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Portrait KARL MICHAEL KOMMA
Pan und das Chroma
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Introduktion des Stationssprechers:

Die folgende Sendung ist dem Leben, Denken und Schaffen des in Reutlingen lebenden, aus dem Egerland stammenden Komponisten Karl Michael Komma gewidmet, der am 24. Dezember diesen Jahres seinen 90. Geburtstag begeht. Ungebrochen ist Komma schöpferisch tätig, ein abgeklärter, reger Geist, erfüllt von Vitalität und Fantasie, ein souveräner Handwerker und inspirierter Musikant, dem wir noch viele fruchtbare Schaffensjahre wünschen.

Pan und das Chroma

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Sonata in ricordo di Domenico Gabrielli (1981): 2. Satz, Molto con moto

Peter Buck (Cello), Leonore Klinckerfuß (Klavier) (Aufnahme: SDR)

Bayer Records CD 100 047/048 (Vertrieb: Note 1) LC 8498

CD1, Track 11 (Dauer: 1'18)

Von der sich so benennenden 'Avantgarde' verschrien, heißt es durchaus gegen den Zeitgeist komponieren, wenn Karl Michael Komma, wie soeben im 2. Satz seiner 'Sonata in ricordo di Domenico Gabrielli' zu hören, das Musikantische hervorkehrt und die Verwurzelung in einer lebendigen Tradition unmißverständlich hörbar werden lässt.

Komma gehört zu jenen deutschen Komponisten, die gerne mit dem geflügelten Wort von der 'verlorenen Generation' bedacht werden. Eigentlich sind damit mehrere Generationen gemeint, deren Geburtsdaten ungefähr zwischen 1880 und 1915 liegen. Ihr Aufstreben und der Weg zu breiter Anerkennung wurde entweder durch das Dritte Reich jäh abgebrochen oder vom Zweiten Weltkrieg und der darauffolgenden radikalen ästhetischen Umkehrung in Nullstellung gebracht. Kommas erste Erfolge fielen unvermeidlicherweise in die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, am Ende des Krieges war er gerade 31 Jahre alt und stand wie viele vor dem Nichts. Hätte er sich nun in der Folgezeit, wie manche anderen, einfach den aktuellen Strömungen anschließen sollen? Hierzu schrieb der Komponist in seiner autobiographischen Skizze 'Lebenswege':

"Mein Kompositionsstil bewegte sich immer noch in 'gemäßigter Moderne', in der Art Hindemiths oder Bartóks. Zu einer abrupten Änderung der musikalischen Sprache und Technik aus Opportunität war ich nicht bereit. Nach dem Ritenuto der Kriegszeit war also nun nochmals ein Sostenuto eingetreten."

Im Laufe der fünfziger Jahre setzte sich Komma dann intensiv mit der Zwölftontechnik auseinander, die er freilich nicht in dogmatischer Weise handhabte. Er blieb immer ein Lyriker mit dramatischen Zügen, der die Tonalität nicht wie eine zweite Haut abwerfen wollte, der das zeitlos Gültige in den Gesetzen von Melodie, Kontrapunkt, Harmonie und Rhythmus suchte. Die technisch-experimentelle Seite gewann, auch wenn eine Neigung zu intellektuell ausgelösten intervallischen Spielen bis heute vorhanden ist, nie die Oberhand. Das expressionistische Pathos der Vorkriegszeit allerdings war unwiderruflich entglitten, hatte angesichts der kollektiven Verblendung, von der auch er sich zuweilen betroffen fühlte, und der daraus folgenden Katastrophen an Glaubwürdigkeit verloren. Die sogenannte 'Neue Sachlichkeit' bot ihm in ihrem Mangel an Wärme und Poesie auch keine neue Heimat, und das Bedürfnis, den Bürgerschreck zu spielen, hatte er bereits in seiner Jugend ausgelebt. So erscheint es absolut folgerichtig, wenn sein Schwerpunkt künftig weniger in monumental ambitionierten Formen oder großen Besetzungen lag. Die Strategien der Überwältigung waren suspekt geworden.

