Ich weiß nichts Genaueres über
die Gründe, die mich dahinführen, wo ich hingehe. Ich
glaube, daß in einem Stil, der in kleinen Schritten heranwächst
und sich entwickelt, Konstanten zu finden sind, wiederkehrende Faktoren,
die sich allmählich als persönliche Merkmale durchsetzen.
Diese Konstanten sind es, die einen Stil bilden und prägen.
Das sind beispielsweise Konstanten in der harmonischen Sprache.
Ich meine, daß meine Sensibilität und Eigenart im Harmonischen
größer ist als im Melodischen. Für mich ist das
harmonische Bewußtsein wesentlich für die Kohärenz
der Form. Das ist etwas, worauf ich immer mit äußerster
Sorgfalt achte, und immer ist so etwas wie eine freitonale Kontinuität
in meinen Werken wirksam. Diese Freitonalität umschließt
Modalität, Polytonalität, Atonalität und Tonalität.
Sie ermöglicht deren Koexistenz und wechselseitige Durchdringung
in ein und derselben Form.
Es ist mein Ziel, jedes Werk als lebendiges, organisches Ganzes
entstehen zu lassen, und das ist natürlich unvereinbar mit
den work-in-progress-Ideen einiger meiner Kollegen. Was die spätere
Umarbeitung eines Werks nicht ausschließt: So habe ich zum
Beispiel in 'Timbres, Espace, Mouvement' ein Interlude für
zwölf Celli eingefügt. Dadurch wurde nach vielen Jahren
aus einem Diptychon eine ternäre Form. Und ich glaube, daß
in diesem Fall das Werk an Dichte und Kontur gewonnen hat. Verbesserungen
sind immer möglich.
Wie entsteht ein Werk? Das ist ein einziges Mysterium. Der Prozeß
ist jedesmal komplett anders, immer abhängig vom involvierten
Tonmaterial.
Henri Dutilleux im November 1996
Henri Dutilleux ist ein Freigeist. Die herrschenden Dogmen und Ideologien,
Trends und Gegentrends hat er zwar stets mit regem Interesse verfolgt,
doch seine schöpferische Konzentration folgte stets den entgrenzenden
Tendenzen seiner auf Synthese ausgerichteten personalstilistischen
Entfaltung. Er bewundert die alten Meister der franko-flämischen
Polyphonie und hat ihre kontrapunktische Feinnervigkeit und Flexibilität
in seine moderne Klangsprache verpflanzt. Er sucht in Bach-Chorälen
Zuflucht und versenkt sich in die Welt der späten Sonaten und
Quartette Beethovens. Béla Bartók und Igor Strawinskij
(letzterer vor allem in seiner 'russischen Periode') haben nachdrücklich
auf seine Klangsprache eingewirkt. Unter den heute lebenden Komponisten
schätzt er den späten György Ligeti besonders hoch.
Mit Witold Lutoslawski fühlte er sich besonders verbunden:
"Mir scheint, daß er die Probleme der musikalischen Sprache
vielleicht auf eine fast gleiche Weise betrachtet hat." Unter
seinen französischen Kollegen standen ihm Olivier Messiaen,
Maurice Ohana und besonders sein Schüler Francis Bayer stets
nahe, wogegen er zu Pierre Boulez strikter ästhetischer
Gesinnung auf Distanz ging. Dutilleux sieht sich über
den zentralen Aspekt der das jeweils im Material keimhaft Angelegte
zusammenhängend ausgestaltenden Formbewußtheit hinaus
als "Farbenkomponist", wobei er in der Entdeckung
harmonischer Farben vieles Chopin und Schumann verdankt und in der
Erfahrung instrumentaler Farbwirkungen Berlioz. Sein großes
Vorbild, nicht nur in dieser Hinsicht, ist Claude Debussy. Dessen
Wendigkeit und auf natürliche Art den Konventionen entkommende
Kunst des endlos fluktuierenden Augenblicks ist ihm künstlerisches
Ideal als allgemeines Schaffensprinzip, denn eine Nachahmung
spezifischer Züge des Vorbilds strebt er nicht an, vielmehr
meidet er bewußt jede stilistische Analogie, wo sie ihm offenkundig
zu werden scheint. So hatte Dutilleux am Anfang seiner kompositorischen
Laufbahn einige stilistische Errungenschaften, die ihm durch Glück,
Begabung und Fleiß in die Hände fielen, wieder abzustreifen.
Zu seinen musikalischen Vätern gehörten Maurice Ravel,
Paul Dukas und vor allem Albert Roussel. Dies hatte besondere Gründe.
