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Portrait Henri Dutilleux

Werkmonographie Henri Dutilleux – His Life and Works

Eine umfassende Studie zu ausgewählten Werken, Hintergründen und Biographie von Caroline Potter

Formmysterien des Farbenkomponisten
"Es ist mein Ziel, jedes Werk als lebendiges, organisches Ganzes entstehen zu lassen, und das ist natürlich unvereinbar mit den work-in-progress-Ideen einiger meiner Kollegen. Was die spätere Umarbeitung eines Werks nicht ausschließt: So habe ich zum Beispiel in 'Timbres, Espace, Mouvement' ein Interlude für zwölf Celli eingefügt. Dadurch wurde nach vielen Jahren aus einem Diptychon eine ternäre Form. Und ich glaube, daß in diesem Fall das Werk an Dichte und Kontur gewonnen hat. Verbesserungen sind immer möglich.
Wie nun entsteht ein Werk? Das ist ein einziges Mysterium. Der Prozeß ist jedesmal komplett anders, da durchweg abhängig vom involvierten Tonmaterial."
Henri Dutilleux
Henri Dutilleux ist ein Freigeist. Die herrschenden Dogmen und Ideologien, Trends und Gegentrends hat er zwar stets mit regem Interesse verfolgt, doch seine schöpferische Konzentration folgte immer den entgrenzenden Tendenzen der auf Synthese ausgerichteten personalstilistischen Entfaltung. Er bewundert die alten Meister der franko-flämischen Polyphonie und hat ihre kontrapunktische Feinnervigkeit und Flexibilität in seine moderne Klangsprache verpflanzt. Er sucht in Bach-Chorälen Zuflucht und versenkt sich in die Welt der späten Sonaten und Quartette Beethovens. Bartók und der Strawinskij der 'russischen Periode' haben nachdrücklich auf seine Klangsprache eingewirkt. Unter den heute lebenden Komponisten schätzt er den späten György Ligeti und Witold Lutoslawski besonders hoch. Und unter seinen französischen Kollegen standen ihm Olivier Messiaen, Maurice Ohana und besonders sein Schüler Francis Bayer stets nahe, wogegen er zu Pierre Boulez’ strikter ästhetischer Gesinnung auf Distanz ging. Dutilleux sieht sich als "Farbenkomponist", wobei er in der Entdeckung harmonischer Farben vieles Chopin und Schumann verdankt und in der Erfahrung instrumentaler Wirkungen Berlioz. Sein großes Vorbild aber ist Claude Debussy. Dessen Wendigkeit und auf natürliche Art den Konventionen entkommende Kunst des endlos fluktuierenden Augenblicks ist ihm künstlerisches Ideal – als allgemeines Schaffensprinzip, denn eine Nachahmung spezifischer Züge des Vorbilds strebt er nicht an, vielmehr meidet er bewußt jede stilistische Analogie. So hatte Dutilleux am Anfang seiner kompositorischen Laufbahn einige stilistische Errungenschaften, die ihm durch Glück, Begabung und Fleiß in die Hände fielen, wieder abzustreifen.
Henri Dutilleux wurde am 22. Januar 1916 in Angers sozusagen in eine Umgebung künstlerischen Adels hineingeboren. Constant Dutilleux, sein Urgroßvater väterlicherseits, hatte als Maler und Lithograph in enger freundschaftlicher Verbindung mit Eugène Delacroix und Camille Corot gestanden. Julien Koszul, sein Großvater mütterlicherseits, ein mit Gabriel Fauré befreundeter Organist und angesehener Konservatoriumsdirektor in Roubaix, hatte die immense Begabung seines Schülers Albert Roussel entdeckt und brachte Frankreichs später bedeutendsten Symphoniker dazu, an sich zu glauben, noch bevor dieser seine handwerklichen Fähigkeiten ausgebildet hatte. Henri Dutilleux besitzt einige Briefe Faurés und Roussels an seinen Großvater. Solches Milieu war natürlich im höchsten Maße einem musikalischen Werdegang zuträglich. 