Am meisten zuhause, bekennt Komma heute, fühlt er sich in den intimeren Welten des Lieds, der Klavier- und Kammermusik. Besonders anziehend können hier die Schnittpunkte der Genres sein, Welten zwischen den Welten, wie etwa in seinem Streichquartett von 1980. Dieses, so kommentiert der Komponist, "steht inhaltlich in engstem Zusammenhang mit den 1975 komponierten 'Vier Motetten nach Friedrich Hölderlin' für vierstimmigen gemischten Chor. Die instrumentale Diktion überträgt oder paraphrasiert den rezitierenden Duktus der Singstimmen zu Hölderlins hymnischen Entwürfen 'Was ist des Menschen Leben', 'Was ist Gott?', den späten Gedichten 'An Zimmern' und 'Die Aussicht'." Es folgt der erste Satz aus diesem außergewöhnlichen Streichquartett, 'Lento - Con moto', gespielt vom Nardini-Quartett.

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Streichquartett 1980: 1. Satz, 'Lento - Con moto'

Nardini Quartett (Aufnahme: SDR)

Bayer Records CD 100 047/048 (Vertrieb: Note 1) LC 8498

CD 1, Track 1 (Dauer: 4'34)

Sie hörten den ersten Satz aus Karl Michael Kommas Streichquartett von 1980, gespielt vom Nardini-Quartett. Eine panchromatische Tonsprache, die nicht nur Anspannung aus der Komplexität gewinnt, sondern sich hierdurch auch Genuss verschafft. Insofern sieht sich der Komponist scherzhaft gerne als Pan, der mit dem Chroma spielt.

Karl Michael Komma wurde am 24. Dezember 1913 im westböhmischen Asch als viertes Kind eines philosophisch gebildeten Wirtschaftswissenschaftlers geboren. Aufgewachsen ist er in Eger. Seine Mutter war eine feine Pianistin, und der Großvater mütterlicherseits wurde dem Fünfjährigen zum entscheidenden ersten musikalischen Lehrer, über den Komma später sagen wird: "Er sagte mir Dinge, die kein Lehrer später ähnlich oder überzeugender vermitteln konnte, zum Beispiel: 'Du mußt mit den kleinen Fingern singen!' Er zeigte mir vor allem mit seinem Beethoven-Spiel jene formale Plastizität, die einen Sonatensatz im Spiel 'entstehen' lässt, während er ohne sie nur 'herunterschnurrt'. Bald schon spielte ich mit dem Großvater vierhändig." Der Junge wuchs in einer musikbegeisterten und dem Neuen aufgeschlossenen Umgebung auf und lernte schon früh Werke wie Hans Pfitzners 'Palestrina' oder Ernst Kreneks 'Jonny spielt auf' kennen. Auch Scriabin sollte ihn bald sehr fesseln. Dann kam er mit Klaviersonaten von Joseph Haas in Berührung, vor allem aber mit Paul Hindemiths provokanter 'Suite 1922', worüber Komma berichtet: "Noch mehr als die bürgerschreckenden Freiheiten dieser Stücke fesselte mich die kühle Poesie des 'Nachtstücks'. Es war mein erster Ausflug in ein neues Klangland. Ich spürte nach den vielfältigen Begegnungen mit der Tristan-Harmonik und ihrer erregenden Fieberglut eine keusche Reserve in dieser Musik und genoß ihre gläserne Klarheit." Während die Geige sich nicht als sein Instrument erwies, machte er im Klavier- und Orgelspiel schnelle Fortschritte.

