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Und ab geht die wilde Jagd…

Aufnahmen von Felix Mendelssohns Schottischer Symphonie

"Wie schön ist das Hauptthema des ersten Satzes! Eine Klarinette begleitet in der tieferen Oktave die in sanfter Erregung auf und ab wogende Figur der Violinen. Eine schottische Sage erzählt von einem durchsichtigen, blassen Schatten, der genau so aussieht wie die Person, die er begleitet, und der, wenn er sichtbar wird, den Tod dieser Person bedeutet. Sollte diese Sage Mendelssohn vorgeschwebt haben, als er der Geigenmelodie die tiefe, schattenhafte Klarinette zur Begleitung gab?" (aus: Felix Weingartner, 'Die Symphonie nach Beethoven')
Unter den populären Orchesterwerken Felix Mendelssohn-Bartholdys sind die Hebriden-Ouvertüre und die Symphonie op. 56 in a-moll, die sogenannte "Schottische", nicht nur hinsichtlich der landschaftlichen Ursprungssphäre seelenverwandt. Für den Dirigenten Felix Weingartner (1863-1942) war klar: "Hätte Mendelssohn seinen einsätzigen Orchesterstücken den glücklichen Titel ªSymphonische Dichtung´ gegeben, den Liszt später erfunden hat, so würde er heute wahrscheinlich als Schöpfer der Programmusik gefeiert und hätte seinen Platz am Anfang der neuen statt am Ende der alten, sogenannten klassischen Periode unserer Kunst. Er hieße dann der ªerste Moderne´ anstatt der ªletzte Klassiker´. Wie viel doch auf ein Wort ankommt!"
Programmusik, sofern man sie nicht als illustrativ schildernde Vertonung, sondern als die musikalische Bündelung von Stimmungen einer imaginären Handlung versteht, sind nicht nur Mendelssohns "Konzertouvertüren", auch seine "Schottische" ist unbedingt dazuzuzählen. Das Geheimnisvolle, Zauberhafte, dessen äußere Bezüge nicht enthüllt werden, ist eine Insignie romantischen Sehnens, und insofern ist die "Schottische" wohl Mendelssohns romantischste Symphonie, und zugleich – was die ebenso raffinierte wie unmittelbar sich erschließende Formgebung betrifft – seine zukunftsweisendste. Mit ihrem noch beliebteren Schwesterwerk, der so andersartigen "Italienischen Symphonie" in A-Dur op. 90, ist sie auf bemerkenswerte Weise tonal verknüpft. Beide Symphonien sind um den Stammton A zentriert. Dabei wendet in der "Italienischen" das hell strahlende A-Dur im Saltarello-Finale ins dunkel glühende a-moll. Die "Schottische" hingegen steht in ihren Ecksätzen im Zeichen der verhangen-elegischen a-moll-Introduktion, läßt aber im Schlußabschnitt des Finales umso wirkungsvoller alles Schattenhafte hinter sich mit einem lapidaren, "schottischen" A-Dur-Hymnus. Auf diese Weise zerfällt das Finale üblicherweise in zwei Teile, die sich schwerlich in einen übergeordneten Spannungsbogen fügen – was in der Interpretationsgeschichte beredten Niederschlag fand. Kein Wunder, daß die "Schottische Symphonie" deswegen bei jenen Dirigenten, die sich um eine Verwirklichung des symphonischen Zusammenhangs bemühen, seit jeher als problematisch gilt.
