"Wie schön ist das Hauptthema des ersten Satzes! Eine Klarinette
begleitet in der tieferen Oktave die in sanfter Erregung auf und
ab wogende Figur der Violinen. Eine schottische Sage erzählt
von einem durchsichtigen, blassen Schatten, der genau so aussieht
wie die Person, die er begleitet, und der, wenn er sichtbar wird,
den Tod dieser Person bedeutet. Sollte diese Sage Mendelssohn vorgeschwebt
haben, als er der Geigenmelodie die tiefe, schattenhafte Klarinette
zur Begleitung gab?" (aus: Felix Weingartner, 'Die Symphonie
nach Beethoven')
Unter den populären Orchesterwerken Felix Mendelssohn-Bartholdys
sind die Hebriden-Ouvertüre und die Symphonie op. 56 in a-moll,
die sogenannte "Schottische", nicht nur hinsichtlich der
landschaftlichen Ursprungssphäre seelenverwandt. Für den
Dirigenten Felix Weingartner (1863-1942) war klar: "Hätte
Mendelssohn seinen einsätzigen Orchesterstücken den glücklichen
Titel ªSymphonische Dichtung´ gegeben, den Liszt später
erfunden hat, so würde er heute wahrscheinlich als Schöpfer
der Programmusik gefeiert und hätte seinen Platz am Anfang
der neuen statt am Ende der alten, sogenannten klassischen Periode
unserer Kunst. Er hieße dann der ªerste Moderne´ anstatt
der ªletzte Klassiker´. Wie viel doch auf ein Wort ankommt!"
Programmusik, sofern man sie nicht als illustrativ schildernde Vertonung,
sondern als die musikalische Bündelung von Stimmungen einer
imaginären Handlung versteht, sind nicht nur Mendelssohns "Konzertouvertüren",
auch seine "Schottische" ist unbedingt dazuzuzählen.
Das Geheimnisvolle, Zauberhafte, dessen äußere Bezüge
nicht enthüllt werden, ist eine Insignie romantischen Sehnens,
und insofern ist die "Schottische" wohl Mendelssohns romantischste
Symphonie, und zugleich was die ebenso raffinierte wie unmittelbar
sich erschließende Formgebung betrifft seine zukunftsweisendste.
Mit ihrem noch beliebteren Schwesterwerk, der so andersartigen "Italienischen
Symphonie" in A-Dur op. 90, ist sie auf bemerkenswerte Weise
tonal verknüpft. Beide Symphonien sind um den Stammton A zentriert.
Dabei wendet in der "Italienischen" das hell strahlende
A-Dur im Saltarello-Finale ins dunkel glühende a-moll. Die
"Schottische" hingegen steht in ihren Ecksätzen im
Zeichen der verhangen-elegischen a-moll-Introduktion, läßt
aber im Schlußabschnitt des Finales umso wirkungsvoller alles
Schattenhafte hinter sich mit einem lapidaren, "schottischen"
A-Dur-Hymnus. Auf diese Weise zerfällt das Finale üblicherweise
in zwei Teile, die sich schwerlich in einen übergeordneten
Spannungsbogen fügen was in der Interpretationsgeschichte
beredten Niederschlag fand. Kein Wunder, daß die "Schottische
Symphonie" deswegen bei jenen Dirigenten, die sich um eine
Verwirklichung des symphonischen Zusammenhangs bemühen, seit
jeher als problematisch gilt.
