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Höchster Anspruch und deutsches Syndrom?

Das Berliner Schnabel-Projekt
und Paul Zukofsky

Daß Artur Schnabel einer der ganz großen Pianisten und Musiker des vergangenen Jahrhunderts war, steht in der offiziellen Musikgeschichtsschreibung außer Zweifel. Die Stringenz, strukturelle Logik und zielbewußte Entfesselung des Affekts im Dienste der Form in seinen Darstellungen von Werken Beethovens, Schuberts oder Brahms’ trifft auch in der zeitlichen Distanz auf ungeminderte Bewunderung. Hier ging einer in unbeirrbarer Weise den für richtig erkannten Weg. Als Komponist hingegen ist Schnabel in den Augen der breiten Kulturöffentlichkeit ein Außenseiter geblieben, den es mit zwiespältigen Beurteilungen zu versehen gilt. Das ist völlig unverständlich, zumal angesichts der anhaltenden Anbetung des Fortschritts als verheißungsvoller Kategorie. Schnabels Musik ist äußerst radikal und unkonventionell, das muß man nur einmal anhand der mehr als dreiviertelstündigen Sonate für Violine solo, des Piece in Seven Movements für Klavier solo, eines der fünf Streichquartette oder einer der drei Symphonien mitvollzogen haben. Der extrem freie und avancíerte Umgang mit Rhythmik und Metrik, Verhältnis der Phrasenlängen, dissonanzgeladen abrupter Harmonik oder in ungewöhnlichsten Kombinationen oszillierender Klangfarbe zeugt von einer schöpferisch unergründlich eigenartigen, höchste Ansprüche an Dichte und Korrelationsfähigkeit einfordernden Persönlichkeit. Doch Qualität an und für sich hat alle Chancen, über recht lange Zeit unentdeckt zu bleiben. Es war der großartige amerikanische Geigenvirtuose und Dirigent Paul Zukofsky, der Schnabels Musik in bislang unübertroffenen Darbietungen einem interessierten Publikum zugänglich machte und für das unter seiner künstlerischen Leitung stehende Plattenlabel cp2 die drei Symphonien, die Sonaten für Violine solo und für Violine und Klavier sowie Dance and Secret & Joy and Peace für Chor und Orchester aufnahm, ermöglicht durch eine großzügige Finanzspritze von Schnabels einstiger Lebensgefährtin Mary Virginia Foreman Le Garrec. Weitere Einspielungen werden folgen und ein weitestgehend objektives Urteil über einen großen Tonschöpfer des 20. Jahrhunderts ermöglichen.
Großes Aufsehen hat die Überstellung des Nachlasses von Artur Schnabel an das Archiv der Akademie der Künste in Berlin erregt, eines Amerika-Exilanten, der nach dem Zweiten Weltkrieg nie wieder deutschen Boden betrat.
Es ist dem Leiter des Archivs, Werner Grünzweig, gelungen, anläßlich der Berliner Festwochen ein umfassendes Projekt aus dem Boden zu stampfen, um dem kreativen Output Schnabels in gedrängter Form und auf solidem interpretatorischen Niveau ein wirksames Forum zu verschaffen. In 14 Konzerten, die den lebendigen Rahmen einer hochwertig arrangierten Ausstellung in der Akademie "umrahmten", war praktisch das gesamte kammermusikalische Werk vertreten. Vogler-, Petersen-, Minguet-, Pellegrini- und Kairos-Quartett, Ravinia-Trio und trio recherche, die Pianisten Geoffrey Tozer und Benedikt Koehlen und andere nahmen die horrenden Mühen der Einstudierung dieser außerhalb der Konvention angesiedelten, technisch und strukturell höchst anspruchsvollen und mit äußerster Vielfalt von Detailvorschriften befrachteten Kompositionen teils extra zu diesem vor. So spielte das durch seine exquisiten Darbietungen der Quartette von Robert Fuchs zu hohem Ansehen gelangte Minguet-Quartett Schnabels nicht einer abschließenden Revision unterzogenes Zweites Quartett aus einer provisorischen Partitur, in welche verschiedene Überarbeitungsstadien in kaum übersehbarer Form Eingang fanden — ein work in progress, das in seinem Streben zu orchestraler Ausdrucksvielfalt und -maximierung selbst von den Ausführenden als harter Brocken empfunden wurde, im Gegenteil zum sinnfällig gekoppelten Quartett des komponierenden Pianistenkollegen Eduard Erdmann, das in seiner eigensprachlichen Geschlossenheit, dem feinsinnigen Humor und der luziden Innigkeit in Bann zog. Durch die Absage von Christian Tetzlaff entfiel ein Schlüsselwerk: die gigantische Violinsolo-Sonate. Dessen ungeachtet müßte von einem nicht nur verdienstvollen, sondern gelungenen Gesamtunternehmen die Rede sein, hätte nicht mit Paul Zukofsky der erfahrenste und musikalisch potenteste Interpret gefehlt. Dies hatte Gründe, deren Hintergründe sehr unmusikalischer Art sind und sich bei genauerem Hinsehen als Abgründe erweisen. Werner Grünzweig hatte Zukofsky die Ehre zugedacht, den prestigeträchtigsten und schwierigsten Part zu übernehmen: die Leitung des einzigen Orchesterkonzerts mit dem Deutschen Sinfonie-Orchester in Schnabels einstündiger Zweiter Symphonie sowie dem Orchester-Rondo und dem Konzertstück für Klavier und Orchester von Eduard Erdmann. Dementsprechend schickte Rainer Pöllmann, für das Konzert verantwortlicher Redakteur bei DeutschlandRadio Berlin, am 26. März eine Anfrage an Zukofsky ("Wir wären sehr froh, wenn Sie diese Einladung annehmen würden.").