Mißverständnisse sind impliziert, was die Chronologie der Mendelssohnschen Symphonien betrifft (hier herrscht noch mehr Zahlen-Verwirrung als bei Schumann oder Dvorák). Die "Schottische" wird zwar als Dritte gezählt, ist jedoch tatsächlich die letzte Symphonie des reifen Mendelssohn. Auf seiner Schottlandreise 1929 notierte Mendelssohn das Thema der Introduktion, doch erst viele Jahre später machte er sich an die Ausarbeitung und schloß die Partitur am 20. Januar 1842 ab, um am 3. März in Leipzig die Uraufführung zu dirigieren. Dagegen wurde die von der nachfolgenden Italienreise 1830-31 inspirierte "Italienische" 1833 vollendet, und die von Mendelssohn selbst als unglücklich empfundene "Reformations-Symphonie" (seine eigentliche Dritte von 1829-30) gelangte erst über die postume Veröffentlichung als Fünfte in den symphonischen Kanon. Die zwölf Jugendsymphonien wurden immer getrennt behandelt, aber es ist sachlich richtig, aus heutigem Abstand die "Schottische" als Mendelssohns 17. Symphonie zu bezeichnen.
Die Entstehungsgeschichte der "Schottischen Symphonie" ist legendär, was den auslösenden Eindruck betrifft – es könnte nichts besser ins Bild des Romantikers passen als die von Mendelssohn beschriebene Stimmung in der verfallenen Heimstatt Maria Stuarts. Eine wichtige, seinerzeit vieldiskutierte Neuerung betrifft den formalen Rahmen: Wie Schumann in seiner Vierten Symphonie wollte Mendelssohn die stimmungstötenden Pausen zwischen den Sätzen eliminieren – dies eine Verbindungslinie zur symphonischen Dichtung! –, und so war im Anhang zum Erstdruck der Partitur von 1843 zu lesen: "Die einzelnen Sätze dieser Symphonie müssen gleich aufeinander folgen, und nicht durch die sonst gewöhnlichen längeren Unterbrechungen von einander getrennt werden. Für die Hörer kann der Inhalt der einzelnen Sätze auf dem Programm des Concertes angegeben werden wie folgt:
Introduction und Allegro agitato. – Scherzo assai vivace. – Adagio cantabile. – Allegro guerriero und Finale maestoso."
Diese Charakterangaben stimmen – gewiß aus Versehen – mit den endgültigen, in der Partitur vorgeschriebenen nicht überein, sondern entstammen einem früheren Stadium der Niederschrift. Umso interessanter sind sie für die Dirigenten, die damit zwei authentische Meßlatten für ihr Vorgehen besitzen. Die endgültigen Satzangaben lauten:
I Andante con moto – Allegro un poco agitato – Andante come prima
II Vivace non troppo
III Adagio
IV Allegro vivacissimo – Allegro maestoso assai
Als hätte Mendelssohn die hauptsächlichen Auffassungsdifferenzen seiner Interpreten vorausgeahnt! Spielt man den ersten Satz nun agitato oder eher poco agitato? Ist das Scherzo assai vivace zu nehmen oder vivace non troppo – ein beträchlicher Unterschied, wie er in den Liveaufnahmen unter Mitropoulos (3'47" Minuten) und Klemperer (5'43") manifest wird! Und der Schlußabschnitt des Finales: Ist hier die Allegro-Vorschrift maßgeblich, oder geht es fast ausschließlich ums Maestoso, welches sich mit der von Mendelssohn eingeforderten Klangvorstellung in der Art eines Männerchors offenkundiger deckt?
Generell sei darauf hingewiesen, daß die Symphonik Mendelssohns auch mittelmäßigeren Dirigenten ein gutes Betätigungsfeld bietet. Aufgrund der strukturellen Einfachheit und Eindeutigkeit, der sinnfälligen, funktionellen Anwendung dynamischer und agogischer Angaben sowie der kaum je außergewöhnlicher Balance-Korrekturen bedürftigen, im besten Sinne "von allein klingenden" Orchestration wirken hier auch sehr durchschnittliche, ja sogar uninspirierte Einspielungen noch passabel. Was bei Beethoven, Schumann oder Brahms den kritischen Hörer in ärgsten Widerstand treiben würde, ist bei Mendelssohn teilweise ohne weiteres zu ertragen. So ist auch das Ausmaß kontroverser Auslegungen – abgesehen vom Finale, der formalen Achillesferse – relativ gering. Eines verlangt Mendelssohn von seinen Interpreten durchweg: den kantablen Vortrag. Schon die im Dreiermetrum stehende Andante-Einleitung ist – für eine Symphonie solch großen Zuschnitts – erstaunlich liedhaft schlicht. Dieses Schlichte kann man emphatischer oder sachlicher, ruhiger oder bewegter verstehen: Man wird nicht völlig fehlgehen, solange die Phrasen ausgesungen und organisch miteinander verwoben sind.