Mißverständnisse sind impliziert, was die Chronologie
der Mendelssohnschen Symphonien betrifft (hier herrscht noch mehr
Zahlen-Verwirrung als bei Schumann oder Dvorák). Die "Schottische"
wird zwar als Dritte gezählt, ist jedoch tatsächlich die
letzte Symphonie des reifen Mendelssohn. Auf seiner Schottlandreise
1929 notierte Mendelssohn das Thema der Introduktion, doch erst
viele Jahre später machte er sich an die Ausarbeitung und schloß
die Partitur am 20. Januar 1842 ab, um am 3. März in Leipzig
die Uraufführung zu dirigieren. Dagegen wurde die von der nachfolgenden
Italienreise 1830-31 inspirierte "Italienische" 1833 vollendet,
und die von Mendelssohn selbst als unglücklich empfundene "Reformations-Symphonie"
(seine eigentliche Dritte von 1829-30) gelangte erst über die
postume Veröffentlichung als Fünfte in den symphonischen
Kanon. Die zwölf Jugendsymphonien wurden immer getrennt behandelt,
aber es ist sachlich richtig, aus heutigem Abstand die "Schottische"
als Mendelssohns 17. Symphonie zu bezeichnen.
Die Entstehungsgeschichte der "Schottischen Symphonie"
ist legendär, was den auslösenden Eindruck betrifft
es könnte nichts besser ins Bild des Romantikers passen als
die von Mendelssohn beschriebene Stimmung in der verfallenen Heimstatt
Maria Stuarts. Eine wichtige, seinerzeit vieldiskutierte Neuerung
betrifft den formalen Rahmen: Wie Schumann in seiner Vierten Symphonie
wollte Mendelssohn die stimmungstötenden Pausen zwischen den
Sätzen eliminieren dies eine Verbindungslinie zur symphonischen
Dichtung! , und so war im Anhang zum Erstdruck der Partitur
von 1843 zu lesen: "Die einzelnen Sätze dieser Symphonie
müssen gleich aufeinander folgen, und nicht durch die sonst
gewöhnlichen längeren Unterbrechungen von einander getrennt
werden. Für die Hörer kann der Inhalt der einzelnen Sätze
auf dem Programm des Concertes angegeben werden wie folgt:
Introduction und Allegro agitato. Scherzo assai vivace.
Adagio cantabile. Allegro guerriero und Finale maestoso."
Diese Charakterangaben stimmen gewiß aus Versehen
mit den endgültigen, in der Partitur vorgeschriebenen nicht
überein, sondern entstammen einem früheren Stadium der
Niederschrift. Umso interessanter sind sie für die Dirigenten,
die damit zwei authentische Meßlatten für ihr Vorgehen
besitzen. Die endgültigen Satzangaben lauten:
I Andante con moto Allegro un poco agitato Andante
come prima
II Vivace non troppo
III Adagio
IV Allegro vivacissimo Allegro maestoso assai
Als hätte Mendelssohn die hauptsächlichen Auffassungsdifferenzen
seiner Interpreten vorausgeahnt! Spielt man den ersten Satz nun
agitato oder eher poco agitato? Ist das Scherzo assai vivace zu
nehmen oder vivace non troppo ein beträchlicher Unterschied,
wie er in den Liveaufnahmen unter Mitropoulos (3'47" Minuten)
und Klemperer (5'43") manifest wird! Und der Schlußabschnitt
des Finales: Ist hier die Allegro-Vorschrift maßgeblich, oder
geht es fast ausschließlich ums Maestoso, welches sich mit
der von Mendelssohn eingeforderten Klangvorstellung in der Art eines
Männerchors offenkundiger deckt?
Generell sei darauf hingewiesen, daß die Symphonik Mendelssohns
auch mittelmäßigeren Dirigenten ein gutes Betätigungsfeld
bietet. Aufgrund der strukturellen Einfachheit und Eindeutigkeit,
der sinnfälligen, funktionellen Anwendung dynamischer und agogischer
Angaben sowie der kaum je außergewöhnlicher Balance-Korrekturen
bedürftigen, im besten Sinne "von allein klingenden"
Orchestration wirken hier auch sehr durchschnittliche, ja sogar
uninspirierte Einspielungen noch passabel. Was bei Beethoven, Schumann
oder Brahms den kritischen Hörer in ärgsten Widerstand
treiben würde, ist bei Mendelssohn teilweise ohne weiteres
zu ertragen. So ist auch das Ausmaß kontroverser Auslegungen
abgesehen vom Finale, der formalen Achillesferse relativ
gering. Eines verlangt Mendelssohn von seinen Interpreten durchweg:
den kantablen Vortrag. Schon die im Dreiermetrum stehende Andante-Einleitung
ist für eine Symphonie solch großen Zuschnitts
erstaunlich liedhaft schlicht. Dieses Schlichte kann man
emphatischer oder sachlicher, ruhiger oder bewegter verstehen: Man
wird nicht völlig fehlgehen, solange die Phrasen ausgesungen
und organisch miteinander verwoben sind.
