Anfang des Adagios aus der ersten Symphonie
Estnisches Staatliches Symphonieorchester, Peeter Lilje Tallinn
1990, Ondine/Note, 1 CD 751-2
(bei Ziffer 79:)
"Alle meine Werke sind vom Krieg beeinflußt."
(weiter Musik, dann 4 Takte später über pizz. alleine:)
"...eine geisterhafte Musik, gleichsam eine Assoziation des
Schlachtfelds des Todes".
(weiter Musik, Reprise)
Das Estnische Staatliche Symphonieorchester unter Leitung von Peeter
Lilje spielt das Adagio aus Einar Englunds 1. Symphonie von 1946.
(Musik Ausblende)
Nach dem Zweiten Weltkrieg war der am 17. Juni 1916 auf der schwedischen
Insel Gotland geborene Englund mit seinen zwei ersten Symphonien
der erste Komponist in Finnland, der aus dem übermächtigen
Schatten von Jean Sibelius mit etwas Neuem hervortrat. Englund hatte
bis 1941 an der Sibelius-Akademie in Helsinki Klavier bei Martti
Paavola und Komposition bei Bengt Carlson studiert. Sein wichtigster
Lehrer war jedoch der bedeutende slowenische Dirigent Leo Funtek,
der ihn in die Rimskij-Korssakowschen Prinzipien der Orchestration
einweihte und damit wesentliche Voraussetzungen für Englunds
Erfolg als Symphoniker schuf. Von Funtek stammt übrigens eine
in den nordischen Ländern und Rußland vielgespielte Orchestration
von Mussorgskijs 'Bildern einer Ausstellung', entstanden im gleichen
Jahr wie die Fassung Maurice Ravels und im viel dunkleren, düsteren
Gewand nach Meinung vieler die dem Original nächststehende
Version. Als Beispiel daraus mag der 'Gnomus' dienen.
'Gnomus' aus 'Bilder einer Ausstellung' von Modest Mussorgskij,
orchestriert von Leo Funtek (Dauer: 3'00")
(Symphonieorchester des Finnischen Rundfunks, Leif Segerstam, Helsinki
1986; BIS/Klassik-Center CD 325)
Den Ausschnitt aus Leo Funteks Fassung von Modest Mussorgskijs 'Bildern
einer Ausstellung' spielte das Symphonieorchester des Finnischen
Rundfunks unter Leitung von Leif Segerstam. Funteks imaginative
Orchesterbeherrschung gibt durchaus Aufschluß über die
Wurzeln seines Schülers Einar Englund: "Alles, was ich
heute kann, habe ich von meinem Lehrer Leo Funtek gelernt. Er war
als Person 'ein komplettes Konservatorium'. Er kannte einfach alles."
Seine Studienabschlußkomposition, ein Klavierquintett, legte
er auch Sibelius in Ainola zur Begutachtung vor, der ihm riet, mehr
Raum für ruhige Momente zu lassen. Dank Sibelius' Empfehlung
erhielt Englund später ein Amerika-Stipendium und studierte
1948-49 am Tanglewood Music Center mit Aaron Copland. Doch zunächst
kam die Kriegserfahrung in den finnischen Wäldern, und die
in der Folge entstandene erste Symphonie, bekannt als 'Kriegssymphonie',
ist laut Englund vor allem "geprägt von der euphorischen
Freude darüber, daß ich - wie durch ein Wunder - die
vier Jahre währende Hölle an der Front überlebt hatte".
Sie ist in traditionell viersätziger Form gehalten, wirkte
jedoch in ihrer mit scharfen Dissonanzen gewürzten Diatonik
alles andere als traditionell auf das finnische Publikum, insbesondere
im Scherzo, zu dem Englund anmerkte: "Hier assoziiert die Musik
unterschwellig mit realistischen Kampfszenen, was dazu beigetragen
haben mag, daß das Werk das Epitheton 'Kriegssymphonie' erhielt.