1933-38 studierte er am Pariser Konservatorium, wo der national-konservative Henri Büsser sein Kompositionslehrer war. Fruchtbarer gestaltete sich der Musikgeschichtsunterricht bei Maurice Emmanuel, der starkes Interesse an außereuropäischer Musik hatte und mit exotischen Modi experimentierte. Dutilleux fühlte sich in der geistigen Enge des tradierten Musikbetriebs unwohl. Gleichwohl schloß er sich keiner jener Gruppen an, die gegen bestehende ästhetische Begrenzungen vorgingen und neue Leitideen proklamierten wie etwa "Les Six" um Darius Milhaud und Arthur Honegger. Am nächsten stand er noch "Jeune France" durch den intensiven Austausch mit André Jolivet. Im dritten Anlauf wurde ihm 1938 der Prix de Rome verliehen, die begehrteste, mit einem vierjährigen Studienaufenthalt in der Villa Medici verbundene Auszeichnung für Kompositionsabsolventen des Konservatoriums. Doch nach wenigen Monaten wurde er zum Kriegsdienst einberufen.
Ab 1944 war Dutilleux als verantwortlicher Leiter der Musikproduktionen beim Französischen Rundfunk tätig – eine Stellung, die er erst 1963 aufgab, um sich gänzlich dem Komponieren zu widmen. In den vierziger Jahren schrieb er einige heute noch erfolgreiche Kammermusikwerke für die Instrumentalwettbewerbe am Pariser Konservatorium, darunter eine Flötensonatine und eine Oboensonate. In diesen Kompositionen sieht sich Dutilleux zu sehr unter dem Einfluß seiner musikalischen Väter und hat sie dementsprechend trotz der anhaltenden Popularität aus seinem Werkverzeichnis getilgt, desgleichen das klar in der französischen Tradition stehende Ballett 'Le loup'. Als sein Opus 1 zählt er die mächtige dreisätzige Klaviersonate (1946-48), komponiert für seine Frau Geneviève Joy, die mehr Elemente seiner Eigenart aufweist, vor allem solche obsessiver und raffiniert koloristischer, figurativer Art. Sein erstes vollgültiges Werk ist die 1951 vollendete Erste Symphonie, in der ein deutlicher stilistischer Umbruch zwischen dem ersten und dem zweiten Satzpaar, die jeweils attacca ineinander übergehen, stattfindet. Sind in der relativen Geradlinigkeit der ersten zwei Sätze (Passacaille et Scherzo) noch die Fingerabdrücke der Roussel-Dukas-Abkunft vernehmlich, so begibt er sich mit den letzten zwei Sätzen auf fantastischere, metrisch weniger reguläre Pfade. Insgesamt ist diese Symphonie einer der großen Höhepunkte französischer Symphonik der klassischen Moderne, neben Roussel, der Zweiten von Florent Schmitt, den Symphonien Jolivets, des Schweizers Honegger und Milhauds. Ist sie in dem dunkel gleißenden, prachtvoll herben und gelegentlich bedrohlichen Tonfall von eher stilistisch fusionierender Natur und trägt eigentlich geradezu Züge eines Reifewerks, so war sie doch für Dutilleux erst der geeignete Ausgangspunkt, um seine eigene Welt zu erkunden und von nun an mit jedem neuen Werk substantiell zu erweitern: "In mir reifte diese fast intuitive Tendenz, ein Thema nicht von Anfang an in seiner gültigen Gestalt herauszustellen. Es ist eben keine zyklische Form – denn in der zyklischen Form ist das Thema von Beginn an so gegeben, wie beispielsweise in Debussys Quartett. In meiner Musik ist es anders: Ich benutze kleine Zellen, die allmählich entwickelt werden. Ich denke, daß ich dabei aus der Literatur beeinflußt wurde, von Proust und seiner Idee vom Gedächtnis. Es ist schwierig zu erklären, aber es ist wichtig, denn seit meiner Ersten Symphonie hat mich das vordringlich beschäftigt. Als ich begann, den kreativen Prozeß in dieser Weise zu verfolgen, war ich mir dessen keineswegs so bewußt. Es wurde mir erst später klar, und nach und nach machte ich von den dahinter verborgenen Möglichkeiten Gebrauch."
Die Zweite Symphonie entstand im Auftrag des Boston Symphony Orchestra in dem langen Zeitraum von 1955 bis 1959.