Glücklicherweise ist derzeit von dem italienischen Billiglabel
Iron Needle Felix Weingartners Aufnahme von 1929 erhältlich,
ohne jeglichen Begleittext und in sehr dilettantischer Zusammenfügung
der Schellack-Fragmente. Trotzdem, jedem ernsthaft Interessierten,
den das dynamisch vollkommen nivellierte historische Klangbild nicht
abschreckt, muß man diese Aufnahme ans Herz legen in ihrer
Ausgewogenheit von expressiver Wärme, subtiler Nuancierung
und struktureller Klarheit. Weingartners Tempi sind auch in den
langsameren Abschnitten recht zügig von Mendelssohn
ist bekannt, daß er flotter Gangart zugeneigt war und
pflügen doch nie achtlos die Schönheiten der Partitur
unter. Unprätentiös entfaltet sich die Introduktion, mit
sicherem Gespür für die Kontraste ist der Kopfsatz durchartikuliert.
Wenn Weingartner dem melancholischen Schlußgruppen-Motiv mit
gedrosseltem Tempo mehr Eigendynamik zugesteht als üblich,
so ist das für den freieren Umgang mit der Agogik zu seiner
Zeit typisch, doch wahrt er stets die stilistische Verträglichkeit
und erliegt nie den Versuchungen sentimentaler Aufweichung. Die
Eigenheiten seiner Darstellung sind aus der Empfindung des Zusammenhangs
motiviert. Erstaunlich ist, wie deutlich die Hauptstimmen an den
wenigen instrumentatorisch komplizierteren Stellen zu hören
sind ob er dabei gelegentlich eine unauffällige Retouche
vornahm, läßt sich aus dem undifferenzierten Klangbild
nicht ablesen. Auch im Finale bemüht er sich um einen möglichst
geschlossenen Gesamteindruck, und widersteht so dem Kardinalfehler
der meisten Kollegen, den wehmütigen Abgesang des Allegro vivacissimo
mit einem großen Ritenuto zu verbinden. Die Tendenz, der extrem
introvertierten Stimmung durch Verlangsamen fallweise bis
zum Stillstand zu entsprechen, ist hier übermächtig,
und kein Dirigent hat es geschafft, diesem Sog vollständig
zu entgehen. Doch zählt Weingartner zu denen, die ein kontinuierliches
Weiterpulsieren erreichen und am Ende die Illusion eines bestehenden,
eine entsprechende Fortsetzung herausfordernden Tempos aufrechterhalten
können. Das anschließende Allegro maestoso aber erschien
Weingartner wie vor und nach ihm vielen anderen nicht
nur schwer anzupassen, sondern ganz einfach zu lang. Als dezidierter
Praktiker, der sich nicht scheute, so "pietätvoll wie
möglich" die Instrumentationsschwächen Beethovens
oder Schumanns auszubessern, griff Weingartner hier zum drastischen
Mittel der Kürzung: 16 Takte gleich nach der ersten 12-taktigen
Phrase und später im Fortissimo nochmals acht Takte fielen
seinem Eingriff zum Opfer, was keine legitime Lösung ist, auch
wenn eine richtige Empfindung zugrundelag. Für den, der das
Stück weniger gut kennt, dürfte das kaum eine Rolle spielen,
und weniger plausibel wird der Schluß dadurch allemal nicht.