In der Coda steigert sich das mit brutalen Klängen durchsetzte
Scherzo zu einem fast apokalyptischen Hexentanz." Auf die schroffe
Wildheit dieses Satzes griff Englund auch in späteren Werken
wie der dritten Symphonie wirkungsvoll zurück. 1947 komponierte
er seine zweite Symphonie, direkt im Anschluß an die sehr
erfolgreiche Uraufführung der Ersten unter Leo Funtek. Die
Zweite ist dreisätzig, und Englund wollte hier "mit symphonischen
Mitteln eine Musik schaffen, in der Natur und urbane Maschinenkultur
im Kontrast zueinander stehen". Aufgrund der Amselimitationen
im zweiten Satz erhielt sie den Beinamen "Blackbird".
Wie in der ersten Symphonie ist der russische Einfluß grundlegend,
direkte wie indirekte Anklänge vor allem an Schostakowitsch
und Strawinskij, aber auch an Prokofjew, Bartók und Sibelius
sowie französische Stilanleihen fallen auf. Die klassisch symphonische
Satzentwicklung basiert auf dem effektiven Einsatz rhythmisch und
melodisch prägnanter, deutlich kontrastierender Themen. Das
Studium von Englunds Partituren ist schon aufgrund der handwerklichen
Meisterschaft alleine ein Vergnügen, die aus der Beherrschung
der technischen Konventionen viele kühne instrumentatorische
Kombinationen und tragfähige, nicht zu Makulatur verkümmernde
kontrapunktische Kunststücke ableitet. Englund liebt kanonische
Engführungen und Fugati mit überraschenden Einsätzen.
Mit dem motivischen Material verfährt er sehr ökonomisch;
entscheidend ist jederzeit die thematische Wiedererkennbarkeit,
abstraktere Ansätze wie Metamorphosetechnik oder gar Reihentechnik
kommen zugunsten eines griffigen, markanten Satzprofils nicht in
Betracht: "Nur wenn eine musikalische Idee ihre ursprüngliche
Frische zu bewahren vermag - auch wenn sie wieder und wieder zum
Einsatz kommt! - ist sie wert, verwendet zu werden." In der
zweiten Symphonie sind diese Qualitäten gegenüber der
ersten weit konzentrierter ausgebildet, womit Englund seine Position
als führender 'Neutöner' im konservativen Finnland untermauerte.
Zum zweiten und dritten Satz, Andante molto sostenuto und Allegro
deciso, aus der 1947 entstandenen zweiten Symphonie fügte der
Komponist folgenden Kommentar an: "Im langsamen zweiten Satz
wechseln die explosiven Ausbrüche und die lyrischen Partien
in immer dichterer Folge. Das Dreitonmotiv, das die motorische Überleitung
zum Seitenthema begleitet, nimmt immer mehr an Bedeutung zu. Es
ertönt fortissimo in den schmetternden Fanfaren der Trompeten
zu den hartnäckigen Sequenzen der Posaunen. Aber die extreme
Konsequenz tritt erst zum Schluß ein, wo nun das gleiche -
nunmehr an Vogelgesang erinnernde - Motiv sich von einem gespenstischen,
statischen Hintergrund abhebt. Ob es das Singen einer Amsel in einem
milieugeschädigten Wald ist? Dieser Vogelgesang führt
ohne Unterbrechung ins Finale.
Die Motorik gewinnt nun beinahe völlig die Oberhand. Nur im
träumerischen Mittelteil tauchen hie und da Impressionen von
unberührter Natur auf. In der Coda aber ertönt wieder
das Seitenthema des langsamen Satzes; die Blechbläser spielen
es als Kontrapunkt zu den Streichern und Holzbläsern, die das
Hauptthema des ersten Satzes bringen. Und das Lyrische wird von
den motorischen Foxtrotrhythmen der Maschinenkultur, die siegreich
bis zum gnadenlosen Ende weitergehen, gänzlich verdrängt."
