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Hofmusiken ferner Galaxien

Portrait George Crumb

"Es ist eigenartig, daß man mit sehr präziser Notation die improvisatorische, frische, unverbrauchte Qualität in der Musik erzielen kann. Meine Musik hatte immer ein wenig von diesem scheinbar Improvisierten."
Der Amerikaner George Crumb ist einer der faszinierendsten Komponisten unserer Zeit. Seine Klangwelt umschließt in suggestiver Weise magisch-mystische Dimensionen. Dabei ist es weniger sein klangliches Vokabular, das von auffallender Neuerungskraft wäre. Einmalig bei Crumb ist seine Art, disparate Elemente zu unerhörter, kohärenter Gestalt zu kombinieren, die oft die Aura des Spontanen und Freien umgibt. Seine Werke haben zugleich rituellen und losgelösten Charakter. Sie halten stets den Bezug zur Stille, die ein wesentliches Moment des Hörerlebnisses ausmacht. Jan de Gaetani berichtete von der unmittelbar bezwingenden Wirkung, die Crumbs Musik auf unterschiedlichste Hörerschichten von Kennern der Moderne bis zu Rockfans ausübe.
Crumb hat sich immer für die klassischen und volkstümlichen Musikstile in aller Welt interessiert, und gewiß zitiert er hier und da etwas aus diesem Vorrat. Vor allem aber ist es ihm gelungen, aufgrund der universellen Basis der spezifischen Stilarten eine Art eigene, imaginäre Folklore oder auch "Hofmusiken ferner Galaxien" zu schaffen, die aus der belebenden, mit dem Unerwarteten spielenden Wirkung des eingangs erwähnten Quasi-improvisando-Elements gespeist werden. Crumb ist ein Symbolist, und das Symbolhafte schlägt sich nicht nur in Titeln wie den Makrokosmos-Zyklen nieder, sondern durchdringt die Struktur bis hin zur Notation, wo in dem Streichquartett "Black Angels" Notensysteme abenteuerlich anschaulich auseinanderdriften und zusammenprallen, wo manche Stücke in Kreis- oder Spiralform zu Papier gebracht sind. Dabei ist die Notation nie willkürlich dekorativ, sondern immer Äquivalent des musikalischen Gestaltungsprozesses, durchaus eine intuitive Stütze für die Interpretation: "Die Notation soll kommunizierendes Element sein, soweit das möglich ist. Die kreisförmig geschriebenen Stücke verlaufen auch musikalisch im Kreise." Nicht zuletzt aus kalligraphischer Sicht sind Crumbs Partituren hochrangige Kunstwerke.
Crumbs Welten haben auch ihre obsessiven Qualitäten, ihre uneingeschränkten Lieben, so zur Poesie Federico García Lorcas, deren vitale Todesschatten – die ihn über sein gesamtes Schaffen begleiten – bei ihm in unendlich variierenden klanglichen Brechungen widerhallen. Die berühmteste seiner Lorca-Vertonungen ist "Ancient Voices of Children" von 1970.
Für George Crumb, geboren 1929 in West Virginia und in einer musikalischen Familie aufgewachsen, ist die Naturerfahrung seiner Kindheit zum Inspirationsquell fürs Leben geworden. Er ist überzeugt, daß seine Musik durchdrungen ist von den Echos davon. So haben ihn auch seit jeher eher naturhafte Tonsprachen angezogen wie jene Bartóks und Debussys, der Naturlaut Mahlers oder die "transzendentale Qualität, das Mystische" bei Ives. Sein wichtigster Lehrer war Ross Lee Finney, der ihm eine exzellente technische Ausbildung zuteil werden ließ, ohne ihn stilistisch zu beeinflußen.

Zu Beginn der sechziger Jahre fand Crumb zu seiner eigenen kompositorischen Aussage: "Seither ist es im Grund ein- und derselbe Stil. Ich gehöre nicht zu den Komponisten, die mit jedem Stück voraussetzungslos neu, unabhängig von jeglicher Tradition sein wollen. Für mich ist das – freilich nur zum Teil! – auch ein kontinuierlicher Prozeß. Denn es kommen Ideen von früher wieder, Lösungen überlagern oder unterscheiden sich. Es sind weiterhin die gleichen Prinzipien wirksam. Aber bei mir ist keine Ideologie am Werk, und keine Angst, die mich bestimmte Dinge meiden läßt."
Crumbs jüngstes Hauptwerk "Quest" für Gitarre und Kammerensemble ist ein Musterfall kompositorischer Ökonomie. Die Zurücknahme der Mittel wirkt nie sparsam, sondern ergibt genau den Freiraum, der jeden Aspekt des Ganzen bewußt erleben läßt. Er sagt, er habe sich "von dem Zeitempfinden in der japanischen Musik inspirieren lassen". Für Crumb ist "in einer gelungenen Form die Absicht, daß sich alles organisch aufeinander bezieht, aufgegangen. Was immer an verschiedenartigen Elementen in der Musik ist, läßt diese als eine Art zusammenfassenden Ausdruck miteinanderwirken. Das ist äußerst kompliziert, auch in rein technischer Hinsicht. Aber die Forderung ist: Sie müssen immer noch eine Form erschaffen, egal in welchem Stil. Und wenn in Ihrem Stil 70 Prozent Eigenanteil dabei sind, ist das ziemlich gut. Es kommen immer Einflüsse von außen mit hinein."

Christoph Schlüren

(Beitrag für Klassik Heute, 1997)

CD-Empfehlungen

Quest, Federico’s Little Songs for Children, Night Music I; Bridge 9069.
Songs, Drones and Refrains of Death, Apparition etc.; Bridge 9028;
Black Angels; Nonesuch/eastwest 7559-79242-2.
Ancient Voices of Children etc.; col legno/Sony WWE 31876.
Madrigals, Makrokosmos III; BIS/Disco-Center 261.
Klavierwerke I: Makrokosmos I etc.; Centaur/Disco-Center 2050.
Klavierwerke II: Makrokosmos II etc.; Centaur/Disco-Center CRC 2080.
11 Echoes of Autumn, 4 Nocturnes, Vox balanae, Dream Sequence; Jecklin/Fono JD 705-2.
An Idyll for the Misbegotten, Vox balanae, Madrigals; New World/Fono 357.
(Stand 1997)