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Douglas Lilburn

(geb. 1915) "Musik wie wilder Honig"

Musikgeschichte wird, vor allem in unserem Jahrhundert der rastlosen Umwälzungen, meist in Trends, Strömungen und Kategorien geschrieben, die stets mit wenigen überragenden Persönlichkeiten in Zusammenhang gebracht werden. Dabei wird gerne übersehen, daß auch viele jener Komponisten, die üblicherweise nicht zu den "ganz Großen" gezählt werden, Persönlichkeiten sind, deren Werdegang und Werk in keine Schublade paßt, sondern eine eigene Kategorie begründet. Als Neuseelands bedeutendster Komponist fand er seinen eigenen Weg in der symphonischen Tradition von Sibelius und Vaughan Williams:
Douglas Lilburn (geb. 1915)
"Musik wie wilder Honig"
(Anspieltip: Sinfonien Nr. 1-3)
Hört man Douglas Lilburns Musik, so ist das eine gute Gelegenheit, die Frage, was eigentlich künstlerische Originalität ausmache, neu aufzuwerfen. Es ist gar nicht so sehr der Einfluß der englischen Musik, vor allem seines Lehrers Ralph Vaughan Williams, der sich immer wieder bemerkbar macht. Vielmehr ist es vor allem die naturhaft gebaute Symphonik von Jean Sibelius, die Lilburn ganz verinnerlicht hat. Daraus, daß er Sibelius über alle Maßen bewunderte, machte er kein Geheimnis. Und so ist die Initialmotivik seiner Zweiten Sinfonie von den Keimen der Zweiten Sibelius’ vernehmlich befruchtet, und das Hornmotiv, mit dem die reife Tondichtung 'A Birthday Offering' anhebt, läßt die Verwandtschaft mit dem Beginn von Sibelius’ Fünfter deutlich erkennen. Und doch ist es unzweifelhaft Lilburns eigene Sprache, die uns hier vom ersten Moment an auf eine Reise durch zauberhaft tönende Landschaften mitnimmt. Er nimmt von Sibelius, ähnlich wie Haydn und Mozart voneinander nahmen, wie Pfitzner und Strauss von Wagner aus ihren Weg gingen. Was Lilburn an Sibelius so faszinierte, war die Naturhaftigkeit im umfassenden Sinn, als Einswerden von innerer und äußerer Natur mit musikalischen Mitteln. Vieles, wie die stets tonal wirksamen harmonischen Überlappungen, die stets unmittelbar kommunizierende Exaltation des Rhythmischen, der organische Wuchs der thematischen Elemente, weist Lilburn als elementar begabten Schüler des großen Finnen aus. Und doch kommt etwas ganz Anderes dabei heraus: die maritime Frische, der sprühende Optimismus, welcher über Melancholie und Abgründe belebend hinwegträgt, das befreiende Gefühl grenzenloser Weite, welches in Einklang mit dem neuseeländischen Naturerlebnis steht – diese juvenile Aura ist unverkennbar Lilburns persönlicher Schatz. Man höre nur den Anfang seiner 1949 komponierten Ersten Sinfonie: Welch weiter, atmosphärisch durchströmter Raum sich vom ersten Moment an auftut, in evokativ strahlendem, unprätentiös feierlichem Orchesterklang eigenster Prägung. Damit hat Lilburn seinem Land eine musikalische Identität gegeben, wie dies seinem Vorbild Sibelius für Finnland gelungen war. Doch ist auch seine Musik keine nationale Angelegenheit, denn für jeden Hörer, der die Symphonik von Sibelius, Bax oder Vaughan Williams liebt, stellen Lilburns Orchesterwerke einen reichen Fundus zu weiterem Ergötzen bereit.
Douglas Lilburn ist gerade 85 Jahre alt geworden. Er lebt heute sehr zurückgezogen und komponiert nicht mehr. Zuvor hat er seinen Bewunderern Rätsel nicht erspart. Ende der fünfziger Jahre wurde seine Tonsprache nach der wunderbar ausgewogenen Zweiten Symphonie zunehmend avancierter, dissonanter – im tänzerisch Kapriziösen und Humoresken zuweilen an Aaron Copland erinnernd! –, so in der knappen Suite for Orchestra und den neuartigen Mixturen des faszinierenden, virtuosen 'Birthday Offering' zum zehnjährigen Bestehen des New Zealand Symphony Orchestra. Diese Entwicklung kulminierte in der viertelstündig kompakten, einsätzigen Dritten Symphonie von 1961, wo Lilburn eine neue Art von serieller Melodik mit weniger als zwölf Tönen durchführte, "was viel schwieriger ist" als die für ihn unattraktive Zwölftonmusik. Nach diesem sehr eigentümlichen, dicht gestalteten Werk aber schrieb Lilburn fast keine Musik mehr für herkömmliche Instrumente, sondern beschäftigte sich bis zuletzt fast ausschließlich mit elektronischer Musik. Hier schuf er bei aller Raffinesse sehr einfache Soundscapes, die ihm, der Paradoxie "tönender Stilleben" gleich, noch größere Naturhaftigkeit zu besitzen schienen als jegliche von Menschen gespielte Musik.

