Formmysterien des Farbenkomponisten
"Es ist mein Ziel, jedes Werk als lebendiges, organisches Ganzes
entstehen zu lassen, und das ist natürlich unvereinbar mit
den work-in-progress-Ideen einiger meiner Kollegen. Was die spätere
Umarbeitung eines Werks nicht ausschließt: So habe ich zum
Beispiel in 'Timbres, Espace, Mouvement' ein Interlude für
zwölf Celli eingefügt. Dadurch wurde nach vielen Jahren
aus einem Diptychon eine ternäre Form. Und ich glaube, daß
in diesem Fall das Werk an Dichte und Kontur gewonnen hat. Verbesserungen
sind immer möglich.
Wie nun entsteht ein Werk? Das ist ein einziges Mysterium. Der Prozeß
ist jedesmal komplett anders, da durchweg abhängig vom involvierten
Tonmaterial."
Henri Dutilleux
Henri Dutilleux ist ein Freigeist. Die herrschenden Dogmen und Ideologien,
Trends und Gegentrends hat er zwar stets mit regem Interesse verfolgt,
doch seine schöpferische Konzentration folgte immer den entgrenzenden
Tendenzen der auf Synthese ausgerichteten personalstilistischen
Entfaltung. Er bewundert die alten Meister der franko-flämischen
Polyphonie und hat ihre kontrapunktische Feinnervigkeit und Flexibilität
in seine moderne Klangsprache verpflanzt. Er sucht in Bach-Chorälen
Zuflucht und versenkt sich in die Welt der späten Sonaten und
Quartette Beethovens. Bartók und der Strawinskij der 'russischen
Periode' haben nachdrücklich auf seine Klangsprache eingewirkt.
Unter den heute lebenden Komponisten schätzt er den späten
György Ligeti und Witold Lutoslawski besonders hoch. Und unter
seinen französischen Kollegen standen ihm Olivier Messiaen,
Maurice Ohana und besonders sein Schüler Francis Bayer stets
nahe, wogegen er zu Pierre Boulez strikter ästhetischer
Gesinnung auf Distanz ging. Dutilleux sieht sich als "Farbenkomponist",
wobei er in der Entdeckung harmonischer Farben vieles Chopin und
Schumann verdankt und in der Erfahrung instrumentaler Wirkungen
Berlioz. Sein großes Vorbild aber ist Claude Debussy. Dessen
Wendigkeit und auf natürliche Art den Konventionen entkommende
Kunst des endlos fluktuierenden Augenblicks ist ihm künstlerisches
Ideal als allgemeines Schaffensprinzip, denn eine Nachahmung
spezifischer Züge des Vorbilds strebt er nicht an, vielmehr
meidet er bewußt jede stilistische Analogie. So hatte Dutilleux
am Anfang seiner kompositorischen Laufbahn einige stilistische Errungenschaften,
die ihm durch Glück, Begabung und Fleiß in die Hände
fielen, wieder abzustreifen.
Henri Dutilleux wurde am 22. Januar 1916 in Angers sozusagen in
eine Umgebung künstlerischen Adels hineingeboren. Constant
Dutilleux, sein Urgroßvater väterlicherseits, hatte als
Maler und Lithograph in enger freundschaftlicher Verbindung mit
Eugène Delacroix und Camille Corot gestanden. Julien Koszul,
sein Großvater mütterlicherseits, ein mit Gabriel Fauré
befreundeter Organist und angesehener Konservatoriumsdirektor in
Roubaix, hatte die immense Begabung seines Schülers Albert
Roussel entdeckt und brachte Frankreichs später bedeutendsten
Symphoniker dazu, an sich zu glauben, noch bevor dieser seine handwerklichen
Fähigkeiten ausgebildet hatte. Henri Dutilleux besitzt einige
Briefe Faurés und Roussels an seinen Großvater. Solches
Milieu war natürlich im höchsten Maße einem musikalischen
Werdegang zuträglich. 1933-38 studierte er am Pariser Konservatorium,
wo der national-konservative Henri Büsser sein Kompositionslehrer
war. Fruchtbarer gestaltete sich der Musikgeschichtsunterricht bei
Maurice Emmanuel, der starkes Interesse an außereuropäischer
Musik hatte und mit exotischen Modi experimentierte. Dutilleux fühlte
sich in der geistigen Enge des tradierten Musikbetriebs unwohl.
