" (Bonn 1997, Orpheus-Verlag ISBN 3-922626-90-3; Titel in Anlehnung an Melichars gleichnamige Streitschrift) beschäftigt sich der Bonner Musikwissenschaftler Martin Vogel ausgiebig mit Werdegang und Auswirkungen des Phänomens John Cage, also mit der Person, die auf die kompositorische Ästhetik der zweiten Jahrhunderthälfte einen nachhaltigeren Einfluß ausübte als jede andere. Vogel faßt unter der Überschrift "Die Schönberg-Cage-Konstellation" zusammen:
ĒCage sprach bei Strawinsky vor; der aber unterrichtete nicht. Also wurde er Schönbergs Schüler.
Da Cage kein Geld hatte, unterwies ihn Schönberg umsonst. Diese Großmut nötigte nun wieder Cage das Gelöbnis ab, sein ganzes Leben der Musik zu weihen. Da Cage die charakterstarke Angewohnheit hatte, an einmal gefaßten Vorsätzen festzuhalten, hatte diese Verpflichtung für die Musikentwicklung weitreichende Folgen.
Cage vergötterte seinen Lehrer. "Ich verehrte ihn! Für mich war er vollkommen anders als alle anderen Musiker, oder alle anderen Menschen. Ich glaubte alles, was er sagte. Und vieles von dem, was er sagte, war ziemlich erschreckend." Mit der Zwölftontechnik, die Schönberg allerdings nicht lehrte, war Cage einverstanden. "Er schätzte das Prinzip der Gleichberechtigung der Reihentöne, denen kein Grundton hierarchisch vorgeordnet ist" (R. Oehlschlägel). Bei aller Gleichberechtigung waren ihm aber die Geräusche wichtiger als die Töne. Cage hatte sich vorgenommen, "die Welt der Geräusche in ein musikalisches Werk einzubeziehen". Die 'Harmonie', die Schönberg lehrte, lehnte er ab, "von Anfang an". Ihm fehlte überhaupt jeder Sinn für Harmonie und Harmonik. Die Tonalität empfand er als "eine Öde", als "eine verschlossene Tür". Er lehnte sie ab, "denn Geräusche haben nichts mit Kadenzen zu tun". Und Schönberg, sein Lehrer? "Natürlich wußte Schönberg genau wie ich selbst, daß ich kein Gefühl für Harmonie hatte." Schönberg behielt ihn dennoch um sich, so daß Cage als sein Schüler galt, als sein bester in den Jahren des amerikanischen Exils. Das ging dann zwei Jahre so, bis es schließlich wirklich nicht mehr ging.
Unglücklicherweise fühlte sich Cage weiterhin an sein Gelübde gebunden. Er gründete eine Schlagzeugband, deren Geräuschanteil er kontinuierlich erhöhte. Ob das noch Musik sei? Für ihn war es das. Daß andre es anders sahen, war ihm gleichgültig. "Die Musik, mit der ich mich beschäftige, muß nicht unbedingt Musik genannt werden." Fernöstliche Weisheit, vielleicht auch der nun einsetzende Weltruhm stimmten ihn friedlich und verbindlich. Mit Sätzen wie "Wenn Sie es nicht Musik nennen wollen, nennen Sie es eben anders" imponierte er diejenigen, die über Musik schrieben. Sie empfanden das als "nicht nur so dahingeworfen", sondern als "tiefgründig" und "voller Selbsterkenntnis" (F. Schmidt).
Schönberg hatte ihm klarzumachen versucht, daß er ohne Harmonie niemals würde komponieren können, "weil ich immer vor einer Mauer stünde, der Harmonie, durch die ich nie hindurchkäme. Also erwiderte ich ihm, daß ich mein Leben damit verbringen würde, mit meinem Kopf gegen diese Mauer anzurennen." Cage brachte nun sein Leben damit zu, eine Musik zu schaffen, die der Harmonie entbehrte. Bei diesem Vorsatz kam ihm sein unbändiges Selbstvertrauen zugute, das sich darauf gründete, daß sein Vater ein Erfinder war. Im Vertrauen auf die Vererbungslehre hielt er sich auch für einen Erfinder, und Schönberg tat es ihm gleich: "Natürlich ist er kein Komponist, aber er ist ein genialer Erfinder."´
LET'S HAVE SOME FUNNY SOUNZ!
Soweit Martin Vogel zu den "Folgen Schönbergs". Vogel, der mit Cage natürlich nichts anfangen kann, stellt an den Schluß seiner Betrachtungen einen positiven Gegenentwurf mit reiner Stimmung auf Grundlage der Integration der Naturseptime. Seiner Ansicht, die Möglichkeiten der temperierten Stimmung seien ausgeschöpft, kann ich nicht zustimmen. Natürlich ist dem kreativen Akt nicht, und schon gar nicht auf Dauer, mit künstlichen Systemen wie der Zwölftonmethode beizukommen. Das geht dann nur noch mit schöpferischer Resistenz gegen die aufoktroyierte Technik. Aber wenn einer wirklich etwas entdeckt, was nicht ihm gehört – wofür er keine Priorität beanspruchen muß, da es sich nicht um eine "Erfindung" handelt –, wie der 1947 geborene Schwede Anders Eliasson sein "freimodales", triangulatorisch generiertes "musikalisches Alphabet", dann ist eine neue dynamische Perspektive eröffnet. Die ist tonal im archaischen, nicht im konventionellen Sinne. Und sie ist neu, gründet nicht in der Tradition und ermöglicht die Projektion in weitgespannte, tragfähige Formen. Schönbergs aus der Tradition gespeiste Fortschrittshaltung führte die Zerschlagung der Dur-Moll-Tonalität herbei. Eine neue Tonalität erschloß Schönberg nicht, und Atonalität wollte er nicht. Er führte aber in die Atonalität (= Beziehungslosigkeit). Er war, ob er wollte oder nicht, ein negativer Revolutionär.
Sergiu Celibidache schrieb in seinem kurzen Strawinskij-Essay "Der Praktiker":
"Schönberg ist grundsätzlich ein Chromatiker, seine Sprache und die Eigenschaften seiner Prinzipien haben zu einer Verkomplizierung des vertikalen und horizontalen Druckes geführt. Strawinsky ist ein Diatoniker mit viel chromatischem Pfeffer. Die Strawinskysche Musik ist viel näher und direkter, und von da auch sein Erfolg. Strawinsky hat einen besonderen Sinn gehabt für Erfolg: Warum hat er eine kleine Besetzung genommen? Weil es in dieser Schweizer Stadt überhaupt kein Orchester gegeben hat. Er hat praktisch gedacht. Schönberg hat vielleicht eine tiefere schöpferische Kraft gehabt, aber er mußte zunächst mit seinen eigenen Theorien kämpfen."

Christoph Schlüren