Sie ist wohl das erste Werk, in dem Dutilleux zu jener charakteristischen Eigenart in der Wechselwirkung der äußerst divergenten Details und in der zwar elaboriert verästelten, gleichwohl unmittelbar erfahrbaren Gesamtform gelangte, die für sein weiteres Schaffen signifikant ist. "Es ist ein musikalisches Spiel der Spiegelungen und farblichen Kontraste." Was bedeutet für Dutilleux der Begriff 'Symphonie', den er hier letztmals verwendete? "Ist Debussys 'La mer' Programmusik? 'La mer' ist ja keine 'Symphonie', und zugleich ist es doch eine Symphonie, in genialster Form."
In den 'Métaboles', einer Auftragskomposition des Cleveland Orchestra unter George Szell, ging Dutilleux diesen Weg der Verwandlung und Vernetzung weiter (die beste Aufnahme mit Charles Münch bei Erato ist leider vergriffen). Die 'Métaboles' sind in der Klangsprache teils eng verwandt mit der Zweiten Symphonie, die Gesamtanlage ist jedoch noch grundlegender von konventionellen Bauprinzipien abgerückt. Nach den 'Métaboles' wurde Dutilleux vor allem zunehmend unabhängiger vom französischen Milieu und auch von den Leitbildern der klassischen Moderne, wenngleich sein Stil nach wie vor als sehr französisch und in einem sehr großzügigen Sinn freitonal zu bezeichnen ist. "Ich weiß nichts Genaueres über die Gründe, die mich dahinführen, wo ich hingehe. Ich glaube, daß in einem Stil, der in kleinen Schritten heranwächst und sich entwickelt, Konstanten zu finden sind, wiederkehrende Faktoren, die sich allmählich als persönliche Merkmale durchsetzen. Diese Konstanten sind es, die einen Stil bilden und prägen. Das sind beispielsweise Konstanten in der harmonischen Sprache. Ich meine, daß meine Sensibilität und Eigenart im Harmonischen größer ist als im Melodischen. Für mich ist das harmonische Bewußtsein wesentlich für die Kohärenz der Form. Das ist etwas, worauf ich immer mit äußerster Sorgfalt achte, und immer ist so etwas wie eine freitonale Kontinuität in meinen Werken wirksam. Diese Freitonalität umschließt Modalität, Polytonalität, Atonalität und Tonalität. Sie ermöglicht deren Koexistenz und wechselseitige Durchdringung in ein und derselben Form."
Dutilleux’ Hauptwerke seit Ende der sechziger Jahre sind das Cellokonzert 'Tout un monde lointain…' (für Mstislaw Rostropowitsch), das Streichquartett 'Ainsi la nuit', 'Timbres, espace, mouvement ou ŸLa nuit étoilée´' für Orchester (nach dem Gemälde van Goghs), das Violinkonzert 'L’arbre des songes' (für Isaac Stern), 'Mystère de l’instant' für 24 Streicher, Cimbalom und Schlagzeug (für Paul Sacher) und das am 9. Oktober 1997 in Boston uraufgeführte Orchesterwerk 'The Shadows of Time'. Alle diese Kompositionen sind Welten für sich, die ihren jeweils ganz spezifischen Zugang einfordern, dabei jedoch den Hörer nicht überfordern, sondern mit jeder weiteren Annäherung bereichern. Mag er sich auch als "Farbenkomponist" bezeichnen, so begnügt er sich doch nie mit leeren äußeren Wirkungen, sondern schafft Substantielles, aus der Versenkung des inneren Hörens gewachsene Strukturen. Am Ende des Jahrtausends steht Henri Dutilleux mit relativ wenigen Werken höchster Qualität, allesamt entstanden in Jahren intensivster Feinarbeit und durchdrungen von einem freisinnigen Formdenken aufgrund "metabolischer" Gestaltprinzipien, als einer der ganz großen, schöpferisch unverwechselbaren Komponisten unserer Zeit da. Dabei hat man, anders als in den USA, in der Alten Welt und auch in seiner französischen Heimat erst spät begonnen, diese Leistung angemessen zu würdigen. Nach der Verleihung des Praemium Imperiale ist der Cannes Classical Award für sein Lebenswerk eine weitere Genugtuung für all jene, die sich schon immer für sein Werk eingesetzt haben.