"Als ich acht Jahre war, brach eine wahre Komponierwut in mir aus. Da ich von weißem, unschuldigem Papier mehr hielt als von langweilig bedrucktem Notenpapier, linierte ich mir Aktenbogen aus Vaters Bank selbst und begann dann wie wild darauf herumzuklecksen. Die Fragmente blieben zunächst kurz, Ansätze zu sinfonischen Dichtungen gerieten nicht über ein embryonales, oft nur einseitiges Stadium hinaus. Gleichzeitig wurde aber eine Oper in Angriff genommen: 'Elisabeth von der Rollenburg'. Im zwölften Lebensjahr schrieb ich für ein Schülervorspiel eine 'Danse orientale'. In dem Stücklein, das großen Erfolg hatte, quartelte es mächtig."

Über eine amerikanische Dame kam Komma in Berührung mit Jazz: "Wir animierten Schulfreunde, und bald hatten wir eine Jack-Hylton-Besetzung mit Saxophonen, Trompeten, Posaunen, Sousaphon, Violine, Klavier, Banjo und Schlagzeug auf die Beine gestellt. Wir übten reihum bei den Freunden wöchentlich einmal und konnten bald auftreten. 'Singin' in the Rain' war mir eine Zeitlang wichtiger als deutsche Klassik. Als 'bandleader' fungierte ich am Klavier oder vor der 'band' herumzappelnd -- und lernte ungemein viel an Instrumentation, rhythmischer Sicherheit und Improvisation. Diese sehr gemischte Kost fand ihren Widerhall in meinen Kompositionen."

Komma erzählt nicht nur lebendig von seiner Kindheit, er hat auch den Bezug dazu nicht verloren. 2001 komponierte er eine siebensätzige 'Hommage à Clérambault' für Orgel, in welcher er die Huldigung an den französischen Barockmeister mit Tanzmusik des 20. Jahrhunderts ins Wechselspiel setzt. Aus dieser Suite hören wir: Trio (Mouvement de Tango), und Basse de trompette (Mouvement de Blues). Karl Michael Komma spielt an der Mühleisen-Orgel von St. Borromäus in Winnenden.

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Hommage à Clérambault: 3. Satz 'Trio' und 4. Satz 'Basse de trompette'

Karl Michael Komma, Orgel (Winnenden, Januar 2002)

Da Camera Magna CD 77 117 (Vertrieb: Note 1) LC 00507

Tracks 15 und 16 (Dauer: 3'40)

Sie hörten zwei Stücke aus der 'Hommage à Clérambault' von Karl Michael Komma, mit dem Komponisten selbst an der Orgel.

1932 machte Komma sein Abitur und begann im Oktober mit dem Studium in Prag an der Deutschen Akademie für Musik und darstellende Kunst. Seine Lehrer waren Fidelio Finke in Komposition, der berühmte und gefürchtete Georg Szell in Dirigieren und Franz Langer am Klavier. Zugleich studierte er Musikwissenschaft, wo der am Kriegsende in Prag gelynchte Gustav Becking mit seinen bahnbrechenden Rhythmus-Forschungen prägenden Einfluss ausübte. Komma fand als fleißiger und begabter Pianist schnell ins praktische Musikleben der Stadt hinein, und auch kompositorisch stellten sich erste Erfolge ein. Im Nachhinein sollte ihm die Prager Zeit als die schönste und fruchtbarste seiner Studienjahre erscheinen. Doch ergab es sich, dass ein Onkel aus Breslau Ordinarius an der Heidelberger Universität wurde, und also studierte er ab 1934 in Heidelberg weiter, wo er vom trockenen Musikwissenschafts-Unterricht des berühmten Professor Heinrich Besseler herb enttäuscht wurde. Er nahm zeitweise Kontrapunkt-Unterricht bei dem sechs Jahre älteren Wolfgang Fortner, doch"der Umgang mit Fortner beglückte mich nicht sonderlich und ließ mich wieder mit Wehmut an das denken, was ich in Prag zurückgelassen hatte". Er schrieb seine Dissertation über den böhmischen Kleinmeister Johann Zach und, so Komma, "war bald übersättigt mit den Beispielen der primitiven, vorklassischen 'Sinfonik'. Die maßlose Überschätzung der 'Mannheimer', der 'Stürmer und Dränger', die um ihre Bedeutung von den zünftigen Wissenschaftlern geführten Kontroversen, erscheint aus späterer Sicht kaum begreiflich. Das Frühlingshafte des Aufbruchs einer Generation aus dem erstarrten Spätbarock spüre ich wohl auch heute noch, aber die Gedankenarmut und Ödnis so vieler vegetativ fortwuchernder Sätze mit ihren Crescendowalzen und Manieren ist mir immer noch schwer erträglich. Wie dumm war zudem die auch in unseren Tagen immer noch nicht zur Ruhe gekommene nationale Frage! Weil die Tschechen Stamitz und andere für sich beanspruchten, mussten und wollten wir ihn in anachronistischem Denken für die deutsche Musikgeschichte reklamieren."

