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Ulrich Stranz

Die Streichquartette

Die vier Streichquartette von Ulrich Stranz, denen zwei kindliche und ein jugendlicher Versuch vorangegangen waren, entstanden zwischen 1976 und 2000. Sie sind somit nicht nur das Erfüllen eines Feldes, in welchem sich der Komponist als professioneller Streicher naturgemäß am meisten zu Hause fühlen kann, also eine im Technisch-Tonlichen idiomsichere Angelegenheit, sondern auch, ähnlich seinem großen Leitbild Béla Bartók ("Den Wegen zwischen strenger Konstruktion und natürlichem Tonfall, die er gebahnt hat, versuche ich auf meine Art wenigstens ein Stückchen weit zu folgen."), eine Art klingende Biographie in wesentlichen Stationen (wobei zwischen dem Zweiten und Dritten Quartett eine Lücke von zwölf Jahren klafft).

Erstes Streichquartett (1976)

"Als übriggebliebenes Endglied einer kleinen Reihe schon längst aus der Werkliste gestrichener Quartettversuche entstand mein Erstes Streichquartett im Jahre 1976. Seine Viersätzigkeit hat wenig gemein mit dem klassischen Formschema, zielt aber doch auf Rundung durch Balance von Kontrasten ab. Seinerzeit wurde das Werk der sogenannten Neuen Einfachheit zugerechnet." (Stranz 1999)

Das Erste Streichquartett ist, was den Gebrauch avancierter klanglicher Mittel betrifft, eindeutig Stranz’ 'avantgardistischster' Gattungsbeitrag. Von der polnischen Musik der sechziger Jahre angeregte Aleatorik ist ebenso wesentlich wie verschiedenste, teils sehr raffinierte Verfremdungstechniken des Klangcharakters, die in ihrer keineswegs dem Effekt als Selbstzweck huldigenden, sondern vielmehr stets ausdrucksadäquaten Motivation von intimster praktischer Kenntnis der Streichinstrumente zeugen. Fraglos ist hier die Erfahrung aus der Gruppenimprovisation eingeflossen, wozu die Grenzen des Notierbaren, zumal was fragile Übergänge und gezielte Non-Synchronisation betrifft, ausgelotet werden. Über weite Strecken kann so bei idealer Ausführung der Eindruck einer neuerlichen Improvisation entstehen, die freilich nun in eine verbindlichere Form gebracht ist. Je mehr improvvisando etwas wirken soll, desto minutiöser muß meistens die Notation sein (eine Tatsache, die beispielsweise schon in Partituren George Enescus ablesbar ist). Das Erste Quartett ist in vier durch Pausen voneinander getrennte Sätze gegliedert, wobei der dritte Satz nur ein knapp hingehauchtes Verbindungsglied der ihn umgebenden Sätze ist. Der Kopfsatz beginnt mit der leeren None g-a, der im Cello das vermittelnde d entgegentritt. Aus dem d wird unter intensivem Ringen allmählich ein lamentos aufbegehrendes Melos gewonnen. Die Melodik entsteht aus der Kollision klanglicher Statik. Am Schluß bleibt im Cello fis, die Wechselnote zu g, übrig, um der anfänglichen None g-a zu weichen.

Der zweite Satz lebt stark von heftig kontrastierenden klanglichen Ereignissen, unter welchen der dreimal wiederkehrende repetitive Akkord c-f-h als statisches Prinzip und zugleich als unumgängliches Attraktionsfeld wirkt, welches die zentrifugalen Tendenzen bündelt. Hier kann eindeutig von 'Klangsatz' die Rede sein, welcher mit Aleatorik, Glissandi, Flageoletts, rhythmischen Gesten ohne Melos und verharrenden Tonhöhen arbeitet und ins Fortissimo treibend wie ein Fragezeichen abreißt. Der dritte Satz beginnt wie eine Fortführung des zweiten, die Halbton-'Melodik' in den drei weitmaschig vibrierenden Oberstimmen wird grundiert vom unregelmäßigen Pizzicato auf f des Cellos. Die ins Nichts decrescendierende Wiederholung des ersten Abschnitts unterstreicht den statischen Charakter. Im zweiten Teil reißt die Struktur auf, die Gegenüberstellung ist mit dynamischem Kontrast verbunden, ein verminderter Dreiklang rutscht ab und erlischt im Tremolo. Im Finale trifft das ornamentische Grundmelos mit kleiner Amplitude auf heterophonische Kräuselungen, mündet in einen bei rhythmischer Verschleierung obsessiv wiederholten g-e-dis-Akkord, und die angestaute Spannung löst in sich in minimalistisch zerklüftete Heteropolyphonie. Heterophoner 'Klangsatz' und widerspenstig verharrende Akkordik bilden scharfe Gegensätzlichkeiten aus, die schließlich im trillernden Flautando der alleinbleibenden Bratsche jeder greifbaren Struktur entweichen. Spukhaft kehrt die heterophone Welt zurück, ein letztes Ringen ums Melos führt ins beschließende fortissimo-E.

