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Schicksalslied und Tarot-Chaconne

Die Filmmusik zur "Roten Violine"

Manch exzellenter Film wird in seiner Wirkung beeinträchtigt durch mittelmäßige Musik. So erregt es immer wieder großes Aufsehen, wenn sich ein bedeutender Komponist darauf einläßt, einen Kinofilm mit Musik auszustatten. Der 1938 in New York geborene John Corigliano, einer von Amerikas herausragenden Tonsetzern, hat bereits zweimal filmisches Geschehen mit seinen visionären Klanggebäuden veredelt: Ken Russells "Altered States" (Der Höllentrip) und "Revolution". Insbesondere die Musik zu "Altered States" mit ihrer schaurigen Atmosphäre war ein großer Erfolg, und Corigliano formte die musikalische Essenz daraus zu dem Orchesterwerk "Three Hallucinations" (1981). Als nun der kanadische Regisseur François Girard, bekanntgeworden mit den "32 Variationen über Glenn Gould", mit dem neuen Filmprojekt "The Red Violin" (Die rote Violine) an ihn herantrat, nahm der wählerische Komponist die Herausforderung an: "Wie hätte ich diesen reizvollen Auftrag ausschlagen können? Eine so interessante Reise, die über fast drei Jahrhunderte geht, beginnend in Cremona, der Heimstätte der größten Geigenbauer der Geschichte? Zudem begrüßte ich das Angebot des Produzenten, zusätzlich ein Konzertstück für Violine und Orchester zu schreiben, das in freier Form auf Themen des Films basiert."
 
Prophezeihung und Wege einer blutgetränkten Geige
Am 26. November läuft "Die rote Violine" in den deutschen Kinos an, in zwei Fassungen: im Originalton mit Untertiteln und auf deutsch. Der Originalton ist mehrsprachig: italienisch, deutsch, französisch, englisch und chinesisch. Die ausgewählten Schauplätze, an denen gedreht wurde, sind Cremona im 17. Jahrhundert, Österreich (eine südtirolische Kloster-Trutzburg und Wien), Oxford, Shanghai und Montréal. Die Geschichte ist so abstrus wie kitschig und wirkungsvoll. Der Geigenbauer Nicolo Bussotti (Carlo Cecchi) ist dabei, sein perfektestes Instrument fertigzustellen. Seiner hochschwangeren Frau Anna (Irene Grazioli), die Angst vor der bevorstehenden Geburt hat, erklärt er, daß die neue Geige für den erwarteten Sohn gedacht ist. Anna bittet die alte Cesca (Anita Laurenzi), ihr die Tarot-Karten zu lesen. Die düsteren Verkündungen Cescas betreffen aber nur zu einem geringen Teil Anna, die bei der Geburt zusammen mit dem Neugeborenen stirbt. In seinem Schmerz lackiert Nicolo die neue Geige mit Annas Blut, und die Prophezeihungen Cescas betreffen – in der Art fluchbeladener Edelsteine – nun nicht mehr Annas Schicksal, sondern die Geige, Trägerin ihres Bluts durch Jahrhunderte und Kontinente. So gerät das Instrument in einer österreichischen Klosterschule in die Hände des hochbegabten zehnjährigen Kaspar Weiss (gespielt von dem jungen Wiener Geiger Christoph Koncz), der in die Hände des exzentrischen Impresarios Poussin (Jean-Lûc Bideau) gegeben wird, welcher ihn mit einem martialischen Übeprogramm für das Vorspiel beim Prinzen Mansfeld trainiert. Der überforderte Knabe fällt im entscheidenden Augenblick tot um. Die Geige wird in der Nähe des Klosters mit ihm begraben, um später Beute von Zigeunern zu werden, die mit ihr durch Europa ziehen. Im englischen Oxford hört der paganinieske Virtuose Frederick Pope (Jason Flemyng) das Zauberinstrument und verzaubert, dank der erotischen Symbiose mit der extravaganten Schriftstellerin Victoria Byrd (Greta Sacchi), sein Publikum im Sheldonian Theatre. Die übersteigerte Romanze endet im Desaster: Die eifersüchtige Victoria zielt mit der Pistole auf ihre Nebenbuhlerin, trifft aber die rote Violine. Pope begeht Selbstmord. Sein Diener nimmt das beschädigte Instrument mit nach China, wo es repariert und von der Mutter der kleinen Xiang Pei gekauft wird. Während der Kulturrevolution werden die Insignien westlicher Kultur, also auch Geigen, verbrannt. Xiang Pei (hinreißend dargestellt von Sylvia Chang), selbst in angesehener Parteiposition, gerät in Bedrängnis und schenkt die rote Violine dem alten Geigenlehrer Chou Yuan, der sie versteckt hält. Als er stirbt, wird seine wertvolle Geigensammlung entdeckt und nach Montréal zur Auktion gegeben, wo der Schätzer Charles Morritz (Samuel Jackson) das berühmte Stück erkennt und in einer absurden Handlungsfolge schließlich im letzten Moment gegen eine Kopie austauscht, die den Höchstpreis erzielt, während Morritz das Original im Taxi nach Hause bringt.
Leider kann der Film nicht verwirklichen, was die Geschichte hergeben könnte. Zu banal ist der Hauptschauplatz, die Gegenwartsszenerie in Montréal, die von Anfang an im Wechsel mit dem Ausgangsgeschehen in Cremona zwischen den Zeiten hin und her pendelt. Zu wenig Zeit wird der sehr authentisch aufbereiteten Atmosphäre im alten Cremona gelassen, um sich überzeugend zu entfalten. Überhaupt: zuviel schlechtes Timing und unbeholfene Schnitte. Die in Reichweite liegenden Klischees werden beim Schopf ergriffen und breitgetreten: Kaspar Weiss eine Art Klein-Mozart, Pope ein dauereregierter Pseudo-Paganini… aber vielleicht kann man ja so junge Leute zur Geige verführen. Die Verknüpfung bleibt oberflächlich. Dabei könnte das Schema mit aufgedeckten Tarotkarten und entsprechend angegliederten Episoden funktionieren, wäre mehr Einfühlungsvermögen am Werk. So aber hat man den Eindruck, daß die einzelnen Geschichten gemäß Plansoll aneinandergeklebt wurden. Deren Niveau ist sehr unterschiedlich. Die aufgegeilte Oxford-Story wirkt recht lächerlich, wogegen sich in Shanghai in glaubwürdig bedrohlichem Klima ein packender Film im Film entwickelt. Höchstes Lob gebührt den musikalischen Synchronisationsleistungen. Joshua Bell spielt – auf seiner Stradivari – die rote Violine im ganzen Film. Die Bemühungen der Schauspieler, ihre Geigerrolle glaubhaft zu machen, sind außergewöhnlich und zeugen von hoher Identifikation, auch wenn die völlige Deckung von Klang und Bewegung nicht erreichbar ist.
 