Anders unter Otto Klemperer, der sich 1960 mit dem Philharmonia
Orchestra für die EMI durch das Maestoso quälte und 1969
die Münchner Hörer mit einer Entscheidung überraschte,
deren Kommentar von Klemperer im Programmheft vom 23. Mai abgedruckt
war und nun im Booklet nachzulesen ist: "
Mendelssohn
war mit der Coda dieser Sinfonie durchaus nicht zufrieden. Dieser
Schluß ist auch absonderlich genug. Er verwendet den 6/8-Takt
zu einem in keiner Weise schottischen Thema und bringt es so zu
einem lauten Schluß. Hat nicht vielleicht der geschickte Gewandhauskapellmeister
Mendelssohn hier den großen Komponisten überrumpelt?
Ich glaube nunmehr das Recht zu haben, die Coda grundsätzlich
zu ändern. Keine Note in dem von mir ersetzten Schluß
ist nicht von Mendelssohn. Ich führe das schöne zweite
Thema einfach nur zu Ende und komme so zu einem (mich persönlich)
befriedigenden Schluß. Ich weiß, daß sehr viele
diesen Eingriff tadeln werden, und glaube trotzdem, daß er
richtig ist." Außer ihn persönlich dürfte diese
endlose Auswalzung des lyrischen Seitenthemas, die kurz vor dem
eigentlichen Übergang das Heft in des Bearbeiters Hände
gibt, kaum jemanden befriedigen. Ohne jegliche Auffrischung der
Substanz wird hier rücksichtslos ein Thema ausgepresst, welches
bereits ausgespielt hat, und alles versinkt in ewiger a-moll-Elegie.
Man sollte das hören, um wieder einmal zu wissen, wie schwierig,
ja unmöglich es ist, die Meisterwerke dort umfassend auszubessern,
wo ihre Schöpfer mit der formalen Schlüssigkeit in Schwierigkeiten
gerieten
Zudem hatte der Komponist zweifellos den Bedarf nach
einem extrovertierten Schluß nach all der vorangegangenen
Introversion. Klemperers Not hing sicher auch mit seinen sehr gemächlichen
Tempi zusammen, die in sich die Tendenz nach weiterer Verbreiterung
und Verfestigung tragen. Wie langsam er den Kopfsatz nimmt! Alles
wird unerbittlich monumental, gravitätisch, bedeutungsschwer.
Unsäglich überdehnt ist bei ihm das Poco ritenuto in der
Reprise des finalen Allegros hier gelingt den wenigsten eine
diskrete Lösung, die den Fluß nicht unnatürlich
staut (allzu lakonische Gegenposition: C. von Dohnányi).
Klemperers Zugriff markiert ein Extrem, das in seiner Strenge das
jugendlich Sprühende, Leichte, Sanguinische Mendelssohns negiert,
jedoch in der unsentimentalen Diktion beeindruckt.
Auch Georg Solti ist ziemlich unsentimental.
Er liefert ein imponierendes Knochengerüst der "Schottischen",
herb und gradlinig, durchsichtig in der Polyphonie, kaum ergiebig
im Adagio, welches er langsam mit dünnem Ausdruck spielen läßt,
aber feurig und prägnant in den schnellen Sätzen. Ganz
auf der sachlichen Seite steht Christoph von Dohnányi, der
in eilig genommenen langsamen Teilen spröde und
unverbindlich wirkt, in den schnellen Tempi Präzises, aber
wenig Mitreißendes leisten läßt. Gegenüber
der leeren Hast Kurt Masurs ist die Aufnahme aus Cleveland jedoch
eine Wohltat. Masur schnurrt durch die Introduktion, als hätte
er Eiligeres im Sinn, und spult den Kopfsatz nichtssagend ab. Das
scheint eine reine Pflichterfüllung zu sein, unbeteiligter
gehts kaum. Man denkt dabei besser nicht an bessere Zeiten
der Leipziger unter Franz Konwitschny, der es schafft, in sehr gemessenen
Tempi (vergleichbar denen Klemperers) trotzdem immer die ursprüngliche
Freude und Vitalität durchscheinen zu lassen ein weiterer
Beweis, daß Geschwindigkeit und Lebendigkeit sich nicht parallel
verhalten. Es gibt eine Menge sehr ordentlicher, schöner Aufnahmen,
die sich nicht sonderlich aus dem Mainstream abheben. Fast jede
hat trotzdem ihre speziellen Meriten. Wolfgang Sawallisch ist ein
Meister der gestochenen Präzision, das Orchester klingt schlank
und durchsichtig, die meisten Charaktere sind plastisch getroffen.
