Vor 50 Jahren gründete der gebürtige
Stettiner Kurt Graunke in München sein "Symphonie-Orchester
Graunke", dem er 44 Jahre lang bis 1989 vorstand. Dann übernahm
Christoph Stepp die Leitung, der Klangkörper wurde umbenannt
in "Münchner Symphoniker". Kurt Graunke hat sich
immense Verdienste um diese Musiker erworben, hat aus dem Nichts
ein zwar immer wieder von Existenznöten geschütteltes,
unter seiner musikantischen Leitung aber doch überlebensfähiges
Orchester aufgebaut. Unter heute kaum vorstellbar schweren Bedingungen
ackerte man sich - oft mit Drahtseilimprovisation! - durch Filmmusikproduktionen,
erwarb sich aber schließlich auch einen achtbaren Ruf auf
symphonischem Terrain, speziell mit Schumann-Symphonien. Graunke
sah sich trotzdem immer in erster Linie als Komponist, der auch
dirigiert. Mit dem Mann, dem die Symphoniker Existenz und Erfolge
verdanken, der heute zurückgezogen in München lebt, sprach
über das, was ihn heute bewegt.
CS: Sie verdanken sicher manch geringschätziges Urteil über
Ihre Werke der Tatsache, daß Sie nicht nur Symphonien, sondern
auch Leichte Musik geschrieben haben. Da werden Sie dann nicht mehr
ernst genommen...
KG: Die so denken, sind zu bedauern. Von der Grundempfindung bin
ich absolut ein ernster Musiker. Doch habe ich mir auf vielen Gebieten
immer Gedanken über alles gemacht. Man mag noch so für
leichte Musik, für Tanzmusik zugänglich sein: am Anfang
der Don Giovanni-Ouverture, da wird man festgenagelt, weil in einem
plötzlich so tief etwas vorgeht. Natürlich habe ich da
schon als Junge Gänsehaut bekommen!
CS: Die Unterhaltungsstücke dürften Ihnen ja leicht aus
der Feder geflossen sein. Wieviel Ringen hat Sie das symphonische
Komponieren gekostet?
KG: Eins steht fest: ich bin keiner, der zwanzigmal hin und her
experimentiert. Ich war schon immer einer, der sich sofort entscheidet
- auch in Lebensfragen fast immer. Zum Beispiel die Schuhe, die
ich jetzt anhabe: ich zog sie an, sie paßten - "danke,
Sie brauchen keine zweiten mehr zu bringen". Nicht immer hatte
ich mit so einer Einstellung den rechten Erfolg. Bei der Einstellung
von Musikern, wenn man keine große Auswahl hatte, hat man
auch mal danebengegriffen, und mußte fortan das Beste daraus
machen. Wie dem auch sei: an meinen Symphonien habe ich kaum gefeilt.
Außer der Siebenten und Achten wurden alle direkt aus Skizzen
in die Partitur geschrieben - zu mehr hätte ich auch keine
Zeit gehabt.
CS: Hat Reger hierin nicht ähnlich gearbeitet?
KG: Ich weiß nicht. Aber ich war überrascht, als ich
las, wie Tschaikowskij wie ein Beamter morgens um acht anfing und
mittags um 12 zu anderen Dingen der Tagesordnung überging.
Wie kann man vormittags solche sinnlichen Inspirationen haben? Für
mich ein Wunder - ich kann nur nachts arbeiten. Einfälle jedoch,
stellte ich fest, sind am Morgen, wenn man im Halbschlaf ist, am
Besten. Das Hauptthema meiner achten Symphonie entstammt solchem
Dämmerzustand - da lag meine von der tödlichen Krankheit
heimgesuchte Frau daneben, ich hörte ihre Atmung. Der Einsatz
auf Zweiund: das ist wie ein Gewitterschlag. Die Erkrankung, die
über meine Frau niederfiel wie aus dem heiteren Himmel.
CS: Was macht Ihre neunte Symphonie?
KG: Adagio und Scherzo sind vollendet. Aber der erste Satz ist zu
abstrakt geworden. Da ich nun mal ein sehr emotioneller Typ bin,
hat meine Musik dieses romantische Element. Ich habe nichts übrig
für sterile Musik: dieses Klare, Feste, was dann oft auch als
klassisch bewertet wird - das ist es nicht. Meine Linie ist mehr
Schubert-Schumann-Bruckner.