Filmmusik auf umgekehrtem Wege
Die Musik Coriglianos ist im Film teils grandios eingesetzt (z. B. gleich zu Beginn der "Wald voll Geigen"), teils wirkt sie auch etwas verloren, was sich freilich der Verantwortung des Komponisten entzieht. Das großartigste musikalische Produkt der ganzen Unternehmung, die 18minütige Chaconne für Violine und Orchester, klingt nur im Abspann an. Wieder einmal erweist sich Corigliano als begnadeter Könner von einer verblüffenden stilistischen Spannweite und Treffsicherheit, sei’s Quasi-Vivaldi, klassischer Ton, Improvisation à la Bach, Zigeunerweisen, Paganini-Feuerwerk oder neoromantische Emphase, gipfelnd in der architektonischen Stringenz und expressiven Ereignisdichte der raffiniert orchestrierten Chaconne. Thematisch sind alle Episoden mehr oder weniger deutlich aufeinander bezogen. Corigliano schildert die Entstehung der Musik:
"Ich nahm an, daß ich – wie gewöhnlich bei Filmmusik – die Musik nicht schreiben würde, bevor der Film fertig wäre. In diesem Fall aber mußte ich einige Sequenzen vorher komponieren, die die Schauspieler aufführen. Zuerst schrieb ich Annas Thema: eine sangliche Melodie, die Anna, die Frau des Geigenbauers, summt, bevor sie sich in eine Violinsolomelodie verwandelt.

Als nächstes leitete ich daraus eine unerbittliche siebenstufige Chaconne ab, die das Tarot und die davon ausgehenden Schicksalssignale beschwört. Die verschiedenen Soloetüden für die Virtuosen in Wien und Oxford gewann ich auch aus dem Material von Annas Thema. Danach wartete ich auf die Fertigstellung des Films, um dann die zu unterlegende Musik zu schreiben und diese Musik sodann als Basis für das Konzertstück zu benutzen.
Es kam anders. Die Dreharbeiten, die im Frühsommer 1997 abgeschlossen sein sollten, zogen sich bis Herbstanfang hin. Doch die Aufführungen des Konzertstücks waren für Ende November angesetzt. Folglich baute ich das Konzertstück, die Chaconne, mit den Materialien, die ich bereits hatte: Annas Thema, die Tarot-Chaconne und die Soloetüden – was, wie sich herausstellte, eine gute Sache war: Denn nun hatte ich die Freiheit, und zugleich bestand die Notwendigkeit, dieses Material weitgehender auszuschöpfen als ich es getan hätte, wäre es darum gegangen, eine ganze Stunde unterschiedlicher Musik in einem einzigen, zusammenhängenden Satz zu verdichten. Also bezog die Unterlegung des Films mit Musik, auf merkwürdig umgekehrtem Wege, viel von ihrer Anlage aus dem zuvor komponierten Konzertstück, das auf der Aufnahme von Joshua Bell gespielt wird."
 