Gleichwohl schloß er sich keiner jener Gruppen an, die gegen
bestehende ästhetische Begrenzungen vorgingen und neue Leitideen
proklamierten wie etwa "Les Six" um Darius Milhaud und
Arthur Honegger. Am nächsten stand er noch "Jeune France"
durch den intensiven Austausch mit André Jolivet. Im dritten
Anlauf wurde ihm 1938 der Prix de Rome verliehen, die begehrteste,
mit einem vierjährigen Studienaufenthalt in der Villa Medici
verbundene Auszeichnung für Kompositionsabsolventen des Konservatoriums.
Doch nach wenigen Monaten wurde er zum Kriegsdienst einberufen.
Ab 1944 war Dutilleux als verantwortlicher Leiter der Musikproduktionen
beim Französischen Rundfunk tätig eine Stellung,
die er erst 1963 aufgab, um sich gänzlich dem Komponieren zu
widmen. In den vierziger Jahren schrieb er einige heute noch erfolgreiche
Kammermusikwerke für die Instrumentalwettbewerbe am Pariser
Konservatorium, darunter eine Flötensonatine und eine Oboensonate.
In diesen Kompositionen sieht sich Dutilleux zu sehr unter dem Einfluß
seiner musikalischen Väter und hat sie dementsprechend trotz
der anhaltenden Popularität aus seinem Werkverzeichnis getilgt,
desgleichen das klar in der französischen Tradition stehende
Ballett 'Le loup'. Als sein Opus 1 zählt er die mächtige
dreisätzige Klaviersonate (1946-48), komponiert für seine
Frau Geneviève Joy, die mehr Elemente seiner Eigenart aufweist,
vor allem solche obsessiver und raffiniert koloristischer, figurativer
Art. Sein erstes vollgültiges Werk ist die 1951 vollendete
Erste Symphonie, in der ein deutlicher stilistischer Umbruch zwischen
dem ersten und dem zweiten Satzpaar, die jeweils attacca ineinander
übergehen, stattfindet. Sind in der relativen Geradlinigkeit
der ersten zwei Sätze (Passacaille et Scherzo) noch die Fingerabdrücke
der Roussel-Dukas-Abkunft vernehmlich, so begibt er sich mit den
letzten zwei Sätzen auf fantastischere, metrisch weniger reguläre
Pfade. Insgesamt ist diese Symphonie einer der großen Höhepunkte
französischer Symphonik der klassischen Moderne, neben Roussel,
der Zweiten von Florent Schmitt, den Symphonien Jolivets, des Schweizers
Honegger und Milhauds. Ist sie in dem dunkel gleißenden, prachtvoll
herben und gelegentlich bedrohlichen Tonfall von eher stilistisch
fusionierender Natur und trägt eigentlich geradezu Züge
eines Reifewerks, so war sie doch für Dutilleux erst der geeignete
Ausgangspunkt, um seine eigene Welt zu erkunden und von nun an mit
jedem neuen Werk substantiell zu erweitern: "In mir reifte
diese fast intuitive Tendenz, ein Thema nicht von Anfang an in seiner
gültigen Gestalt herauszustellen. Es ist eben keine zyklische
Form denn in der zyklischen Form ist das Thema von Beginn
an so gegeben, wie beispielsweise in Debussys Quartett. In meiner
Musik ist es anders: Ich benutze kleine Zellen, die allmählich
entwickelt werden. Ich denke, daß ich dabei aus der Literatur
beeinflußt wurde, von Proust und seiner Idee vom Gedächtnis.
Es ist schwierig zu erklären, aber es ist wichtig, denn seit
meiner Ersten Symphonie hat mich das vordringlich beschäftigt.
Als ich begann, den kreativen Prozeß in dieser Weise zu verfolgen,
war ich mir dessen keineswegs so bewußt. Es wurde mir erst
später klar, und nach und nach machte ich von den dahinter
verborgenen Möglichkeiten Gebrauch."