Das Auftragwerk des Saarländischen Rundfunks wurde am 29. Mai 1976 in der Musikhochschule Saarbrücken durch das Czapary-Trio und Helmut Haag (2. Violine) uraufgeführt.

Zweites Streichquartett (1980-81)

"Einen Schritt hin auf eine ganz andere Diktion bedeutete für mich mein Zweites Streichquartett. 'Stimmführung', kontrapunktische Momente versus Homophonie, Rückgewinnung der Tonalität… solche Stichworte kommen mir dazu in den Sinn. Nichtsdestotrotz dürfte diese von 1980/81 stammende Musik aufgrund ihrer Anlage in einem einzigen, fast episch ausladenden Satz nicht ganz leicht zu verdauen sein." (Stranz 1999)

Das Zweite Streichquartett ist ein ambitionierter Einsätzer, methodisch sehr konzentriert und im Detail äußerst raffiniert und verspielt, in Klang und Charakter viel lichtdurchfluteter als das Vorgängerwerk. Aleatorik findet sich hier, vier Jahre nach dem Ersten Quartett, keine mehr, dabei ist das heterophone Geflecht streckenweise von noch größerer Mannigfaltigkeit. Aus dem anfänglichen Zentralton as, der das Werk auch knapp entträumend beschließt, wird spielerisch 'heterorhythmisch' die Melodik geboren. Als erste melodische Zelle entsteht dabei die kleine Terz, das dominierende Intervall des Werks (auch große Terz und Quinte spielen eine besondere Rolle). Motive mit geradezu klassischem Gestus stellen sich ein im fremden Umfeld, durchbrochener 'Espressivo-Satz' mit Auflösungserscheinungen in Richtung 'Klangsatz', immer wieder gerettet von markanter Motivik und Cantabile-Wendungen. Die genauere Beschreibung müßte sich in einer Fülle von Details, in einem Mikrokosmos der Einzelereignisse verlieren, denn hier ist nicht mehr jene recht klare Gegenüberstellung struktureller und klanglicher Mittel gegeben, wie sie noch im Ersten Quartett vorherrschte. Es ist ein rhapsodisches Werk, eine Art naturhaft verrätselter Tondichtung, geheimnisvoll, ein Märchen in Tönen, dessen Dramatik auch in der Konfrontation von melodischer Egalität und solistisch eindeutig proklamierter Tonalität, im Verdämmern, Tasten, Bedrohtsein, Neuansetzen und Stehenbleiben, in der Integration von Klangversatzstücken, eigendynamischen Arpeggien, repetitiven Wirbeln, Ballungen, Sonorismen, Zersetzungen und Verebben besteht – nicht die Mittel und ihre kalkulative Verknüpfung sind hier das Bestechendste, sondern die intuitiv assoziative Feder des Komponisten, der nicht nur Mannigfaltigstes auf engstem Raum vereint, sondern auch über größere Distanzen scheinbar unvereinbare Triebe in lebendige Wechselwirkung zueinander zu bringen vermag.

 

Als Auftragswerk des Westdeutschen Rundfunks wurde das Zweite Streichquartett am 19. März 1981 im Kleinen Sendesaal des Funkhauses Köln zusammen mit dem Ersten Streichquartett von Peter Michael Hamel durch das rumänische Orfeu-Streichquartett uraufgeführt.

Drittes Streichquartett (1993)

"Als Geburtstagsständchen für einen Freund schrieb ich 1991 einen kleinen Quartettsatz, in den unter anderem ein 'Zwiefacher' eingeschlossen war, eine besondere Erscheinungsform der bayerischen Volksmusik mit Wechsel zwischen geradem und ungeradem Takt. Durch Überarbeitung mit erheblicher Erweiterung im Jahr 1993 geriet diese Partitur dann zu meinem Dritten Streichquartett, einem nach wie vor kompakten Einsätzer divertimentohaften Charakters." (Stranz 1999)

Dieses Werk ist um den Zwiefachen und die damit verbundene 'alpenländische Kadenz' I-V-V-I herum entstanden, ist also eine Projektion dieser urtümlichen zusammenhängenden Klangfolge in den erweiterten Tonraum hinaus und wirkt nun umgekehrt so, als sei der Zwiefache einem bereits vorhandenen Gewebe organisch einverleibt worden. Hier erleben wir Stranz bei dem riskanten Spiel mit dem Banalen. In wievielen Varianten, Andeutungen, Verfremdungen und fernen Allsuionen das traditionelle Ausgangsmaterial anklingt! Nur einmal, kurz nach dem Beginn, erscheint es unüberhörbar in originaler Gestalt, um kurz vor dem Ende in der Sologeige quasi als versöhnendes Echo wiederzukehren, womit natürlich auch eine eindeutige Reprise-Wirkung erzielt wird. Am Anfang stehen Kleinterzmelos, harmonische Statik versus melodische Mobilität. Mit einem Mal ist das musikantische Spiel in Gang gebracht, und los geht’s! Das Vertraute setzt sich eigendynamisch im fremden Kontext durch, blitzt auch schon in der verhaltensten Andeutung vernehmbar auf, gerät in zärtliche und motorische Wechselfälle – mit welcher natürlichen Behendigkeit das heterogene Material verknüpft ist! Das hat nichts zu tun mit Collage im herkömmlichen Sinne, die wesensfremden Elemente durchdringen und umschlingen einander, immer wieder wird das durchbrochene, tendenziell statische Geflecht mit musikantischem Leben durchsetzt. Die rhythmischen Spielereien entfachen strukturelles Potential. Einfachheit im Detail geht Hand in Hand mit Komplexität des Verlaufs. Gelegentlich bricht ein stets latent vorhandener Allegro-Charakter elementar durch. Unverhohlen ist die Sympathie mit dem Dur-Dreiklang. Am Schluß überwiegt Wohlklangfreude die versiegende Dynamik der Linie.