Glücklicherweise ist derzeit von dem italienischen Billiglabel Iron Needle Felix Weingartners Aufnahme von 1929 erhältlich, ohne jeglichen Begleittext und in sehr dilettantischer Zusammenfügung der Schellack-Fragmente. Trotzdem, jedem ernsthaft Interessierten, den das dynamisch vollkommen nivellierte historische Klangbild nicht abschreckt, muß man diese Aufnahme ans Herz legen in ihrer Ausgewogenheit von expressiver Wärme, subtiler Nuancierung und struktureller Klarheit. Weingartners Tempi sind auch in den langsameren Abschnitten recht zügig – von Mendelssohn ist bekannt, daß er flotter Gangart zugeneigt war – und pflügen doch nie achtlos die Schönheiten der Partitur unter. Unprätentiös entfaltet sich die Introduktion, mit sicherem Gespür für die Kontraste ist der Kopfsatz durchartikuliert. Wenn Weingartner dem melancholischen Schlußgruppen-Motiv mit gedrosseltem Tempo mehr Eigendynamik zugesteht als üblich, so ist das für den freieren Umgang mit der Agogik zu seiner Zeit typisch, doch wahrt er stets die stilistische Verträglichkeit und erliegt nie den Versuchungen sentimentaler Aufweichung. Die Eigenheiten seiner Darstellung sind aus der Empfindung des Zusammenhangs motiviert. Erstaunlich ist, wie deutlich die Hauptstimmen an den wenigen instrumentatorisch komplizierteren Stellen zu hören sind – ob er dabei gelegentlich eine unauffällige Retouche vornahm, läßt sich aus dem undifferenzierten Klangbild nicht ablesen. Auch im Finale bemüht er sich um einen möglichst geschlossenen Gesamteindruck, und widersteht so dem Kardinalfehler der meisten Kollegen, den wehmütigen Abgesang des Allegro vivacissimo mit einem großen Ritenuto zu verbinden. Die Tendenz, der extrem introvertierten Stimmung durch Verlangsamen – fallweise bis zum Stillstand – zu entsprechen, ist hier übermächtig, und kein Dirigent hat es geschafft, diesem Sog vollständig zu entgehen. Doch zählt Weingartner zu denen, die ein kontinuierliches Weiterpulsieren erreichen und am Ende die Illusion eines bestehenden, eine entsprechende Fortsetzung herausfordernden Tempos aufrechterhalten können. Das anschließende Allegro maestoso aber erschien Weingartner – wie vor und nach ihm vielen anderen – nicht nur schwer anzupassen, sondern ganz einfach zu lang. Als dezidierter Praktiker, der sich nicht scheute, so "pietätvoll wie möglich" die Instrumentationsschwächen Beethovens oder Schumanns auszubessern, griff Weingartner hier zum drastischen Mittel der Kürzung: 16 Takte gleich nach der ersten 12-taktigen Phrase und später im Fortissimo nochmals acht Takte fielen seinem Eingriff zum Opfer, was keine legitime Lösung ist, auch wenn eine richtige Empfindung zugrundelag. Für den, der das Stück weniger gut kennt, dürfte das kaum eine Rolle spielen, und weniger plausibel wird der Schluß dadurch allemal nicht. Anders unter Otto Klemperer, der sich 1960 mit dem Philharmonia Orchestra für die EMI durch das Maestoso quälte und 1969 die Münchner Hörer mit einer Entscheidung überraschte, deren Kommentar von Klemperer im Programmheft vom 23. Mai abgedruckt war und nun im Booklet nachzulesen ist: "…Mendelssohn war mit der Coda dieser Sinfonie durchaus nicht zufrieden. Dieser Schluß ist auch absonderlich genug. Er verwendet den 6/8-Takt zu