Fabelhaft für die Geige
Der 31jährige Joshua Bell wurde soeben für seine Einspielung der Violinkonzerte von Samuel Barber und William Walton sowie Blochs Baal Shem (mit dem Baltimore Symphony Orchestra unter David Zinman) mit dem Gramophone Award für die beste Konzerteinspielung ausgezeichnet (Decca 452 851-2). Seit Ende 1996 nimmt Bell exklusiv für Sony Classical auf: "Mein Wechsel von Decca zu Sony hat sich an diesem Filmprojekt entschieden. Ich wurde von Regisseur Girard um meine Mitwirkung gebeten und präsentierte die Idee Decca. Ein Soundtrack dieser Qualität ist eine Seltenheit. Aber Decca behandelte die Sache nicht mit der erforderlichen Priorität, zu viel war im Weg. Sony dagegen war sofort bereit. Decca jedoch erteilte mir für Sony keine Freigabe, obwohl es gut für meinen Namen gewesen wäre, das zu tun. Also ging ich zu Sony, und die gaben mir einen Exklusivvertrag. Danach stellte sich heraus, daß ich gerade rechtzeitig von Decca weggegangen war, denn weniger als ein Jahr später haben die aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation etliche Exklusivbingungen gelöst."
"The Red Violin" ist nach "Gershwin Fantasy" (SK 60659) Bells zweites Sonyalbum. Bereits eingespielt ist ein vierzigminütiges Violinkonzert von Nicholas Maw. Es folgen mit dem Los Angeles Philharmonic unter Salonen die Konzerte von Sibelius und Goldmark, einige Kammermusikprojekte und eine CD mit dem Kontrabassisten Edgar Meyer, "mit dem ich fünfzehn Jahre lang zur Schule ging. Wir haben viel zusammengespielt. Er macht Crossover im besten Sinne. Wir spielen Stücke von ihm, mit Leuten aus seinem Bluegrass-Milieu, unter ihnen der legendäre Mandolinist Sam Bush, der keine Noten lesen kann. Meyer bringt uns irgendwo in der Mitte zwischen Bluegrass, Klassik und was weiß ich was zusammen."
John Corigliano wurde 1964 mit seiner Sonate für Violine und Klavier, heute einem Klassiker der modernen Virtuosenliteratur, schlagartig bekannt. Zu seinen wichtigsten Werken zählen die gewaltige, den Aids-Opfern gewidmete 1. Sinfonie (1988-89), das Streichquartett von 1995 und die Oper "The Ghosts of Versailles" (1991), die im April ’99 in Hannover auf die Bühne kommt. Bell kannte Coriglianos Musik schon länger: "Ich hatte ihn gebeten, etwas für mich zu schreiben, vielleicht ein Konzert. Doch er hat wenig Zeit und komponiert sehr langsam und nur, wenn er wirklich etwas zu sagen hat. Also war "The Red Violin" die willkommene Gelegenheit. Für die Geige schreibt er fabelhaft, nicht zuletzt, da sein Vater Konzertmeister der New Yorker Philharmoniker war und John in dieser Umgebung aufwuchs. Alles ist ganz natürlich für das Instrument erfunden. Trotzdem war er immer offen für Vorschläge von meiner Seite, es virtuoser zu machen, meine Möglichkeiten noch gezielter zu nutzen. Das war nicht nur eine intensive Herausforderung, es hat mir auch großen Spaß gemacht. Corigliano, der ja früher mal als Produzent für Columbia gearbeitet hat, war richtig in die Aufnahmen involviert. Er weiß genau, worauf es ankommt, besteht auf der richtigen Ausführung, dem richtigen Charakter und kennt jedes Detail. Viele Komponisten merken nicht mal falsche Noten… Er hingegen hat alles unter Kontrolle. Wobei das Einspielen der Filmmusik von vielen konkurrierenden Faktoren abhängt, und der Regisseur hier das erste und das letzte Wort hat. Coriglianos Anliegen ist natürlich, daß es musikalisch sinnvoll ist. Die Filmmusik-Aufnahmen waren eine komplizierte Prozedur, die Dauern mußten absolut exakt stimmen, und einiges wurde in letzter Minute herausgenommen, mußte neu überdacht und teilweise neu geschrieben werden. Auch darin ist Corigliano von bewunderungswürdiger Professionalität. Aber am meisten fasziniert mich seine Fähigkeit, die Form zu beherrschen. Von daher versteht er auch jeden Stil und kann sich frei darin bewegen, ohne den geringsten Makel, egal ob Barock, Klassik oder Virtuosenromantik. Er ist heute einer der wenigen Komponisten auf einem so hohen Niveau. Und wenn er atonale Klänge benutzt, dann geschieht das 'aus tonalen Gründen'. Das geht zurück auf Mahler, auf dessen zerreißende formale Expansion. Tonalität gehört doch dazu, die hält es zusammen. So kommt sein Können mehr noch als in der Filmmusik in der Chaconne zum Tragen, in der Konzentration auf die zusammenhängend erlebte Großform."

Christoph Schlüren

(Original-Manuskript eines Beitrags, der gekürzt
in Klassik Heute erschien)

The Red Violin, Original Motion Picture Soundtrack
Musik: John Corigliano, Joshua Bell (Violine), Philharmonia Orchestra, Esa-Pekka Salonen;
Sony ASK 63010