Christoph Schlüren

(Beitrag für Klassik Heute, 1998)

272 Seiten, ca. 100 Notenbeispiele; Ashgate ISBN 1-85928-330-6; Preis: 35 Pfund Sterling.

Diskographie

1. Sinfonie, 'Timbres, Espace, Mouvement' (1. Fassung); Orch. Nat. de Lyon, S. Baudo; harmonia mundi France HMT 7905159.
Sinfonien Nr. 1 und 2, Métaboles, 'Timbres, Espace, Mouvement' (1. Fassung), Mystère de l’instant, Les citations, Ainsi la nuit, Klaviersonate, Figures de résonances für 2 Klaviere, 3 préludes für Klavier,
3 strophes sur le nom de Paul Sacher für Cello Solo, 2 sonnets de Jean Cassou; M. Bourgue (Oboe), H. Dreyfus (Cembalo), G. Joy, H. Dutilleux (Klavier), D. Geringas (Cello), G. Cachemaille (Bariton), Orch. de Paris, Orch. Nat. de France, D. Barenboim,
M. Rostropowitsch; Erato 3 CD 0630-14068-2.
Violinkonzert 'L’arbre des songes', Cellokonzert 'Tout un monde lointain'; P. Amoyal (Vl.), L. Harrell (Vc.), Orch. Nat. de France, C. Dutoit;
Decca 444398-2.
The Shadows of Time; Boston Symphony, S. Ozawa; Erato 3984-22830-2.
Violinkonzert; I. Stern (Vl.), Orch. Nat. de France, L. Maazel; Sony 64508.
Le Loup (fragm. symph.); Orch. de la Soc. de Conc. du Conservatoire, G. Prêtre; EMI 763945-2.
Sinfonien Nr. 1 und 2; BBC Philharmonic, Y. P. Tortelier; Chandos 9194.
Violinkonzert, 'Timbres, Espace, Mouvement, Mouvement' (Neufassung), 2 sonnets de Jean Cassou (orchestr.), Orchestration von Jehan Alains 'Prière pour nous autres charnels'; O. Charlier (Vl.), Martyn Hill (Tenor), Neal Davies (Bariton), BBC Philharmonic, Y. P. Tortelier; Chandos 9504.
Cellokonzert, Métaboles, Mystère de l’instant; B. Pergamenschikow (Vc.), BBC Philharmonic, Y. P. Tortelier; Chandos 9565.
Mystère de l’instant; Collegium Musicum Zürich, P. Sacher; Ars Musici 3CD 1155-2 (Paul Sacher und die Neue Musik).
Cellokonzert; M. Rostropowitsch (Vc.), Orch. de Paris, S. Baudo; EMI 749304-2.
Métaboles; Orch. de l’Opéra Bastille, M.-W. Chung; DG 445878-2.
Ainsi la nuit; Juilliard String Quartet; Sony 52554.
Ainsi la nuit; Arditti Quartett; Auvidis Montaigne 782016.
Klaviersonate; M.-J. Jude; harmonia mundi France HMN 911569.
Klaviersonate; J. Ogdon; EMI 565996-2.
Violinkonzert, 'Timbres, Espace, Mouvement' (Neufassung), Mystère de l’instant; I. van Keulen (Vl.), Bamberger Symph., M. Soustrot; Koch-Schwann 3-6491-2.
2. Sinfonie, Métaboles, 'Timbres, Espace, Mouvement' (1. Fassung); Orch. de Paris, S. Bychkov; Philips 438008-2.
3 strophes sur le nom de Paul Sacher; P. Demenga (Vc.); ECM 445234-2.
(Stand 1998)