Claudio Abbado liebt das Breite, Abgedunkelte, Epische. Es gelingen
wunderbare Momente, doch dann wieder mangelt es an Kraft und Entschiedenheit.
Im Fortissimo bleibt er oft erfreulich biegsam und kultiviert. Herrlich
wieselflink und spielfreudig gerät ihm das Scherzo. Schöne
Momente in Fülle gibt es auch unter Bernard Haitink oder Andrew
Davis, besonders prachtvolle unter Colin Davis überhaupt,
wohin man schaut, gepflegtes, poliertes Spiel der Spitzenorchester,
die sich auf dem Mendelssohn-Markt ein selbstbewußtes Stelldichein
geben, welches das jeweilige dirigentische Profil oft nur blass
aussehen läßt; das gilt noch mehr für Hartmut Haenchen
oder Walter Weller, deren profilarme Aufführungen so gut wie
keinen eigenständigen Diskussionsstoff liefern. Unter Dennis
Russell Davies stört sicher das unstruktiert lärmende
Fortissimo, und Oliver Dohnányi verfügt über ein
Orchester, das sich mit den hier versammelten nicht messen kann.
Anders James Levine, dem die Berliner Philharmoniker ihren letzten
Mendelssohn anvertrauten: Schiffbruch auf hohem instrumentalen Niveau.
Es ist schwer verständlich, wieso er die klare, schlanke Faktur
immer wieder so opulent aufbläst und verdickt. Im Fortissimo
gelingt es ihm tatsächlich, an vielen eigentlich unproblematischen
Stellen einen breiigen Klang zu erzeugen, wo bei seinen Konkurrenten
die Balance nur in seltensten Fällen zu wünschen übrig
läßt.
Unter Frans Brüggen wurde die einzig erhältliche Aufnahme
auf Originalinstrumenten eingespielt. Das klangliche Ergebnis ist
sensationell, vor allem im Adagio. Leider ist Brüggens Forte
zu stereotyp grob und martialisch, aber neben diesen sich schnell
abnutzenden Grobheiten gibt es zum Glück jenen Reichtum lyrischer
Verästelungen, der nun in neue, alte Farben gewandet
mit dem Reiz des Unerhörten zu uns spricht. Ob der Gebrauch
leerer Saiten und unmodifiziert harter Paukenschlägel Mendelssohn
zugute kommt, sei dahingestellt. Weitgehend unerfreulich ist Harnoncourts
Versuch, "authentische Praktiken" auf das moderne Instrumentarium
zu übertragen, und im Fortissimo ist Brutalität Trumpf.
Auch hier läßt er vieles "gegen den Strich bürsten",
was letztlich gegen den Fluß musizieren bedeutet. Sein Mangel
an sanglicher Natürlichkeit, die rhetorische Zergliederung
und eckige Kurzatmigkeit wirken vor allem zerstörerisch. Wer
also die kleine Besetzung berechtigtermaßen vorzieht, mit
den Vorteilen besserer Präsenz der Holzbläser, überhaupt
größerer Transparenz und Flexibilität, sei besser
auf das Scottish Chamber Orchestra unter dem Geiger Jaime Laredo
verwiesen: Da wird wirklich mit Verve, Schwung und gelegentlicher
Innigkeit musiziert bis hin zu überbordender Ausgelassenheit,
und das jodelnde Horngeschmetter im Scherzo ist durchaus belustigend.