Henri Dutilleux wurde am 22. Januar 1916 in Angers sozusagen in
eine Umgebung künstlerischen Adels hineingeboren. Constant
Dutilleux, sein Urgroßvater väterlicherseits, hatte als
Maler und Lithograph in enger freundschaftlicher Verbindung mit
Eugène Delacroix und Camille Corot gestanden. Julien Koszul,
sein Großvater mütterlicherseits, ein mit Gabriel Fauré
befreundeter Organist und angesehener Konservatoriumsdirektor in
Roubaix, hatte die immense Begabung seines Schülers Albert
Roussel entdeckt und riet dem Offizier zur See, zu demissionieren
und sein Leben in den Dienst des Komponierens zu stellen. So brachte
er Frankreichs später bedeutendsten Symphoniker dazu, an sich
zu glauben, noch bevor dieser seine handwerklichen Fähigkeiten
ausgebildet hatte. Roussel war Koszul zeitlebens dankbar für
die weitblickende Förderung. Henri Dutilleux besitzt einige
Briefe Faurés und Roussels an seinen Großvater. Solches
Milieu war natürlich im höchsten Maße einem musikalischen
Werdegang zuträglich. Schon während der Oberschule gab
ihm Victor Gallois am Konservatorium von Douai Klavier-, Kontrapunkt-
und Harmonielehrestunden. 1933-38 studierte er am Pariser Konservatorium,
wo der national-konservative Henri Büsser sein Kompositionslehrer
war. Fruchtbarer gestaltete sich der Musikgeschichtsunterricht bei
Maurice Emmanuel, der starkes Interesse an außereuropäischer
Musik hatte und mit exotischen Modi experimentierte. Dutilleux fühlte
sich in der geistigen Enge des tradierten Musikbetriebs unwohl.
Gleichwohl schloß er sich keiner jener Gruppen an, die gegen
bestehende ästhetische Begrenzungen vorgingen und neue Leitideen
proklamierten wie etwa "Les Six" um Darius Milhaud und
Arthur Honegger. Am nächsten stand er noch "Jeune France"
durch den intensiven Austausch mit André Jolivet. Im dritten
Anlauf wurde ihm 1938 der Prix de Rome verliehen, die begehrteste,
mit einem vierjährigen Studienaufenthalt in der Villa Medici
verbundene Auszeichnung für Kompositionsabsolventen des Konservatoriums.
Doch nach wenigen Monaten wurde er zum Kriegsdienst einberufen.
Ab 1944 war Dutilleux als verantwortlicher Leiter der Musikproduktionen
beim Französischen Rundfunk tätig eine Stellung,
die er erst 1963 aufgab, um sich gänzlich dem Komponieren zu
widmen. In den vierziger Jahren schrieb er einige heute noch erfolgreiche
Kammermusikwerke für die Instrumentalwettbewerbe am Pariser
Konservatorium, darunter eine Flötensonatine und eine Oboensonate.
In diesen Kompositionen sieht sich Dutilleux zu sehr unter dem Einfluß
seiner musikalischen Väter und hat sie dementsprechend trotz
der anhaltenden Popularität aus seinem Werkverzeichnis getilgt.
Als sein Opus 1 zählt er die mächtige dreisätzige
Klaviersonate (1946-48), komponiert für seine Frau Geneviève
Joy, die mehr Elemente seiner Eigenart aufweist, vor allem solche
obsessiver und raffiniert koloristischer, figurativer Art. Sein
erstes vollgültiges Werk ist die 1951 vollendete Erste Symphonie,
in der ein deutlicher stilistischer Umbruch zwischen dem ersten
und dem zweiten Satzpaar, die jeweils attacca ineinander übergehen,
stattfindet. Sind in der relativen Geradlinigkeit der ersten zwei
Sätze (Passacaille et Scherzo) noch die Fingerabdrücke
der Roussel-Dukas-Abkunft vernehmlich, so begibt er sich mit den
letzten zwei Sätzen auf fantastischere, metrisch weniger reguläre
Pfade. Insgesamt ist diese Symphonie einer der großen Höhepunkte
französischer Symphonik der klassischen Moderne, neben Roussels
2.-4. Symphonie, der Zweiten von Florent Schmitt, den Symphonien
Jolivets, Honeggers und auch Milhauds. Ist sie in dem dunkel gleißenden,
prachtvoll herben und gelegentlich bedrohlichen Tonfall von eher
stilistisch fusionierender Natur und trägt eigentlich geradezu
Züge eines Reifewerks, so war sie doch für Dutilleux erst
der geeignete Ausgangspunkt, um seine eigene Welt zu erkunden und
von nun an mit jedem neuen Werk substantiell zu erweitern: "In
mir reifte diese fast intuitive Tendenz, ein Thema nicht von Anfang
an in seiner gültigen Gestalt herauszustellen. Es ist eben
keine zyklische Form denn in der zyklischen Form ist das
Thema von Beginn an so gegeben, wie beispielsweise in Debussys Quartett.
In meiner Musik ist es anders: Ich benutze kleine Zellen, die allmählich
entwickelt werden. Ich denke, daß ich dabei aus der Literatur
beeinflußt wurde, von Proust und seiner Idee vom Gedächtnis.