Englund: 2. und 3. Satz (Andante molto sostenuto und Allegro deciso)
aus der 2. Symphonie (Dauer: 18'10")
(Estnisches Staatliches Symphonieorchester, Peeter Lilje, Tallinn
1990; Ondine/Note 1 CD 751-2)
Den zweiten und dritten Satz, Andante und Finale, aus Einar Englunds
zweiter Symphonie von 1947 spielte das Estnische Staatliche Symphonieorchester
unter Peeter Lilje. Zu seinem Werdegang in den Nachkriegsjahren
erklärte Englund: "Viele finnische Komponisten lebten
weiterhin in der erlöschenden Glut patriotischer Inbrunst,
die unser Land während des Krieges erfaßt hatte. Ich
hatte genug von der Kriegspropaganda und wählte eine andere
Richtung, deren Ursprünge über Schostakowitsch zu Mahler
zurückreichen. Während ich in Tanglewood studierte, kam
ich eng mit der Musik von Schönberg, Hindemith und Messiaen
in Berührung, aber nichts davon hat irgendeinen erwähnenswerten
Eindruck bei mir hinterlassen." Nach den zwei gewichtigen ersten
Symphonien hat Englund Anfang der fünfziger Jahre viel weitere
Orchestermusik geschrieben, darunter ein Cellokonzert und das neoklassizistisch
leichte, vielgespielte erste Klavierkonzert. Er war nun einer der
führenden finnischen Komponisten. Doch mißliche Lebensumstände
warfen ihn als Künstler aus der Bahn. 1956 starb seine erste
Frau, und er blieb mit drei Kleinkindern allein zurück. Außerdem
galt er mittlerweile bei den einflußreichsten Kritikern aufgrund
der immer dominierenderen Haltung der Serialisten als rückständiger
Komponist. So war es wohl eine Mischung aus alltäglicher Überforderung
und Resignation vor dem Zeitgeist, die Englund als seriösen
Komponisten für mehr als zehn Jahre zum Schweigen brachte.
Es entstanden Ballett- und Filmmusiken, doch mit einem wirklich
essentiellen Werk trat er erst 1971 wieder auf den Plan:
mit der 1969 begonnenen dritten Symphonie. Englund hatte sich stilistisch konsolidiert,
sozusagen keinen Millimeter an neuere Tendenzen abgetreten, und
die starke Bindung an Schostakowitsch bestand ungebrochen. Ob man
ihm glauben darf, wenn er sagt: "Als ich meine erste Symphonie
schrieb, kannte ich Schostakowitschs Musik überhaupt nicht"
- ? Als Schostakowitsch 1975 starb, nahm Englund jedenfalls auf
sehr persönliche Art Abschied mit einer Memoriam-Symphonie
für Streicher und Schlagzeug, seiner Nummer Vier, genannt die
'Nostalgische'. Aus dem aufgrund seiner reizvollen Genre-Eigenheiten
von Jugendorchestern viel gespielten Werk hören Sie den dritten
Satz: 'Nostalgia', Andante. Paavo Pohjola dirigiert das Kammerorchester
von Espoo. Eine typische Manier Englunds übrigens ist mit Eintritt
des bewegteren Abschnitts zu hören: eine Art beschmutzter Wohlklang
oder veredelte Dissonanz, je nach Betrachtungsweise, erreicht durch
quasi zweischichtige Parallelführung in konsonierenden und
dissonierenden Intervallen.
Englund: 3. Satz ('Nostalgia', Andante) aus der 4. Symphonie (Dauer:
6'30")
(Kammerorchester Espoo, Paavo Pohjola, Helsinki 1980;
Finlandia/Warner CD 1576-50017-2)
Aus Einar Englunds vierter Symphonie hörten Sie den dritten
Satz: 'Nostalgia', Andante, gespielt vom Kammerorchester Espoo unter
Paavo Pohjola. Von der Grundveranlagung ist Englund ein Elegiker,
und eine ungezwungen lyrische Haltung sicherte beispielsweise seinem
1981 komponierten Violinkonzert beträchtlichen Erfolg: "Das
Violinkonzert ist romantisch, so, daß die Geiger es mögen.
Warum sollte man so schreiben, daß sie es nicht mögen?"
1985 folgte ein Flötenkonzert von weit kontrastreicherer, ideenreich
spielerischer Anlage - Englund hält es für sein bedeutendstes
Konzert - und auch sein letztes Werk von 1991 ist ein Solokonzert,
für die Klarinette - ein 'Farewell' von klassischer Geschlossenheit.
Seit den siebziger Jahren schrieb Englund auch recht viel Kammermusik
und einige Chorwerke, doch das Feld seiner persönlichen Stärken
blieb die Symphonie. Die Fünfte, die sogenannte "Fennica",
1977 zum 60. Jahrestag der Unabhängigkeit Finnlands komponiert,
faßt sehr unterschiedliche Abschnitte in starker thematischer
Konzentration zu einem einzigen dramatischen Satzgefüge zusammen.