Die nationalsozialistische Gleichschaltung hatte längst eingesetzt, und Komma sollte sich später die Fragen vor Augen halten: "Auf welchen Weg wurden wir gerissen? Von welchen Männern und Mächten? Waren die inneren Kämpfe der Organisationen, die Tendenzen der ehrgeizigen, meist stupiden Amtsträger für unsereinen überhaupt durchschaubar?" Komma ist in jener erbarmungslosen Zeit der klassische Fall eines unpolitischen Künstlers gewesen. Darüber heute zu urteilen ist ein Leichtes und aus dem kollektiven Trauma heraus verständlich, aber auch fragwürdig -- leben wir doch in einer Zeit, in welcher der Opportunismus viel verbreiteter ist als damals, wo die Haltung mit Gewalt diktiert wurde, und das, obwohl heute für Abweichler keine Gefahr für Leib und Leben der eigenen Person und der nächsten Angehörigen besteht, sondern lediglich für die Karriere.

Es folgt nun ein Stück aus dem Jahr 2001, in welchem Komma in zeitloser Weise an seine böhmischen Wurzeln anknüpft, die innere Verwandtschaft mit Martinu und Hindemith durchscheint: der dritte Satz, 'Chanson', aus dem Divertimento für Oboe, Klarinette und Fagott, im Uraufführungsmitschnitt mit dem Trio Château.

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Divertimento für Oboe, Klarinette und Fagott (2001): 3. Satz 'Chanson'

Trio Château (Norbert Strobel, Peter Fellhauer, Albrecht Holder), live, Tettnang, 13. August 2001

Privat-CD K.M.Komma

Track 15 (Dauer: 2'33)

Das Trio Château war zu hören mit der 'Chanson' aus dem 2001 komponierten Divertimento von Karl Michael Komma.

Im Sommer 1939 erkrankte Komma schwer und war, nunmehr wieder bei der Familie im von den Deutschen vereinnahmten Westböhmen, bis zum Kriegsende untauglich. Führende Interpreten setzten sich für seine Musik ein, so der Dirigent Fritz Rieger, der später als Generalmusikdirektor mit den Münchner Philharmonikern noch manches Werk Kommas aus der Taufe heben sollte. Komma stellte fest: "In den Fiebernächten im Krankenhaus und in den nachfolgenden Wochen war mir klar geworden, dass mir die Universität geistige Heimat und Berufsfeld nicht sein sollte. Es war mir zu viel Unerfreuliches im 'akademischen' Betrieb begegnet. Vor allem bedrückte mich der Zustand der Musikwissenschaft, deren Vertreter sich wichtiger vorkamen als die produktiven Musiker, und die Eitelkeit der Ordinarien, die Fußnoten-Philologie."