Es ist schwierig zu erklären, aber es ist wichtig, denn seit
meiner Ersten Symphonie hat mich das vordringlich beschäftigt.
Als ich begann, den kreativen Prozeß in dieser Weise zu verfolgen,
war ich mir dessen keineswegs so bewußt. Es wurde mir erst
später klar, und nach und nach machte ich von den dahinter
verborgenen Möglichkeiten Gebrauch."
Die Zweite Symphonie entstand im Auftrag des Boston Symphony Orchestra
in dem langen Zeitraum von 1955 bis 1959. Sie ist wohl das erste
Werk, in dem Dutilleux zu jener charakteristischen Eigenart in der
Wechselwirkung der äußerst divergenten Details und in
der zwar elaboriert verästelten, gleichwohl unmittelbar erfahrbaren
Gesamtform gelangte, die für sein weiteres Schaffen signifikant
ist. Der Titel der Zweiten Symphonie, 'Le double', bezieht sich
auf die Gegenüberstellung des großen Orchesters und eines
kleinen Orchesters aus zwölf Solisten, die vorne auf der Bühne
plaziert sind: "So eine Anordnung impliziert zunächst
das Bild eines Concerto grosso, aber für mich war etwas ganz
anderes wesentliches Strukturprinzip: Es sind zwei Orchester in
einem, das eine als Widerspiegelung des anderen, daher der Titel.
Es ist ein musikalisches Spiel der Spiegelungen und farblichen Kontraste."
Formal, sagt Dutilleux, sei die Erste Symphonie wohl interessanter,
aber die Zweite Symphonie sei in klanglicher Hinsicht anspruchsvoller.
Mit der symphonischen Tradition hat letzteres Werk weit weniger
zu tun. Was bedeutet für Dutilleux der Begriff 'Symphonie',
den er hier letztmals verwendete? "Ist Debussys 'La mer' Programmusik?
'La mer' ist ja keine Symphonie, und zugleich ist es doch eine Symphonie,
in genialster Form." Ist Dutilleux Zweite mit ihrer obsessiven
Motivik, ihrem Erschließen teils wilder, entlegener Regionen
wirklich von geringerem formalen Interesse? "Die thematischen
Elemente erhalten nach und nach ihre definitive Gestalt: Diese definitive
Gestalt ist die Kulmination einer Reihe von Verzerrungen. Am Beginn
jedes Satzes findet sich eine Art Kommentar zu den Motiven, die
im vorhergehenden Satz tätig waren, und die neue Hauptidee
entspringt dieser Metamorphose. Das geht so weiter bis zum Ende
des Werks, wo einige der unterschiedlichen Ideen, die die Symphonie
prägten, zusammentreffen."
In den 'Métaboles', einer Auftragskomposition des Cleveland
Orchestra unter George Szell, ging Dutilleux diesen Weg der Verwandlung
und Vernetzung weiter. Die 'Métaboles' sind in der Klangsprache
teils eng verwandt mit der Zweiten Symphonie, die Gesamtanlage ist
jedoch noch grundlegender von konventionellen Bauprinzipien abgerückt.
Nach den 'Métaboles' wurde Dutilleux vor allem zunehmend
unabhängiger vom französischen Milieu und auch von den
Leitbildern der klassischen Moderne, wenngleich sein Stil nach wie
vor als sehr französisch und in einem sehr großzügigen
Sinn freitonal zu bezeichnen ist. Die Hauptwerke seit Ende der sechziger
Jahre sind das Cellokonzert 'Tout un monde lointain
' (für
Mstislaw Rostropowitsch), das Streichquartett 'Ainsi la nuit', 'Timbres,
espace, mouvement ou ğLa nuit étoilée´' für
Orchester (nach dem Gemälde van Goghs), das Violinkonzert 'Larbre
des songes' (für Isaac Stern), 'Mystère de linstant'
für 24 Streicher, Cimbalom und Schlagzeug (für Paul Sacher)
und das am 9. Oktober 1997 in Boston uraufgeführte Orchesterwerk
'The Shadows of Time'. Am Ende des Jahrhunderts steht Henri Dutilleux
mit relativ wenigen Werken höchster Qualität, allesamt
entstanden in Jahren intensivster Feinarbeit und durchdrungen von
einem freisinnigen Formdenken aufgrund metabolischer Gestaltprinzipien,
als einer der ganz großen, schöpferisch authentischen
Komponisten unserer Zeit da. Erst spät hat man in seiner französischen
Heimat begonnen, diese Leistung zu würdigen. Die großen
Aufträge kamen zunächst aus den USA.
Christoph Schlüren
(aus einem Programmheftbeitrag zu Dutilleuxs 'Métaboles'
für die Münchner Philharmoniker, Januar 1998)
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