Berlioz Roméo
et Juliette op. 17
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Erstmals wird hier die 1839 aufgeführte frühe Fassung von "Roméo
et Juliette" präsentiert, indem der später gestrichene
feierliche Prolog zum 3. Teil in einer 1995 entstandenen Orchestration
Oliver Knussens erklingt. Bei den weiteren, teils gravierenden Abweichungen
von der 1846 erstellten Endfassung ist nicht gesichert, ob es sich
wirklich um die Erstfassung oder um im Laufe des Uraufführungsjahres
bereits revidierte Teile handelt. Jedoch ist es für alle Berlioz-Interessenten
höchst aufschlußreich, zu sehen, was der endgültigen
Gestalt voranging. Der sinfonische 2. Teil ("Roméo seul",
"Scène damour" und "La reine Mab")
sowie "Introduction" und "Strophes" des 1. Teils
blieben von Veränderungen verschont, wogegen "Prologue"
und "Scherzetto" des 1. Teils und vor allem "Convoi
funèbre de Juliette" und Finale des 3. Teils weitgreifenden
Umarbeitungen unterzogen wurden. Neben den beiden Originalfassungen
stellt Gardiner auch seine eigene "bevorzugte Version"
vor, die außer zu Anfang des 3. Teils mit der Endfassung übereinstimmt.
Bevorzugt ist Gardiners Version auch insofern, als sie mit der regulären
Trackfolge der beiden CDs übereinstimmt, wogegen die Originalfassungen
spezifisches Anwählen erfordern. Was Gardiner von der Urfassung
nimmt, ist außer dem von Knussen nobel instrumentierten "Deuxième
prologue" (der einzigen Nummer, die später vollständig
herausflog) der "Convoi funèbre", in den ursprünglich
der Requiemtext eingestrickt war. Wahrscheinlich hat Gardiner bei
Letzterem nicht zuletzt deshalb auf die frühe Fassung zurückgegriffen,
weil dort seine exzellenten Soprane mit schönen Figurationen
betraut sind, die in der späteren Fassung von Holzbläsern
ausgeführt werden. In den schnellen Sätzen leidet trotz des schroffen Ansatzes gelegentlich die Deutlichkeit der Artikulation, indem die Streicher zuviel Bogen nehmen, was gleichzeitig den Klang ins Perkussive zerrt. In den drei großen sinfonischen Sätzen des 2. Teils gelingen Gardiner viele schöne, fein ausgetüftelte Details, doch stellt sich selten ein übergreifender Spannungsbogen ein. Seltsam vordergründig wird das Fee-Mab-Scherzo exerziert, und die Längen der "Scène damour" kommen bei der glatten Oberflächenpolitur umso deutlicher zum Vorschein. Um wieviel lebendiger und reicher im Ausdruck war da Charles Münchs Bostoner Darstellung! Der an "Alter Musik" geschulte Chor klingt klar und brillant, gleichzeitig auch sehr distanziert in der in sich beharrenden, nicht weiterführenden Artikulation. Trennschärfe und Vibratominimierung sind Kennzeichen des Orchesterklangs. Die Gesangssolisten leisten Ansprechendes. Wie bezugslos Klänge in den Raum gestellt werden können, kann man exemplarisch an den durch Pausen getrennten Fermate-Akkorden in "Roméo au tombeau des Capulets" hören. Zurück bleibt ein äußerst zwiespältiger Eindruck: Was Gardiner bewußt anstrebt, erreicht er meist mit beeindruckender Konsequenz; anderes aber bleibt ausgeklammert. Das Klangbild ist sehr präzise und weitgefächert. Christoph Schlüren (Rezension für Klassik Heute) Philips 454454-2 (2CD/136'/1995) |