Die Zweite Symphonie entstand im Auftrag des Boston Symphony Orchestra
in dem langen Zeitraum von 1955 bis 1959.
Sie ist wohl das erste Werk, in dem
Dutilleux zu jener charakteristischen Eigenart in der Wechselwirkung
der äußerst divergenten Details und in der zwar elaboriert
verästelten, gleichwohl unmittelbar erfahrbaren Gesamtform
gelangte, die für sein weiteres Schaffen signifikant ist. "Es
ist ein musikalisches Spiel der Spiegelungen und farblichen Kontraste."
Was bedeutet für Dutilleux der Begriff 'Symphonie', den er
hier letztmals verwendete? "Ist Debussys 'La mer' Programmusik?
'La mer' ist ja keine 'Symphonie', und zugleich ist es doch eine
Symphonie, in genialster Form."
In den 'Métaboles', einer Auftragskomposition des Cleveland
Orchestra unter George Szell, ging Dutilleux diesen Weg der Verwandlung
und Vernetzung weiter (die beste Aufnahme mit Charles Münch
bei Erato ist leider vergriffen). Die 'Métaboles' sind in
der Klangsprache teils eng verwandt mit der Zweiten Symphonie, die
Gesamtanlage ist jedoch noch grundlegender von konventionellen Bauprinzipien
abgerückt. Nach den 'Métaboles' wurde Dutilleux vor
allem zunehmend unabhängiger vom französischen Milieu
und auch von den Leitbildern der klassischen Moderne, wenngleich
sein Stil nach wie vor als sehr französisch und in einem sehr
großzügigen Sinn freitonal zu bezeichnen ist. "Ich
weiß nichts Genaueres über die Gründe, die mich
dahinführen, wo ich hingehe. Ich glaube, daß in einem
Stil, der in kleinen Schritten heranwächst und sich entwickelt,
Konstanten zu finden sind, wiederkehrende Faktoren, die sich allmählich
als persönliche Merkmale durchsetzen. Diese Konstanten sind
es, die einen Stil bilden und prägen. Das sind beispielsweise
Konstanten in der harmonischen Sprache. Ich meine, daß meine
Sensibilität und Eigenart im Harmonischen größer
ist als im Melodischen. Für mich ist das harmonische Bewußtsein
wesentlich für die Kohärenz der Form. Das ist etwas, worauf
ich immer mit äußerster Sorgfalt achte, und immer ist
so etwas wie eine freitonale Kontinuität in meinen Werken wirksam.
Diese Freitonalität umschließt Modalität, Polytonalität,
Atonalität und Tonalität. Sie ermöglicht deren Koexistenz
und wechselseitige Durchdringung in ein und derselben Form."
Dutilleux Hauptwerke seit Ende der sechziger Jahre sind das
Cellokonzert 'Tout un monde lointain
' (für Mstislaw Rostropowitsch),
das Streichquartett 'Ainsi la nuit', 'Timbres, espace, mouvement
ou ŸLa nuit étoilée´' für Orchester (nach
dem Gemälde van Goghs), das Violinkonzert 'Larbre des
songes' (für Isaac Stern), 'Mystère de linstant'
für 24 Streicher, Cimbalom und Schlagzeug (für Paul Sacher)
und das am 9. Oktober 1997 in Boston uraufgeführte Orchesterwerk
'The Shadows of Time'. Alle diese Kompositionen sind Welten für
sich, die ihren jeweils ganz spezifischen Zugang einfordern, dabei
jedoch den Hörer nicht überfordern, sondern mit jeder
weiteren Annäherung bereichern. Mag er sich auch als "Farbenkomponist"
bezeichnen, so begnügt er sich doch nie mit leeren äußeren
Wirkungen, sondern schafft Substantielles, aus der Versenkung des
inneren Hörens gewachsene Strukturen. Am Ende des Jahrtausends
steht Henri Dutilleux mit relativ wenigen Werken höchster Qualität,
allesamt entstanden in Jahren intensivster Feinarbeit und durchdrungen
von einem freisinnigen Formdenken aufgrund "metabolischer"
Gestaltprinzipien, als einer der ganz großen, schöpferisch
unverwechselbaren Komponisten unserer Zeit da. Dabei hat man, anders
als in den USA, in der Alten Welt und auch in seiner französischen
Heimat erst spät begonnen, diese Leistung angemessen zu würdigen.