einem in keiner Weise schottischen Thema und bringt es so zu einem lauten Schluß. Hat nicht vielleicht der geschickte Gewandhauskapellmeister Mendelssohn hier den großen Komponisten überrumpelt? Ich glaube nunmehr das Recht zu haben, die Coda grundsätzlich zu ändern. Keine Note in dem von mir ersetzten Schluß ist nicht von Mendelssohn. Ich führe das schöne zweite Thema einfach nur zu Ende und komme so zu einem (mich persönlich) befriedigenden Schluß. Ich weiß, daß sehr viele diesen Eingriff tadeln werden, und glaube trotzdem, daß er richtig ist." Außer ihn persönlich dürfte diese endlose Auswalzung des lyrischen Seitenthemas, die kurz vor dem eigentlichen Übergang das Heft in des Bearbeiters Hände gibt, kaum jemanden befriedigen. Ohne jegliche Auffrischung der Substanz wird hier rücksichtslos ein Thema ausgepresst, welches bereits ausgespielt hat, und alles versinkt in ewiger a-moll-Elegie. Man sollte das hören, um wieder einmal zu wissen, wie schwierig, ja unmöglich es ist, die Meisterwerke dort umfassend auszubessern, wo ihre Schöpfer mit der formalen Schlüssigkeit in Schwierigkeiten gerieten… Zudem hatte der Komponist zweifellos den Bedarf nach einem extrovertierten Schluß nach all der vorangegangenen Introversion. Klemperers Not hing sicher auch mit seinen sehr gemächlichen Tempi zusammen, die in sich die Tendenz nach weiterer Verbreiterung und Verfestigung tragen. Wie langsam er den Kopfsatz nimmt! Alles wird unerbittlich monumental, gravitätisch, bedeutungsschwer. Unsäglich überdehnt ist bei ihm das Poco ritenuto in der Reprise des finalen Allegros – hier gelingt den wenigsten eine diskrete Lösung, die den Fluß nicht unnatürlich staut (allzu lakonische Gegenposition: C. von Dohnányi). Klemperers Zugriff markiert ein Extrem, das in seiner Strenge das jugendlich Sprühende, Leichte, Sanguinische Mendelssohns negiert, jedoch in der unsentimentalen Diktion beeindruckt.

Auch Georg Solti ist ziemlich unsentimental. Er liefert ein imponierendes Knochengerüst der "Schottischen", herb und gradlinig, durchsichtig in der Polyphonie, kaum ergiebig im Adagio, welches er langsam mit dünnem Ausdruck spielen läßt, aber feurig und prägnant in den schnellen Sätzen. Ganz auf der sachlichen Seite steht Christoph von Dohnányi, der in – eilig genommenen – langsamen Teilen spröde und unverbindlich wirkt, in den schnellen Tempi Präzises, aber wenig Mitreißendes leisten läßt. Gegenüber der leeren Hast Kurt Masurs ist die Aufnahme aus Cleveland jedoch eine Wohltat. Masur schnurrt durch die Introduktion, als hätte er Eiligeres im Sinn, und spult den Kopfsatz nichtssagend ab. Das scheint eine reine Pflichterfüllung zu sein, unbeteiligter geht’s kaum. Man denkt dabei besser nicht an bessere Zeiten der Leipziger unter Franz Konwitschny, der es schafft, in sehr gemessenen Tempi (vergleichbar denen Klemperers) trotzdem immer die ursprüngliche Freude und Vitalität durchscheinen zu lassen – ein weiterer Beweis, daß Geschwindigkeit und Lebendigkeit sich nicht parallel verhalten. Es gibt eine Menge sehr ordentlicher, schöner Aufnahmen, die sich nicht sonderlich aus dem Mainstream abheben. Fast jede hat trotzdem ihre speziellen Meriten. Wolfgang Sawallisch ist ein Meister der gestochenen Präzision, das