"Mahler Grooves"Die Mahler-Edition der New Yorker Philharmoniker |
Mehr noch als die Wiener Philharmoniker
müssen die New Yorker Philharmoniker in ihrem beinahe ein Jahrhundert
umfassenden Engagement für das musikalische Vermächtnis
ihres einstigen Chefdirigenten als ein "Mahler-Orchester"
gelten. Dies zu dokumentieren, hat das Orchester aus Rundfunk-Mitschnitten
der Jahre 1948-82 eine Mahler-Kollektion rekrutiert, die ihresgleichen
nicht kennt. Ausgewählt wurden Aufführungen unter den
Dirigenten Sir John Barbirolli, Dimitri Mitropoulos, Bruno Walter,
Leopold Stokowski, Rafael Kubelik, Sir Georg Solti, Klaus Tennstedt,
Zubin Mehta, Pierre Boulez und William Steinberg. Die eigentliche
Zentralgestalt der New Yorker Mahlerpflege auf Schallplatte, der
langjährige Chefdirigent Leonard Bernstein, ist in der Anthologie
nicht vertreten, da für die Mitschnitte keine Veröffentlichungsgenehmigung
erteilt wurde was aber so schlimm im Moment nicht ist: Denn
erstens ist Bernstein auf dem CD-Markt sowieso reichlich mit Einspielungen
(teilweise auch Live-Mitschnitten) von Symphonien Gustav Mahlers
vertreten (erst jüngst hat die Deutsche Grammophon eine 16
CD-Box mit sämtlichen von Bernstein dirigierten Werken Mahlers
veröffentlicht, Bestellnr. 459080-2); und zweitens ist die
von New Yorks erstem Orchester präsentierte Zusammenstellung
auch ohne ihn von höchstem Reiz für Mahler-Fans und exklusiver
interpretatorischer Qualität. Manche der nun erstmals offiziell
zugänglich gemachten Dokumente waren schon vorher als Raubpressungen
begehrte Sammlerstücke (z. B. Stokowski mit der Achten, Mitropoulos
mit der Sechsten und dem Adagio der Zehnten Symphonie), keineswegs
jedoch in solch optimaler Klangqualität wie hier. Eine überaus brillante, strahlende
Aufführung der Zweiten Symphonie demonstriert Zubin Mehta at
his best (7. März 1982). Das Orchester läuft zu furioser
Form auf, Mehta ist diesmal ganz in seinem Element nicht nur als
Animator, sondern auch mit weihevoller Generosität der
Imperator zelebriert die Auferstehung, bändigt den Wettstreit
der Diven Kathleen Battle und Maureen Forrester. Klaus Tennstedts
Dirigat der Fünften Symphonie vom 18. Juni 1980 überzeugt
vorwiegend in den leidenschaftlichen Aufwallungen, in den Ausbrüchen
und Aufbäumungen. In den lyrischen Abschnitten bleibt er, zugunsten
einer kompakten Wirkung, manche Finesse und einiges piano schuldig.
Die in den ersten zwei Sätzen fast omnipräsente Dimension
des Leidens freilich vermittelt er authentisch. Dietrich Fischer
Dieskaus Version der "Lieder eines fahrenden Gesellen"
vom 27. November 1964 unter Leitung William Steinbergs ist natürlicher
als vieles, was der Sängerpapst seither der Nachwelt vermacht
hat seine Anhänger werden ob solch vermessener Worte
zürnen, sollten aber jedenfalls diese Aufnahme anhören.
Erfreulich auch Georg Soltis Deutung der Vierten Symphonie, geschehen
am 13. Januar 1962. Daß Solti in der Symphonik als Plattendirigent
begnadeter war als live, sei unbestritten, und ausbalancierter,
fein differenzierter Orchesterklang lag seinem ruppigen Temperament
meist nicht so nahe. Jedoch haben alle Sätze dieser Vierten
ausgeprägten Charakter, Sinn fürs Dramatische. Das Poco
adagio ist sehr breit und stimmungsvoll ausmusiziert, und im Wunderhorn-Finale
bezaubert Irmgard Seefrieds klare, runde, poetische Sopranstimme.
Am wenigsten gefällt mir Pierre Boulez Auslegung der
Dritten Symphonie (23. Oktober 1976, mit Yvonne Minton). Sicher,
die offensichtlichen Strukturelemente sind messerscharf herausgemeiselt,
das Harsche, Schneidende, Aggressive kommt überwiegend brachial,
das Lyrische erstarrt in gefrorener Schönheit und das Sentimentale
bleibt außen vor. Doch wie eigentlich immer bei Boulez
die Sicht bleibt einseitig analytisch, seltsam eindimensional,
ist mehr eine interessante Alternative als erfüllende Synthese
der musikalischen Forderungen. Die Begegnung des Traditionsklangkörpers
mit dem Klangavantgardisten bleibt allemal aufschlußreich.
Zusätzlich sind Interviews mit Barbirolli und Walter, ein Statement
seiner Majestät Stokowski und zwei Stunden aus William Mallochs
Rundfunkproduktion "I Remember Mahler" zu dessen 100.
Geburtstag mit Schilderungen berufener Zeitzeugen in der Box enthalten. Christoph Schlüren (Rezension für Music Manual) |