Stranz’ Drittes Streichquartett wurde anläßlich der Frankfurt-Feste am 15. September 1994 im Hindemith-Saal der Alten Oper, Frankfurt am Main, durch das Buchberger-Quartett uraufgeführt.

Viertes Streichquartett (1998-2000)

"Obwohl ich mich schon vor Monaten kurz vor Abschluß der Arbeit zu sehen glaubte, ist das Opus bis jetzt noch nicht fertiggestellt. Der Grund dafür liegt in meiner Unschlüssigkeit bezüglich der Form. Nachdem ich zuerst viel Heterogenes in einem Satz zusammenzufassen versucht hatte, sieht der aktuelle Arbeitsplan fünf bis sieben voneinander abgetrennte Episoden vor." (Stranz, 1999)

Letztlich sollte Stranz’ Viertes Streichquartett, entstanden im Lauf von drei Jahren, aus drei Sätzen bestehen, deren zweiter ein kurzes Interludium zwischen zwei massiven Ecksätzen ist. Stranz kehrt hier insofern partiell zur Welt seines Ersten Streichquartetts zurück, als die Gegensätzlichkeiten klanglicher und struktureller Natur weitgehend entflochten sind und als opponierende Abschnitte aufeinanderprallen, nunmehr aber im Lichte der langen Erfahrungen mit der befreiten Tonalität und deren klarer Formung. Auch ist die Klangwelt schroffer und massiver als in den zwei vorausgegangenen Quartetten. Der erste Satz hebt an als vehemente Mixtur aus Marsch und Tanz, zackig, eckig, hüpfend, beharrend aber beschwingt, durchaus penetrant in punktiertem Rhythmus und Harmonik und zunächst völlig unkontrapunktisch. Den extremen Gegensatz bildet ein sphärischer, zuerst sul tasto zu spielender, dann handgreiflich werdender Halbe-Noten-Abschnitt, der zerfasert und in um Dauertöne orientierten, zersprengten 'Klangsatz' umschlägt. Versuchen, den Anfangscharakter wieder durchzusetzen, eine klare Struktur zu etablieren, folgt zunächst überraschend eine humoristisch-totentanzhafte Komponente mit dem aufs Holz geklopften Hauptrhythmus. Melisch-klangsatzmäßig durchsetzt kehrt endlich der Anfangscharakter zurück und zerfällt. Die pianissimo-Schlußfläche verschwindet im Nichts. Der zweite Satz entwickelt sich aus anfänglichen d-cis- und ges-as-Einwänden zu einem heterophonen Gewebe in der Art einer imaginären Folklore, in äußerst zartem melismatischen Satz, knapp, unter der Oberfläche explosiv, und endet mit einem ins Leere crescendierenden heterophonen Muster.

Das Finale ist der am disparatesten konstruierte Satz. Zu Beginn sempre fortissimo, in doppelgriffiger Klangdichte und enger melodischer Bewegung in isometrisch gekoppeltem Kontrapunkt, liefert einen in sich verharrenden, schwer beweglichen Gesamteindruck. Abriß, zerbrochenes Geflecht, Stillstand, und Neuansatz, doch wieder reißt es ab. Wie soll es weitergehen? Über Stock und Stein, immer jagender, überspannter, unwirtlicher, perkussiver, kurzatmiger in der Gestik bei gemäßigter harmonischer Progression. Fragezeichen-Gesten, denen ein lyrisch differenzierter Neuansatz (mit oktavparallel geführten Geigen) folgt, der in eine statische Obsession umkippt. Wohin? Das Cello trägt mit der aufsteigenden Linie d-es-e alleine über die Untiefen hinweg, die nun eintretenden drei Oberstimmen erwirken mit einem doppelgriffig isometrischen Geflecht pianissimo eine Art erlösender Reprise-Wirkung. Schließlich tritt das Cello wieder hinzu und führt mit dem Changieren zwischen des und c das Ende herbei – welches der Bratsche allein (c-des) überlassen ist, einer unerwarteten Öffnung gleich.

Das Vierte Streichquartett von Ulrich Stranz wurde als Auftragswerk der KölnMusik am 11. Juni 2000 im Rahmen der Musik-Triennale Köln durch das Minguet Quartett uraufgeführt.

Christoph Schlüren

[Einführungen zu Telos CD, 2002]