Dieser Bedarf nach Beschwörung der umgebenden Natur durch die Musik ist in Lilburns frühestem Erleben begründet. Er wurde am 2. November 1915 geboren und wuchs im ländlichen Idyll der Farm von Drysdale auf der Nordinsel auf. Ernsthaft zur Musik kam er als Jugendlicher, und bald entschloß er sich, Komponist zu werden – ein Beruf, den es bis dahin in Neuseeland nicht gab. Nachdem er 1936 einen von Percy Grainger gestifteten Kompositionspreis gewonnen hatte, studierte er in London bei Ralph Vaughan Williams, der entschieden die eigenständige Entfaltung seiner Begabung förderte. In London entstanden die ersten bedeutenden Werke Lilburns, und bezeichnenderweise fern der Heimat die am meisten auf Neuseeland bezogenen: Drysdale Overture, die Kantate 'Prodigal Country' und Aotearoa Overture. Zurück in Neuseeland seit 1942, war er als Dirigent und vorübergehend als Musikschriftsteller tätig und schrieb viel Musik für Streichorchester, worunter die kurzweiligen, spielfreudigen, das auch von Schostakowitsch verwendete Thema aus Rossinis 'Wilhelm Tell' nicht verschmähenden 'Diversions' bis heute als seine meistgespielte Komposition hervorgingen. Den Gipfel seiner Kunst erklomm Lilburn in den drei Sinfonien, die gleichberechtigt neben den europäischen Klassikern des 20. Jahrhunderts bestehen können. Diese vitale, nie mit kleinlichen Vermeidungsstrategien belastete Musik wirklich treffend zu beschreiben ist natürlich unmöglich. Der neuseeländische Poet Alistair Campbell hat es in seinem Gedicht 'Wild Honey' so ausgedrückt:
"Lilburn’s solitude … Alone he paces
an empty beach, creating in his head
bare harmonics of sand and wave … Wild honey."
Man kann es auch so verstehen: Lilburn schöpfte aus der europäischen Tradition, ohne unter ihr zu leiden, denn für ihn und seine Landsleute war sie nicht etwas Überkommenes und daher Abzuschüttelndes, sondern etwas Neues. Und so wirkt diese Musik jung und unverbraucht, indem ihr Schöpfer sie als solche empfand. Als er aber diese naive Haltung nicht mehr aufzubringen imstande war, begab er sich auf ein anderes Feld, und suchte in der extremen Künstlichkeit der Elektronik das Ursprüngliche, Naturhafte, die Träume seiner Kindheit zu realisieren. Es wird Zeit, daß Europa diese aus antipodischer Sympathie erwachsene Musik, die weit mehr ist als nur exzellentes Kunsthandwerk, kennenlernt.
Christoph Schlüren
('Kleiner Lauschangriff' für Klassik Heute, 2000)
 
Diskographie:
Sinfonien Nr. 1-3;
New Zealand Symphony Orchestra, John Hopkins
Continuum CCD 1069 (Vertrieb: Liebermann)
Suite for Orchestra, A Birthday Offering, Festival Overture, A Song of Islands, Drysdale Overture;
New Zealand Symph. Orch., William Southgate
Continuum CCD 1076 (Vertrieb: Liebermann)
Aotearoa Overture, Concert Overture in D, Introduction and Allegro, Four Canzonas, Diversions, Allegro for Strings, Festival Overture;
Ithaca College Festival Orchestra, New Zealand Symph. Orch., Grant Cooper, John Hopkins
Kiwi Pacific SLD 99
Prodigal Country, A Song of Islands, Suite for Orchestra, A Birthday Offering, Drysdale Overture;
David Griffiths (Bariton), Orpheus Choir, New Zealand Symph. Orch., Charles Groves, John Hopkins
Kiwi Pacific SLD 100
Diversions for Strings, Landfall in Unknown Seas, Allegro for Strings (+ Watson);
New Zealand Chamber Orchestra, Donald Armstrong
Koch International 3-7260-2
Diversions for Strings (+ Werke von Grainger, Dreyfus, A. Benjamin, J. Coulthard);
Symphony Nova Scotia, Georg Tintner
CBC Enterprises 2-5088
Aotearoa Overture (+ Orchesterwerke von A. Watson, Farquhar und weiterer Neuseeländer);
New Zealand Symph. Orch., Kenneth Young
Continuum 2CD CCD 1073-2
Kiwi Pacific ist erhältlich über Centre for New Zealand Music (e-mail: sounz@actrix.gen.nz oder Fax. 0064/4/801 86 04)
(Stand November 2000)

Anspieltip: Sinfonien Nr. 1-3