< RARE MUSIC STARTSEITE

Seriell exerziert - Gielens Mahler

Man weiß von Mahler, dass er sagte, das Wesentliche stehe nicht in der Partitur. Und doch gibt es immer wieder Dirigenten, deren Ethos es ist, nur das zu machen, was in der Partitur steht. Michael Gielen ist ein Hauptvertreter dieser sogenannten Werktreue. Er fasst Mahlers leidenschaftliche Musik auf, als wäre sie unter seriellen Prämissen komponiert – pedantische Verwirklichung von dynamischen und Tempo-Vorschriften, exakteste Einhaltung des Rhythmus usw. Da das Aushören harmonischer Wechsel, also von Modulationen, und gesangliche Phrasierung für den naiv empfindenden Musiker unabdingbar sind und sich außerdem nicht verbal erfassen lassen, stehen praktisch keine Hinweise darauf in der Partitur, und folglich existiert diese Dimension für Gielen nicht. Seinen Fans wird das nichts ausmachen, und in der Tat beeindruckt eine stoische Geradlinigkeit, die sich überhaupt nicht darum kümmert, was die Orchestermusiker empfinden könnten. Oft klingt es wie ein akustisches Fegefeuer, und manche Passagen reflektieren

in der drastischen Gewalt, die ihnen angetan wird, auch eine besondere Intensität. In Kurtágs imposanter Stele passt das besser und fundamentiert das düster flackernde Maestoso. Eine willkommene und sehr genau erarbeitete Dreingabe ist Schönbergs 'Kol nidre'. Das Orchester spielt auf hohem instrumentalen Niveau.

Christoph Schlüren

(Rezension für 'Klassik Heute')

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 2 c-moll, György Kurtág, Stele op. 33, Arnold Schönberg, Kol Nidre op. 39;
Juliane Banse (Sopran), Cornelia Kallisch (Alt), James Johnson (Sprecher), EuropaChorAkademie, Rundfunk-Chor Berlin, Michael Gielen; Hänssler SWR 93.001
(108'/1995, 1996)