Die heute übliche Wiederholung der Kopfsatz-Exposition ist
zwar auch hier überflüssig, aber doch erträglicher
als anderswo. Eine intensiv durchgearbeitete, fein ausgehörte
Aufnahme in kleinerer Besetzung ist auch Leopold Hager zu danken,
die freilich manchmal in der harmlosen Behaglichkeit des Biedermeierlichen
befangen bleibt trotzdem: weit mehr als eine solide Darstellung.
Für viele jüngere Dirigenten sind Herbert von Karajans
Mendelssohn-Aufnahmen maßstabsetzend geworden. Die Art, wie
er feinste Nuancierungen plastisch herauszuarbeiten vermochte, wie
er minutiöseste Abschattierungen dem Orchester aufprägte,
bleibt einzigartig. Andererseits ist die Rede vom "schwarzen
Forte und weißen Piano" keine bloße Mär. Insbesondere
das stählern geharnischte Fortissimo ist allzu uniform dem
Verlauf aufoktroyiert, ein abweisender Klang von ebenso unbestreitbarer
Konsequenz wie Einseitigkeit. Was er anpackte, formte er absolut
so, wie es ihm vorschwebte, und da konnte der Komponist zugunsten
einer suggestiven Wirkung außen vor bleiben. Doch viele Stellen
hat er mit einem elitären Geschmack und einer Feinnervigkeit
geformt wie kein zweiter. Dagegen mutet Ataulfo Argentas Konzertauftritt
mit den Wiener Symphonikern geradezu barbarisch an: herzlich, temperamentvoll,
überschäumend in der musikantischen Virilität, dirigentisch
durchaus brillant, aber in der Balance sehr anfechtbar, streckenweise
von der Pauke dominiert! Die Live-Pannen nimmt man gerne in Kauf,
um den Rubato-Künstler bei seiner Kür zu bewundern. Die
langsamen Abschnitte, zumal das Adagio, gelangen Leonard Bernstein
am hinreißendsten, und hier muß man der späteren
Aufnahme mit dem Israel Philharmonic noch den Vorzug geben, wo die
Identifikation mit der Bogenführung der Streicher noch größer
ist, desgleichen auch die innere Ruhe, aus der die Innigkeit des
Ausdrucks erwächst. Bei Bernstein ist der Klassiker Mendelssohn
recht fern, der Romantiker drängt schon hin nach Mahlerschen
Gefilden. In den schnellen Sätzen ist das Forte auch unter
ihm allgemein zu massiv, dabei aber von frappierender Farbigkeit
und Ausdrucksfülle.
Das Problem des Finales aufs Überzeugendste gelöst hat
Dimitri Mitropoulos, und nicht nur dies. Blitzartig reißt
der kriegerische Furor des Vivacissimo die Adagio-Sphäre auf,
und ab geht die wilde Jagd mit leuchtender Intensität und äußerster
Spannkraft, und zugleich federleichter Behendigkeit. Mitropoulos
hellwache Klarheit wird nie spröde oder gar didaktisch, orientiert
sich dabei aber unablenkbar an der Struktur, die bei ihm zu mitreißendem
Leben erweckt wird. Beharrendes Verebben am Übergang zum Maestoso,
welches in unaufhaltsamem Zug nach vorne das zu lang Geratene nicht
ahnen läßt das Unmögliche wird möglich
gemacht. Daß nicht alles perfekt gelingen kann, so auch im
irrwitzig dahinhuschenden Scherzo, fällt bei einem Livemitschnitt
kaum ins Gewicht. Auch sonst trifft Mitropoulos in fast idealer
Weise den Zentralnerv der Musik, erliegt keiner oberflächlichen
Stilisierung. Hier wird Wirklichkeit, was Weingartner über
die "Schottische" sagte: "Jede Stimme in dieser Partitur
sprüht von Leben. Nirgends ein Versuchen, alles sitzt auf dem
rechten Fleck. Lichtvoll ist der Aufbau, von bewundernswerter Frische
die Klangwirkung. Mendelssohn wird nicht so leicht sterben, als
er totgesagt worden ist." Mitropoulos Zugang am nächsten
kam Artur Rodzinski in einer klanglich betagten Chicagoer Aufnahme
von 1947 für RCA, vor allem hinsichtlich der Tempi im Scherzo
und Finale, welches er sogar noch etwas schneller zu Ende brachte.