 

1940 wurde Komma mit der Leitung und dem Aufbau der heruntergekommenen Reichenberger Musikschule betraut, wofür er später schweren Angriffen ausgesetzt war. Doch bestätigen seine Schüler, die Atmosphäre der Musikschule sei "alles andere als politisch oder gar nazistisch geprägt" gewesen: "Andersdenkende hatten in der Musikschule ihren unangefochtenen Platz. Mit Wissen der jeweiligen Voraussetzungen nahm Komma Schüler mit jüdischer oder tschechischer Abstammung in die Schule auf." Er verteidigte sein kompositorisches Vorbild Hindemith, propagierte Strawinsky, brachte den Schülern Mendelssohn nahe. Als es nach dem Kriege aufgrund einer Denunziation um die Entnazifizierung ging, gab Fritz Rieger folgende Stellungnahme ab:

"Meines Wissens sind im Sudetengau Aufführungen seiner Werke nie auf Grund von Parteischiebungen zustande gekommen, sondern nur, weil er der einzige namhafte Komponist war. Es war ja der Vorzug seiner Musik, zeitlos zu sein und man nahm sich gerne seiner Werke an, weil er nicht zu denen gehörte, die von der Reichsmusikkammer immer wieder angepriesen wurden."

Die Vertreibung hatte Komma mit seiner Familie ins schwäbische Nördlingen verschlagen, von wo aus er mit Antritt seiner Ämter an der Stuttgarter Musikhochschule in den fünfziger Jahren nach Reutlingen übersiedelte. Dort haben wir den seit vier Jahren verwitweten Komponisten einen Monat vor seinem neunzigsten Geburtstag am 24. Dezember 2003, besucht. Als die reichste Zeit seines Lebens empfand Komma die Jahre unmittelbar nach dem Kriege:

O-TON 1

CD 1, Track 1, 0'29 - 1'57

Was, so fragten wir Komma, hat man falsch gemacht, wenn diese Impulsivität zur heutigen Stagnation geführt hat.

O-TON 2

CD 1, Track 1, 2'12 - 2'50

+

O-TON 3

CD 1, Track 1, 3'14 - 3'54

Bis dahin zurückgezogen in der Provinz schaffend, machte Karl Michael Komma 1953 für den Süddeutschen Rundfunk seine ersten "volkskundlich-musikalischen Sendungen", freundete sich mit Alfred Kelletat vom Hölderlin-Archiv in Bebenhausen an und leitete Ferienkurse an der Tübinger Universität. Dann holte ihn Walter Gerstenberg, der neue Ordinarius für Musikwissenschaft, an die Staatliche Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Stuttgart, wo er sich mit Kollegen wie Hermann Reutter, dem von ihm hochgeschätzten Karl Marx oder Johann Nepomuk David dem Ethos einer 'klassischen Moderne' verschrieb und 1960 Professor wurde. Parallel unterrichtete er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1978 in zwei Hauptfächern, die üblicherweise nicht in einer Hand sind: in Musikwissenschaft und Musikgeschichte sowie in Theorie und Komposition. Einer seiner Schüler sollte Helmut Lachenmann werden. 1989 erschien anlässlich seines 75. Geburtstags eine Festschrift, in welcher ihm bescheinigt wurde: "Als junger Mensch ging Karl Michael Komma bei den Meistern seiner Zeit in die musikalische Lehre, aber er widmete sich bei führenden Gelehrten auch wissenschaftlichen Studien. Intuition und Exaktheit stellen sich ihm als die zwei Seiten einer ungeteilten humanitas dar. Während Komma durch all die Jahre zur künstlerischen Meisterschaft gelangt ist und die in der Tradition verwurzelte Einheit des Schöpferischen mit dem Musikantischen erneuerte, erwarb er zugleich eine profunde Kennerschaft der geschichtlichen Kräfte vergangener Epochen und lehrte deren andauernde Wirkung in der Gegenwart. Musik als Schöpfung und Musik als Geschichte -- Karl Michael Komma hat beide mit Intuition und Exaktheit vor ungezählten Ohren Ereignis werden lassen."