Orchester klingt schlank und durchsichtig, die meisten Charaktere sind plastisch getroffen. Claudio Abbado liebt das Breite, Abgedunkelte, Epische. Es gelingen wunderbare Momente, doch dann wieder mangelt es an Kraft und Entschiedenheit. Im Fortissimo bleibt er oft erfreulich biegsam und kultiviert. Herrlich wieselflink und spielfreudig gerät ihm das Scherzo. Schöne Momente in Fülle gibt es auch unter Bernard Haitink oder Andrew Davis, besonders prachtvolle unter Colin Davis – überhaupt, wohin man schaut, gepflegtes, poliertes Spiel der Spitzenorchester, die sich auf dem Mendelssohn-Markt ein selbstbewußtes Stelldichein geben, welches das jeweilige dirigentische Profil oft nur blass aussehen läßt; das gilt noch mehr für Hartmut Haenchen oder Walter Weller, deren profilarme Aufführungen so gut wie keinen eigenständigen Diskussionsstoff liefern. Unter Dennis Russell Davies stört sicher das unstruktiert lärmende Fortissimo, und Oliver Dohnányi verfügt über ein Orchester, das sich mit den hier versammelten nicht messen kann. Anders James Levine, dem die Berliner Philharmoniker ihren letzten Mendelssohn anvertrauten: Schiffbruch auf hohem instrumentalen Niveau. Es ist schwer verständlich, wieso er die klare, schlanke Faktur immer wieder so opulent aufbläst und verdickt. Im Fortissimo gelingt es ihm tatsächlich, an vielen eigentlich unproblematischen Stellen einen breiigen Klang zu erzeugen, wo bei seinen Konkurrenten die Balance nur in seltensten Fällen zu wünschen übrig läßt.
Unter Frans Brüggen wurde die einzig erhältliche Aufnahme auf Originalinstrumenten eingespielt. Das klangliche Ergebnis ist sensationell, vor allem im Adagio. Leider ist Brüggens Forte zu stereotyp grob und martialisch, aber neben diesen sich schnell abnutzenden Grobheiten gibt es zum Glück jenen Reichtum lyrischer Verästelungen, der nun – in neue, alte Farben gewandet – mit dem Reiz des Unerhörten zu uns spricht. Ob der Gebrauch leerer Saiten und unmodifiziert harter Paukenschlägel Mendelssohn zugute kommt, sei dahingestellt. Weitgehend unerfreulich ist Harnoncourts Versuch, "authentische Praktiken" auf das moderne Instrumentarium zu übertragen, und im Fortissimo ist Brutalität Trumpf. Auch hier läßt er vieles "gegen den Strich bürsten", was letztlich gegen den Fluß musizieren bedeutet. Sein Mangel an sanglicher Natürlichkeit, die rhetorische Zergliederung und eckige Kurzatmigkeit wirken vor allem zerstörerisch. Wer also die kleine Besetzung berechtigtermaßen vorzieht, mit den Vorteilen besserer Präsenz der Holzbläser, überhaupt größerer Transparenz und Flexibilität, sei besser auf das Scottish Chamber Orchestra unter dem Geiger Jaime Laredo verwiesen: Da wird wirklich mit Verve, Schwung und gelegentlicher Innigkeit musiziert – bis hin zu überbordender Ausgelassenheit, und das jodelnde Horngeschmetter im Scherzo ist durchaus belustigend. Die heute übliche Wiederholung der Kopfsatz-Exposition ist zwar auch hier überflüssig, aber doch erträglicher als anderswo. Eine intensiv durchgearbeitete, fein ausgehörte Aufnahme in kleinerer Besetzung ist auch Leopold Hager zu danken, die freilich manchmal in der harmlosen Behaglichkeit des Biedermeierlichen befangen bleibt – trotzdem: weit mehr als eine solide Darstellung.