Im Lyrischen war er wesentlich ungelenker als Mitropoulos, die langsamen
Teile sind nicht seine Stärke. Doch die schnellen Sätze
sind fesselnd und mit bewunderungswürdiger Leichtigkeit gespielt.
Auch wenn ich Mitropoulos Aufführung für die überzeugendste
halte, dürfte sie aufgrund kleiner Live-Mißgeschicke
als Referenz alleine nicht ausreichen. Zur Ergänzung eignen
sich vorzüglich Bernstein und in zweiter Linie Karajan. Freunde
historischer Aufnahmen können zu Weingartner oder auch Rodzinski
greifen. Liebhaber historischer Aufführungspraxis werden mit
Brüggen vorliebnehmen, könnten aber bei entsprechender
Offenheit auch mit Laredos schottischer "Schottischer"
großes Vergnügen haben.
Christoph Schlüren
(Beitrag für Klassik Heute)
Diskographie
Schottische Symphonie
Felix Weingartner, Royal Philharmonic Orchestra (1929);
Iron Needle IN 1332
Dimitri Mitropoulos, Berliner Philharmoniker (live 1960);
Orfeo C 488 981 B
Artur Rodzinski, Chicago Symphony Orchestra (1947);
Dante LYS 241 (Vertrieb: Musikwelt)
Leonard Bernstein, New York Philharmonic (1964);
Sony 47591
Leonard Bernstein, Israel Philharmonic Orchestra (1979);
DG 439 980-2
Otto Klemperer, Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks (live
1969);
EMI 566868 2
Franz Konwitschny, Gewandhausorchester Leipzig (1962);
Berlin Classics 2076-2
Herbert von Karajan, Berliner Philharmoniker (1971);
DG 429 664-2
Georg Solti, Chicago Symphony Orchestra (1985);
Decca 414 665-2
Wolfgang Sawallisch, New Philharmonia Orchestra (1967);
Philips 432 598-2
Ataulfo Argenta, Wiener Symphoniker (live 1953);
Orfeo C 277 921 B
Claudio Abbado, London Symphony Orchestra (1984);
DG 427 810-2
Jaime Laredo, Scottish Chamber Orchestra (1990);
Nimbus NI 1765 (Vertrieb: Naxos)
Leopold Hager, English Chamber Orchestra (1995);
Novalis 150 121-2 (Vertrieb: in-akustik)
Frans Brüggen, Orchestra of the 18th Century (1994);
Philips 456 267-2
Nikolaus Harnoncourt, Chamber Orchestra of Europe (1991);
Teldec 9031-72308-2 (Vertrieb: east-west)
Bernard Haitink, London Philharmonic Orchestra (1978);
Philips 456 071-2
Colin Davis, Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks (1983);
Orfeo C 089-841 A
Andrew Davis, Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks (1980);
Sony 46536
Christoph von Dohnányi, Cleveland Orchestra (1988);
Telarc 80184 (Vertrieb: in-akustik)
Hartmut Haenchen, Staatskapelle Berlin (1981);
Berlin Classics 9356-2
James Levine, Berliner Philharmoniker (1988);
DG 427 670-2
Kurt Masur, Gewandhausorchester Leipzig (1987);
Teldec 0630-18954-2 (Vertrieb: east-west)
Walter Weller, Philharmonia Orchestra (1991);
Chandos 7090 (Vertrieb: Koch)
Dennis Russell Davies, Orchester der Beethovenhalle Bonn (ed. 1993);
Music Masters 67088-2 (Vertrieb: in-akustik)
Oliver Dohnányi, Slowakische Philharmonie (1988);
Naxos 8.550222
(Anmerkung: Die Aufnahmen mit Peter Maag und Charles Münch
konnten leider nicht berücksichtigt werden. Sie wären
von Bedeutung gewesen.)
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