Wo ein variables Moment drin sein kann
und drin sein darf. Das Gefühlsmäßige kommt bei
mir zum Ausdruck, ob im Spielen oder im Komponieren. Insofern finde
ich den ersten Satz meiner Neunten zu steril. Darum wird's auch
weggeworfen.
CS: Können Sie komponierende Zeitgenossen nennen, für
die Sie sich begeistern konnten?
KG: Das ist eine zu schwere Frage.
CS: Also fühlten Sie sich stets sehr allein.
KG: Eigentlich ist das so. Ich mag die Flötensonate von Wolfgang
Teuscher. Die ist spritzig, der zweite Satz hat so eine gewisse
Melancholie. Ich habe das aus reinem Enthusiasmus aufnehmen lassen,
denn damit verdiene ich keinen Pfennig.
CS: Welche dirigentischen Vorbilder waren für Sie wegweisend?
KG: Zunächst, als ich Militärkapellmeister in Wien war,
Knappertsbusch. Später hörte ich in München Furtwängler,
und da fiel für mich der große "Kna" weit ab,
denn ich merkte, daß er ignorante Momente in sich trug. Ich
kann nicht, wo Pizzicato steht, Arco spielen lassen. Oder: wo eine
Generalpause ist, machte er keine. Wo aber keine war, da machte
er so ein Riesending hin, daß alle den Mund aufsperrten und
nicht wußten, wann es endlich weitergeht. Machtmißbrauch.
Bei der ersten Brahms mit Furtwängler habe ich dann in den
Proben Takt für Takt mitgeschrieben. Ich war hingerissen. Später
habe ich gemerkt, daß das Niveau seiner Aufführungen
sehr schwankte, aber vieles war überwältigend.
CS: Sie sind seit jeher ein fanatischer Radsportler und haben die
erste umfassende Anthologie des deutschen Radsports herausgebracht.
KG: Das hat mich die Arbeit von mehreren Symphonien gekostet. Ich
fahre nach wie vor bei Radrennen mit. In diesem August war es meine
zehnte Weltcup-Teilnahme in fünfzehn Jahren. Allerdings muß
auch ich inzwischen kürzertreten, und an der Schäftlarnauffahrt
muß ich eine andere Übersetzung wählen als noch
vor wenigen Jahren.
Christoph Schlüren
(Interview für das Münchner Kulturmagazin 'Applaus')
CD-Tips: Zum 80. Geburtstag am 20. September hat die Edition Sedina
zwei Schnupper-CDs mit Graunke querbeet herausgebracht: Teil 1 enthält
überwiegend Symphonisches, Teil 2 gibt den Blick frei auf des
Meisters gehobene Unterhaltungsmusik (ES 119 und 120). Wer aber
wirklich etwas von Graunkeschen Dimensionen erfahren will, sei auf
die kompletten acht Symphonien auf sieben CDs verwiesen (ES 101,
102, 104-108). Das komplizierteste und ambitionierteste Werk ist
die erste Symphonie mit der enigmatischen Passacaglia-Introduktion,
dem Paukenthema "aus der Stunde Null", und der satztechnisch
singulären Großen Fuge. Als Gesamtwurf hinterläßt
vielleicht die kraftvoll-herbe Vierte, am Ende des Adagios wie von
einer anderen Welt, den schärfsten Eindruck. In den Symphonien
Nr. 6 und 7 sind die Finalsätze von großer Macht, und
die wohlbalancierte Achte ist insgesamt wohl die thematisch Einprägsamste.
Graunkes Melodik folgt diatonischen Empfindungen, das harmonische
Gewand ist mit reich schillernder Chromatik aufgeladen. Er ist vor
allem ein unermüdlich erfindungsreicher und behender, tänzerischer
Rhythmiker, der sich zeitlebens in Synkope und Dreivierteltakt verliebt
hat. Deshalb ist er auch, bei allem "über Reger hinaus!",
kein typisch deutscher, gestrenger Symphoniker.
(München, 11.8.95) |