Für viele jüngere Dirigenten sind Herbert von Karajans Mendelssohn-Aufnahmen maßstabsetzend geworden. Die Art, wie er feinste Nuancierungen plastisch herauszuarbeiten vermochte, wie er minutiöseste Abschattierungen dem Orchester aufprägte, bleibt einzigartig. Andererseits ist die Rede vom "schwarzen Forte und weißen Piano" keine bloße Mär. Insbesondere das stählern geharnischte Fortissimo ist allzu uniform dem Verlauf aufoktroyiert, ein abweisender Klang von ebenso unbestreitbarer Konsequenz wie Einseitigkeit. Was er anpackte, formte er absolut so, wie es ihm vorschwebte, und da konnte der Komponist zugunsten einer suggestiven Wirkung außen vor bleiben. Doch viele Stellen hat er mit einem elitären Geschmack und einer Feinnervigkeit geformt wie kein zweiter. Dagegen mutet Ataulfo Argentas Konzertauftritt mit den Wiener Symphonikern geradezu barbarisch an: herzlich, temperamentvoll, überschäumend in der musikantischen Virilität, dirigentisch durchaus brillant, aber in der Balance sehr anfechtbar, streckenweise von der Pauke dominiert! Die Live-Pannen nimmt man gerne in Kauf, um den Rubato-Künstler bei seiner Kür zu bewundern. Die langsamen Abschnitte, zumal das Adagio, gelangen Leonard Bernstein am hinreißendsten, und hier muß man der späteren Aufnahme mit dem Israel Philharmonic noch den Vorzug geben, wo die Identifikation mit der Bogenführung der Streicher noch größer ist, desgleichen auch die innere Ruhe, aus der die Innigkeit des Ausdrucks erwächst. Bei Bernstein ist der Klassiker Mendelssohn recht fern, der Romantiker drängt schon hin nach Mahlerschen Gefilden. In den schnellen Sätzen ist das Forte auch unter ihm allgemein zu massiv, dabei aber von frappierender Farbigkeit und Ausdrucksfülle.
Das Problem des Finales aufs Überzeugendste gelöst hat Dimitri Mitropoulos, und nicht nur dies. Blitzartig reißt der kriegerische Furor des Vivacissimo die Adagio-Sphäre auf, und ab geht die wilde Jagd mit leuchtender Intensität und äußerster Spannkraft, und zugleich federleichter Behendigkeit. Mitropoulos’ hellwache Klarheit wird nie spröde oder gar didaktisch, orientiert sich dabei aber unablenkbar an der Struktur, die bei ihm zu mitreißendem Leben erweckt wird. Beharrendes Verebben am Übergang zum Maestoso, welches in unaufhaltsamem Zug nach vorne das zu lang Geratene nicht ahnen läßt – das Unmögliche wird möglich gemacht. Daß nicht alles perfekt gelingen kann, so auch im irrwitzig dahinhuschenden Scherzo, fällt bei einem Livemitschnitt kaum ins Gewicht. Auch sonst trifft Mitropoulos in fast idealer Weise den Zentralnerv der Musik, erliegt keiner oberflächlichen Stilisierung. Hier wird Wirklichkeit, was Weingartner über die "Schottische" sagte: "Jede Stimme in dieser Partitur sprüht von Leben. Nirgends ein Versuchen, alles sitzt auf dem rechten Fleck. Lichtvoll ist der Aufbau, von bewundernswerter Frische die Klangwirkung. Mendelssohn wird nicht so leicht sterben, als er totgesagt worden ist." Mitropoulos’ Zugang am nächsten kam Artur Rodzinski in einer klanglich betagten Chicagoer Aufnahme von 1947 für RCA, vor allem hinsichtlich der Tempi im Scherzo und Finale, welches er sogar noch etwas schneller zu Ende brachte. Im Lyrischen war er wesentlich ungelenker als Mitropoulos, die langsamen Teile sind nicht seine Stärke. Doch die schnellen Sätze sind fesselnd und mit bewunderungswürdiger Leichtigkeit gespielt.
