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John Tavener

"The Protecting Veil" für Violoncello und Streichorchester (1987) Tönende Ikonen, demütige Gebete

"In einer Zeit unmittelbarer Bedrohung Griechenlands durch die herannahenden Sarazenen erblickten der 'heilige Narr' Andreas und sein Jünger Epiphanios während einer Nachtwache die Mutter Gottes. Sie schwebte hoch über ihnen in der Luft, umgeben von einer Schar Heiliger. Inbrünstig betend breitete sie ihren Schleier als schützendes Dach über die Christen. Ermutigt aufgrund dieser Vision, widerstanden die Christen dem Überfall und trieben das Sarazenenheer zurück. Zur Feier dieses Ereignisses wird von der orthodoxen Kirche das 'Fest des schützenden Schleiers' begangen."

John Tavener zu 'The Protecting Veil'

John Tavener ist, und hierin steht er dem Esten Arvo Pärt nahe, mit jeder Faser seines Schaffens ein liturgisch ausgerichteter Ritualist. Ein starker Zug ins Ritualistische hat seit den siebziger Jahren unter Englands Komponisten immer mehr zugenommen, man denke nur an die jüngeren von Pärt unmittelbar beeinflußten Komponisten wie Ivan Moody oder auch den Iren Piers Hellawell, an die wohlklingende Einfachheit von Gavin Bryars und in einer trivialeren Weise die Greenaway-Filmmusiken Michael Nymans. Hier spielen New-Age-Moden eine fördernde Rolle. Mit kommerziell abgefederten Trends hatten die Pioniere einer neuen Reinheit der Tonkunst, asketischen Wohlklangs wie Pärt, Górecki, Alan Hovhaness, Erkki Salmenhaara oder Georgs Pelecis freilich kaum etwas im Sinn – unter ihnen John Tavener, der mit dem Übertritt zur griechisch-orthodoxen Kirche im Jahr 1976 seine "geistige Heimat" fand. Fast alle seine seither entstandenen Werke, gleich ob vokal oder instrumental, umkreisen in mehr oder weniger streng eingebetteter Weise die religiöse Thematik.

John Kenneth Tavener, geboren am 28. Januar 1944 in London, zeigte als Absolvent der Londoner Highgate School beträchtliche pianistische Begabung und studierte an der Royal Academy of Music Komposition bei Lennox Berkeley (einem Britten nahestehenden Klassiker der neueren englischen Musik) und dem Australier David Lumsdaine. Ersterem dürfte er einige Grundlagen seiner außerordentlichen technischen Meisterschaft verdanken, letzterem eine vorbehaltlose Offenheit unorthodoxen Einflüssen gegenüber. Zu jener Zeit waren die Musik Strawinskijs, vor allem dessen sakrale Kompositionen, und von Olivier Messiaen von besonderer Bedeutung für seine Entwicklung. Breitere Bekanntheit erlangte der

 

Dreiundzwanzigjährige mit der Uraufführung seiner dramatischen Kantate 'The Whale' und bald darauf 'In alium' und 'Celtic Requiem'. Später folgten wichtige Werke wie 'Ultimos ritos', 'Liturgy of St. John Chrisostom', 'Akhmatova: Requiem', 'Funeral Ikos' und viele kleinere, bei den englischen Chören beliebte Stücke, die seinen Ruf als führender Komponist orthodoxer Kirchenmusik festigten.

Immer mehr drängte Taveners Tonsprache zur Abstreifung unwesentlichen Beiwerks, zur Entsagung gegenüber den Möglichkeiten von Komplexität und Experiment, zur Entpersönlichung des Ausdrucks durch Vereinfachung und Reduktion auf Konsonanz und Stabilität, leicht faßliche, deutliche Gliederung und festgefügte, klare Formen. Er stellte sein tonsetzerisches Vermögen vollständig in den Dienst spirituellen Strebens. Mit der Annahme des griechisch-orthodoxen Glaubens ging er diesen Weg konsequent weiter. Seine Kompositionen sind tönende Ikonen, demütige Gebete. Die klanglichen Errungenschaften sind nur soweit von Nutzen, als sie den religiösen Impetus tragen und verstärken helfen. Dissonanz, chromatische Melodieführung, komplexe Kontrapunktik und Rhythmik, grelle und triviale Farben sind der Eindeutigkeit der Botschaft eher abträglich und daher weitgehend ausgeschlossen. Sie eignen sich allenfalls für die drastische Darstellung der negativen Mächte. Zu den wenigen Feldern, deren Spannweite zur Gänze ausgeschöpft wird, gehören der Tonhöhenumfang und die Dynamik. Auch klangfarblich steht im Rahmen des zu wahrenden Schönklangs ein reiches Spektrum an Übergängen und Gegensätzen zur Verfügung.

Seit Ende der siebziger Jahre schrieb Tavener zunächst ausschließlich Vokalmusik, doch den größten Erfolg brachte ihm die Prom-Première seiner Musik für Cello und Streichorchester 'The Protecting Veil' mit Steven Isserlis. Seither hat Tavener auch wieder verstärkt die Instrumentalmusik gepflegt, nunmehr durchdrungen von liturgischer Symbolik. Unter seinen Werken der letzten zehn Jahre fanden vor allem 'Akathist of Thanksgiving' und die Icon-opera 'Mary of Egypt' enthusiastische Aufnahme.

Christoph Schlüren

[aus dem Einführungstext für Salzburger Festspiele, 1998]