Nach der Verleihung des Praemium Imperiale ist der Cannes Classical
Award für sein Lebenswerk eine weitere Genugtuung für
all jene, die sich schon immer für sein Werk eingesetzt haben.
Christoph Schlüren
(Beitrag für Klassik Heute, 1998)
272 Seiten, ca. 100 Notenbeispiele; Ashgate ISBN 1-85928-330-6;
Preis: 35 Pfund Sterling.
Diskographie
1. Sinfonie, 'Timbres, Espace, Mouvement' (1. Fassung); Orch. Nat.
de Lyon, S. Baudo; harmonia mundi France HMT 7905159.
Sinfonien Nr. 1 und 2, Métaboles, 'Timbres, Espace, Mouvement'
(1. Fassung), Mystère de linstant, Les citations, Ainsi
la nuit, Klaviersonate, Figures de résonances für 2
Klaviere, 3 préludes für Klavier,
3 strophes sur le nom de Paul Sacher für Cello Solo, 2 sonnets
de Jean Cassou; M. Bourgue (Oboe), H. Dreyfus (Cembalo), G. Joy,
H. Dutilleux (Klavier), D. Geringas (Cello), G. Cachemaille (Bariton),
Orch. de Paris, Orch. Nat. de France, D. Barenboim,
M. Rostropowitsch; Erato 3 CD 0630-14068-2.
Violinkonzert 'Larbre des songes', Cellokonzert 'Tout un monde
lointain'; P. Amoyal (Vl.), L. Harrell (Vc.), Orch. Nat. de France,
C. Dutoit;
Decca 444398-2.
The Shadows of Time; Boston Symphony, S. Ozawa; Erato 3984-22830-2.
Violinkonzert; I. Stern (Vl.), Orch. Nat. de France, L. Maazel;
Sony 64508.
Le Loup (fragm. symph.); Orch. de la Soc. de Conc. du Conservatoire,
G. Prêtre; EMI 763945-2.
Sinfonien Nr. 1 und 2; BBC Philharmonic, Y. P. Tortelier; Chandos
9194.
Violinkonzert, 'Timbres, Espace, Mouvement, Mouvement' (Neufassung),
2 sonnets de Jean Cassou (orchestr.), Orchestration von Jehan Alains
'Prière pour nous autres charnels'; O. Charlier (Vl.), Martyn
Hill (Tenor), Neal Davies (Bariton), BBC Philharmonic, Y. P. Tortelier;
Chandos 9504.
Cellokonzert, Métaboles, Mystère de linstant;
B. Pergamenschikow (Vc.), BBC Philharmonic, Y. P. Tortelier; Chandos
9565.
Mystère de linstant; Collegium Musicum Zürich,
P. Sacher; Ars Musici 3CD 1155-2 (Paul Sacher und die Neue Musik).
Cellokonzert; M. Rostropowitsch (Vc.), Orch. de Paris, S. Baudo;
EMI 749304-2.
Métaboles; Orch. de lOpéra Bastille, M.-W. Chung;
DG 445878-2.
Ainsi la nuit; Juilliard String Quartet; Sony 52554.
Ainsi la nuit; Arditti Quartett; Auvidis Montaigne 782016.
Klaviersonate; M.-J. Jude; harmonia mundi France HMN 911569.
Klaviersonate; J. Ogdon; EMI 565996-2.
Violinkonzert, 'Timbres, Espace, Mouvement' (Neufassung), Mystère
de linstant; I. van Keulen (Vl.), Bamberger Symph., M. Soustrot;
Koch-Schwann 3-6491-2.
2. Sinfonie, Métaboles, 'Timbres, Espace, Mouvement' (1.
Fassung); Orch. de Paris, S. Bychkov; Philips 438008-2.
3 strophes sur le nom de Paul Sacher; P. Demenga (Vc.); ECM 445234-2.
(Stand 1998)
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