Auch wenn ich Mitropoulos’ Aufführung für die überzeugendste halte, dürfte sie aufgrund kleiner Live-Mißgeschicke als Referenz alleine nicht ausreichen. Zur Ergänzung eignen sich vorzüglich Bernstein und in zweiter Linie Karajan. Freunde historischer Aufnahmen können zu Weingartner oder auch Rodzinski greifen. Liebhaber historischer Aufführungspraxis werden mit Brüggen vorliebnehmen, könnten aber bei entsprechender Offenheit auch mit Laredos schottischer "Schottischer" großes Vergnügen haben.

Christoph Schlüren

(Beitrag für Klassik Heute)

Diskographie
Schottische Symphonie

Felix Weingartner, Royal Philharmonic Orchestra (1929);
Iron Needle IN 1332
Dimitri Mitropoulos, Berliner Philharmoniker (live 1960);
Orfeo C 488 981 B
Artur Rodzinski, Chicago Symphony Orchestra (1947);
Dante LYS 241 (Vertrieb: Musikwelt)
Leonard Bernstein, New York Philharmonic (1964);
Sony 47591
Leonard Bernstein, Israel Philharmonic Orchestra (1979);
DG 439 980-2
Otto Klemperer, Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks (live 1969);
EMI 566868 2
Franz Konwitschny, Gewandhausorchester Leipzig (1962);
Berlin Classics 2076-2
Herbert von Karajan, Berliner Philharmoniker (1971);
DG 429 664-2
Georg Solti, Chicago Symphony Orchestra (1985);
Decca 414 665-2
Wolfgang Sawallisch, New Philharmonia Orchestra (1967);
Philips 432 598-2
Ataulfo Argenta, Wiener Symphoniker (live 1953);
Orfeo C 277 921 B
Claudio Abbado, London Symphony Orchestra (1984);
DG 427 810-2
Jaime Laredo, Scottish Chamber Orchestra (1990);
Nimbus NI 1765 (Vertrieb: Naxos)
Leopold Hager, English Chamber Orchestra (1995);
Novalis 150 121-2 (Vertrieb: in-akustik)
Frans Brüggen, Orchestra of the 18th Century (1994);
Philips 456 267-2
Nikolaus Harnoncourt, Chamber Orchestra of Europe (1991);
Teldec 9031-72308-2 (Vertrieb: east-west)
Bernard Haitink, London Philharmonic Orchestra (1978);
Philips 456 071-2
Colin Davis, Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks (1983);
Orfeo C 089-841 A
Andrew Davis, Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks (1980);
Sony 46536
Christoph von Dohnányi, Cleveland Orchestra (1988);
Telarc 80184 (Vertrieb: in-akustik)
Hartmut Haenchen, Staatskapelle Berlin (1981);
Berlin Classics 9356-2
James Levine, Berliner Philharmoniker (1988);
DG 427 670-2
Kurt Masur, Gewandhausorchester Leipzig (1987);
Teldec 0630-18954-2 (Vertrieb: east-west)
Walter Weller, Philharmonia Orchestra (1991);
Chandos 7090 (Vertrieb: Koch)
Dennis Russell Davies, Orchester der Beethovenhalle Bonn (ed. 1993);
Music Masters 67088-2 (Vertrieb: in-akustik)
Oliver Dohnányi, Slowakische Philharmonie (1988);
Naxos 8.550222
 
(Anmerkung: Die Aufnahmen mit Peter Maag und Charles Münch konnten leider nicht berücksichtigt werden. Sie wären von Bedeutung gewesen.)