Zukofsky antwortete umgehend und erkundigte sich nach den konkreten Bedingungen. Doch seltsamerweise herrschte mit einem Mal beim Sender Funkstille, die Sache blieb förmlich in der Luft hängen, und Pöllmann war zwei Monate lang, obwohl anwesend, nicht zu erreichen. Schließlich gelang es mir am 31. Mai mit einem simplen Trick, den Redakteur zum Abheben des Telefonhörers zu bewegen. Die Vermutung einer Intrige erwies sich als platte Wahrheit. Der Pianist Stefan Litwin, Solist in der kurzen Erdmann-Pièce, hatte Zukofsky längst hinter den Kulissen unmöglich gemacht und aus dem Sattel gehoben, bis hin zur dreist gestreuten Behauptung von "mangelnder Professionalität". Unprofessionell war nun zumindest Pöllmanns Verhalten, der, statt eine Klarstellung anzuvisieren, in Lähmung verfiel: "Nein, das ist abgesprochen, Zukofsky wird nicht dirigieren." Und siehe, noch am gleichen Tag ging die Absage nach New York ("Ich muß jetzt sagen, daß meine Anfrage, ob Sie das Konzert am 16. September dirigieren würden, inzwischen überholt und nicht mehr gültig ist."). Und wir müssen sagen, daß dies die Normalität eines pervertierten Betriebs ist, die wir nicht dulden dürfen, wenn wir Kenntnis davon erhalten.
Zu pikanten Details führt die Untersuchung der Motivation des Intriganten. Paul Zukofsky ist, seit er 1992-96 Direktor des Arnold Schönberg Institute an der University of Southern California und dort nicht die bis dahin unter Leonard Stein gehütete ruhige Kugel zu schieben gewillt war, einer der meistverleumdeten Protagonisten der klassischen Musikszene geworden, dem sogar das Versagen des Schönberg-Clans auf der obersten administrativen Ebene, zu der er als künstlerisch-wissenschaftlicher Leiter gar keinen Zutritt hatte, in die Schuhe geschoben wird. Freilich hat er als Editor des Journal of the Arnold Schoenberg Institute von vornherein unmißverständliche Töne angeschlagen und den Schwerpunkt auf die Archivarbeit gelegt, wobei unter ihm Immenses geleistet wurde, so die Erstveröffentlichung von Schönbergs berühmter Brahms-Vorlesung, die erste englische Übersetzung der Werkführer von Alban Berg, die Erstveröffentlichung (!) von 'Der biblische Weg' und ein Gesamtverzeichnis der vorhandenen Korrespondenz. Geplant — und nach dem Weggang des Instituts aus Los Angeles und der Gründung des Schönberg-Centers bis heute nicht verwirklicht — waren weiterhin: Busonis 'Ästhetik der Tonkunst' und Pfitzners 'Futuristengefahr' mit Schönbergs Kommentaren, die Korrespondenz mit Schirmer und Kolisch, zwei bis heute nicht veröffentlichte CDs 'Schönberg spricht'. Vor solchen Projekten mußte die aktuelle musikwissenschaftliche Diskussion etwas in den Hintergrund treten, stattdessen erhielt sie dringend benötigten Stoff. Aber sie blieb nicht ausgeschlossen, und schon in seinem ersten Journal ließ Zukofsky Claudio Spies mit einer beißenden Kritik an der Schönberg-Gesamtausgabe zu Wort kommen. In seiner Antwort schlug der Leiter der Gesamtausgabe, Prof. Stephan, allen Ernstes vor, diesen Artikel besser nicht zu veröffentlichen — für die Amerikaner eine durch nichts zu rechtfertigende "suppression" und womöglich ein Zeichen, die Deutschen hätten aus ihrer Geschichte noch nicht genug gelernt. Ein weiteres Foul an Spies folgte. 1994 hielt er in Saarbrücken anläßlich des Schönberg-Symposiums 'Stil oder Gedanke?' ein aufschlußreiches Referat über 'Schönbergs Einfluß auf das Komponieren in Amerika'. Entgegen jeglicher Abmachung wurde sein Beitrag ohne Ankündigung und hinreichende Begründung nicht im Symposiumsbericht abgedruckt. Zukofsky druckte den Vortrag nunmehr mit einer Vorbemerkung von Spies ("a deliberate act of suppression") im letzten von ihm herausgegebenen Journal ab, und in der Fußnote zu Zukofskys Vorwort findet sich der Hinweis auf die Herausgeber des Symposiumsberichts, Klaus Velten und — wer ist jetzt noch überrascht? — Stefan Litwin. Dieser hat nun, hinter verschlossenen Türen, zunächst erfolgreich zurückgeschlagen gegen den vermeintlichen Feind aus der Neuen Welt. Wer geschickt ist, findet auch Helfer. Unterdrückung — weiterhin ein deutsches Syndrom? Das sollte uns nicht gleichgültig sein. Über die schwache Vorstellung des Deutschen Sinfonie-Orchesters in Schnabels Zweiter Symphonie, die Dirigent und Orchester ein Buch mit sieben Siegeln blieb, möchte ich mich nicht weiter auslassen. Zukofsky jedenfalls haben wir hier schmerzlich vermißt.

Christoph Schlüren im Oktober 2001
(Von mehreren Redaktionen - trotz Zusage - ohne Angabe von inhaltlichen Gründen nicht veröffentlichter Text)