Das Komponieren war zeitweilig durch die Lehrtätigkeit in eingeschränkterer Weise möglich, doch gab es kaum ertraglose Jahre, und in der täglichen Auseinandersetzung mit den jüngsten Strömungen durchlief auch sein Schaffen, bei aller Kontinuität, allerlei Wandlungen. Über der Vorliebe zu intimeren Besetzungen darf sein Orchesterwerk nicht übersehen werden. 1972 komponierte er die dreisätzigen 'Signale' für großes Orchester. Über den zyklisch zusammenfassenden Schlußsatz schreibt Komma, dieser sei "betont festlich und wird vor allem von den Bläsern getragen. Die Hörner beginnen, schließlich sind alle Holz- und Blechbläser bis auf die Flöten in verschiedenen, einander ergänzenden Rhythmen beteiligt. Als starker Gegensatz beginnt nun ein allmählich sich zwölfstimmig entwickelndes Glissando der gedämpften Streicher. Darüber schweben Vogelrufe, allen voran der eines Pirols. Im Wechsel kurzer Taktgruppen wirken nun die Glocken- und die Vogelrufmotivik, mehrmals unterbrochen durch die Trompetensignale des ersten Teils. Schließlich ist das ganze Orchester im pentatonischen Klangspiel vereint, in das nun auch ein fünftöniges Glockengeläute sich einmischt. Den dritten Satz der 'Signale' könnte man als hommage an Janácek bezeichnen, dessen Sinfonietta den Komponisten schon in seiner Prager Studienzeit begeisterte."

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'Signale' für gr. Orchester (1972): 3. Satz, Sostenuto

Schwäbisches Symphonie-Orchester Reutlingen, Dimitri Agrafiotis (Mai 1973)

Cadenza CD 800 880 (Vertrieb: Note 1) LC 6474

Track 9 (Dauer: 3'56)

Dimitri Agrafiotis dirigierte die Württembergische Philharmonie Reutlingen im Schlußsatz von Karl Michael Kommas 1972 entstandenen 'Signalen' für großes Orchester.

Außer der Musik frönte Komma über all die Jahre vor allem zwei ausgiebigen Hobbies: dem Zeichnen von Karikaturen und Landschaften und, vielgestaltiger und ambitionierter, der Kunst des Dichtens und Reimens. Er liebt besonders die antike Literatur, die französische und japanische Poesie, Stifter, und er hat eine ausgesprochene Affinität zu Hölderlin. Die Anregungen müssen sich keineswegs in konkreten Textvertonungen niederschlagen. So schrieb er 1981 seine sechs 'Sapphischen Strophen' für Fagott, Cello und Klavier, die zunächst mit Tanz aufgeführt wurden. Daraus zu hören ist jetzt 'Der Mond ging unter...', gespielt von Friedrich Edelmann (Fagott), Rebecca Rust (Cello) und David Apter (Klavier).

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Sapphische Strophen (1981): 5. Stück 'Der Mond ging unter...'

Friedrich Edelmann (Fg.), Rebecca Rust (Vc.), David Apter (Pf.); (BR, April 1990)

Bayer Records CD 100 090 (Vertrieb: Note 1) LC 8498

Track 8 (Dauer: 2'12)

Seit seiner Emeritierung im Jahre 1978 fand Karl Michael Komma wiet mehr Zeit zum Komponieren als zuvor. 1999 starb seine Gattin Lotte nach fast sechzigjähriger Ehe. Er hat den Schmerz überwunden. Noch als Neunzigjähriger ist er ein ungebrochen Schaffender.

Kann ein Komponist im Spätherbst seines Wirkens den eigenen schöpferischen Werdegang beschreiben? Karl Michael Komma hat uns den Gefallen getan, diesen Versuch in aller Kürze zu unternehmen -- eine seltene Gelegenheit, mit dem Komponisten selbst am Klavier und als Kommentator, die wir unseren Hörern nicht vorenthalten wollen.