Die Sechste ist eine Chorsymphonie über die 'Aphorismen' des
Heraklid mit einem rein instrumentalen Scherzo, an dem Englund unterstreicht,
wie wenig er von der Verbindung von Musik und Text hält: "Ich
war so froh, endlich wieder Musik machen zu können." Die
1988 entstandene siebente Symphonie ist ein Meisterwerk in der perfektionierten
Faktur, jedoch dürfte Englund in keiner seiner letzten Symphonien
die Unmittelbarkeit und Spannkraft seines Comeback-Werks, der 1971
vollendeten dritten Symphonie, wiedererreicht haben: "Es ist
merkwürdig, aber meine eigentliche 'Kriegssymphonie' entstand
25 Jahre nach dem Krieg - ich hatte das nicht vor, und plötzlich
war alles da. Die dritte Symphonie ist vielleicht mein Magnum Opus.
Ich bin ziemlich zufrieden damit, habe es dreimal umgearbeitet.
Der Orchesterklang, den ich brauche, ist - vor allem in diesem Werk
- metallisch, reich und mit Fülle." Das Scherzo daraus,
das Sie jetzt hören werden, fährt mit aller gebündelten
- russischen - Wildheit der frühen Symphonien heraus, um gegen
Ende auf die Tristesse des Adagio molto hinzuführen.
Englund: 2. Satz (Scherzo. Molto vivace - Largamente) aus der 3.
Symphonie (Dauer: 6'05")
(Philharmonisches Orchester Tampere, Ari Rasilainen, Tampere 1994;
Ondine/Note 1 CD 833-2)
Einar Englunds dritte Symphonie, aus der sie mit den Philharmonikern
aus Tampere unter Ari Rasilainen das Scherzo hörten, wurde
1972 uraufgeführt und stellte des Komponisten ungebrochene
Schaffenskraft nach langen Jahren der Abstinenz unter Beweis. Englund
ist ein 'musikantischer' Komponist, der die Alleinherrschaft des
Intellekts vehement ablehnt: "Ich bin sicher, daß die
Meister vergangener Zeiten in viel größerem Maß
ihrer Intuition vertrauten, als viele moderne Komponisten dies tun,
die ganz bewußt, auf eine rational-künstliche Art, ihre
Motive hin- und herwenden." Zudem ist Englund ein exzellenter
Pianist, der seine eigenen Klavierkonzerte vielfach aufführte.
Er ist berühmt für seine polyphonen Improvisationskünste,
die er in vielen Konzerten vorstellte. Mithin ganz ein Tonschaffender
aufgrund überlieferter Werte, der "keine Papiertiger"
kreieren möchte. Zu seinen originellsten Schöpfungen ist
das 1980-81 komponierte, vitale Konzert für zwölf Violoncelli
zu zählen, das von der Gegenüberstellung tiefer Melancholie
("Es ist so melancholisch geworden, obwohl es gar nicht so
empfunden war!") und tänzerischer Daseinsfreude lebt:
"Alle meine motivischen und thematischen Ideen erreichten mich
in tänzerischer Form. Während des Kriegs marschierte ich
auf den versteckten Pfaden der karelischen Wälder, und später
fand ich sogar die Inspiration zu Adagio-Melodien im Militärmarsch."
Zum Abschluß spielt das Finnische Celloensemble unter Ulf
Söderblom die zwei letzten Sätze aus Einar Englunds Konzert
für zwölf Violoncelli: Marcia funerale und Tango-Finale.
Englund: 4. und 5. Satz (Marcia funerale und Finale) aus Concerto
for 12 Cellos (Dauer: 10'00")
(Finnisches Celloensemble, Ulf Söderblom, Helsinki 1988; Finlandia/Warner
CD 1576-53376-2)
Sendemanuskript für BR4
(Redaktion: Wilfried Hiller); Produktion: 3.6.96;
Erstsendung: 17.6.1996, 23:oo-22:oo, 'Montagsthema'.
Christoph Schlüren, 5/96
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