O-TON 4

CD 2, Track 5 (ab 2'30) bis Track 6 (bis 2'40) (Dauer ungekürzt: 15'20)

Karl Michael Komma ist im Gespräch beileibe nicht nur sein eigener Chronist. Gerne war er zu einem Credo bereit:

O-TON 5

CD 2, Track 3, 0'45 - 1'41

Auf die Frage, wohin sein Formdenken primär ausgerichtet sei, antwortete Komma:

O-TON 6

CD 2, Track 3, 4'01 - 5'35

Die banal scheinende Frage konnte nicht unterbleiben: "Herr Professor Komma, was ist Musik?" -- Also: Musik ist...

O-TON 7

CD 1, Track 7, 1'12 - 2'07

1993 erhielt Karl Michael Komma als erster deutscher Komponist seit Richard Strauss einen offiziellen Kompositionsauftrag des japanischen Kaiserhauses. Er sollte ein Werk schreiben anlässlich der Vermählung des Kronprinzen. So entstand 'Der Tanz des großen Friedens', ein Concerto grosso für Fagott, Cello, Klavier und Streicher, das 1994 im Kaiserpalast in einer nicht öffentlichen Feier zur Uraufführung kam. Kommas eigener Werkkommentar lautet:

"Der 'Tanz des großen Friedens' ist keine Übertragung originaler Weisen und Klänge aus dem Fernen Osten. Der Komponist versucht, mit den Mitteln neuer Instrumentalmusik den Geist japanischer Festmusik so widerzuspiegeln, wie es uns möglich ist. Die über tausend Jahre alte Hofmusik des 'gagaku' mit ihren Doppelrohrblatt-, Flöten- und Mundorgelklängen und kultisch feierlichem Rhythmus bildet einen Leitgedanken des Concertos. Dann aber tritt auch die Variationskunst des 'danmono', der eindrucksvollen Koto-Musik, in Erscheinung.

Die Verbindung, die Brücke zum Verständnis japanischer Musik läuft über die menschheitlichen Beziehungen musikalischer Grundstrukturen, z. B. die Verwandtschaft halbtonloser Skalen oder modi, in denen die Halbtonstellung etwa dem 'Phrygischen' entspricht. 'Hoquetische', das heißt: kurzgliedrige, von Pausen unterbrochene Vokalmelodik kennen die Japaner so wie unsere Komponisten der Gotik."

1998 gelangte 'Der Tanz des großen Friedens' in Tokio zur öffentlichen Erstaufführung. Der Mitschnitt ist zwar etwas übersteuert und klingt eigentlich wie eine 'historische Aufnahme', doch Eleganz, Zauber und Schwung des Werkes wie auch die feine Qualität der Aufführung machen meines Erachtens diese Mängel wett. Zum Abschluss unseres Komponisten-Portraits hören Sie einen Auszug aus Karl Michael Kommas 'Tanz des großen Friedens'. Es spielen Friedrich Edelmann (Fagott), Rebecca Rust (Cello), Shigehiro Suzuki (Klavier) und das Jeunesse Musicale World Orchestra unter Andrej Boreyko.

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'Der Tanz des großen Friedens', Concerto grosso (1993): ab 3. Satz

Friedrich Edelmann (Fg.), Rebecca Rust (Vc.), Shigehiro Suzuki (Pf.), Jeunesse Musicale World Orchestra, Andrej Boreyko (live, Tokio, 11. August 1998)

Privat-CD KM Komma (mit freundlicher Genehmigung der Ausführenden)

ab Track 7 (PUFFER!)

Stationssprecher:

Das Komponisten-Portrait anlässlich des 90. Geburtstags von Karl Michael Komma am 24. Dezember klang aus mit einem Auszug aus dem Concerto grosso 'Der Tanz des großen Friedens', gespielt von Friedrich Edelmann, Rebecca Rust, Shigehiro Suzuki und dem Jeunesse Musicale World Orchestra unter der Leitung von Andrej Boreyko.

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Sendemanuskript für BR 2
(Redaktion: Wilfried Hiller)

Produktion: 26.11.2003

Erstsendung: 1.12.2003, 21'30 - 22'30

Christoph Schlüren 11/2003