< RARE MUSIC STARTSEITE

Sergej Rachmaninov

4. Klavierkonzert g-moll op. 40 (1926) – Subtile Meisterschaft

"Jedes Stück ist um einen Höhepunkt herum aufgebaut: Die ganze Flut von Tönen muß so bemessen sein, Inhalt und Kraft jedes Klangs so deutlich abgestuft werden, daß der Höhepunkt mit dem größten Anschein der Natürlichkeit erreicht wird… Dieser Moment muß eintreten wie das Klicken und Sprühen des zerreißenden Zielbandes am Ende eines Rennens. Es muß wie die Befreiung vor dem letzten materiellen Hindernis wirken, die letzte Schranke zwischen der Wahrheit und ihrer Formulierung überwinden."

Sergej Rachmaninov

Die ersten Skizzen zu Sergej Rachmaninovs Viertem Klavierkonzert stammen noch aus der Zeit, bevor er 1917 seine russische Heimat verließ. Nach der längsten seiner verzweifelt fruchtlosen Phasen als Komponist, die von 1919 bis 1925 dauerte, begann er im Januar 1926 mit der Arbeit an dem neuen Konzert, das in New York angefangen und in der Dresdner Villa 'Weißer Hirsch' im August desselben Jahres beendet wurde. Während dieser Zeit pausierte Rachmaninov als Konzertpianist völlig, was auch mit einer Handverletzung zusammenhing.

Am 8. September 1926 schrieb er an seinen Komponisten-Freund Nikolai Medtner: "Gerade bevor wir Dresden verließen, erhielt ich noch die kopierte Klavierpartitur meines neuen Konzertes. Ich sah den Umfang – 110 Seiten – und war entsetzt! Aus purer Feigheit hatte ich seine Dauer bisher nicht überprüft. Man wird es wie den "Ring" aufführen müssen: an verschiedenen Abenden nacheinander. Und ich erinnerte mich sogleich meiner eitlen Rede Dir gegenüber bezüglich Länge und der Notwendigkeit, sich kurz zu fassen, zu komprimieren und nicht geschwätzig zu sein. Wie beschämt war ich! Offensichtlich liegt die ganze Schwierigkeit im dritten Satz. Was habe ich da übereinandergetürmt! Ich habe bereits begonnen, mögliche Kürzungen ausfindig zu machen. Eine fand ich, aber nur acht Takte lang, und ganz nebenbei im ersten Satz, der ja nicht erschreckend lang ist. Und ich 'sehe', daß das Orchester fast nie schweigt, was ich als eine große Sünde ansehe. Das bedeutet, daß es nicht ein Klavierkonzert ist, sondern ein Konzert für Klavier und Orchester.

Außerdem muß ich feststellen, daß das Thema des zweiten Satzes dasjenige des ersten Satzes aus dem Schumann-Konzert ist. Wie kommt es, daß Du mich darauf nicht aufmerksam machtest?"

Nach elf Jahren schloß Rachmaninov die Revision ab. Was nun die tatsächliche Länge betrifft, so sollten sich Rachmaninovs Befürchtungen als völlig übersteigert herausstellen. Im Gegenteil: Das Vierte ist das kürzeste Klavierkonzert, das er geschrieben hat. Es mag sein, daß seine Zweifel an der formalen Schlüssigkeit des doch sehr rhapsodisch angelegten Finales ihre Berechtigung haben. Die thematische Verwandtschaft mit Schumann hingegen stört überhaupt nicht. Auch stecken in der ständigen Wiederholung bei Rachmaninov ganz andere Qualitäten als in Robert Schumanns manischer Themenobsession. Zwar wird in beiden Fällen die thematische Gleichförmigkeit durch harmonische Reichtümer, durch unerwartete Modulationen gerechtfertigt, doch ist Rachmaninovs Tonfall mehr auf klangliche Wirkung, auch auf starke Momentwirkung der extravertierten und introvertierten Verläufe hin konzipiert, die sich dann auch auf Tempomodifikationen und sublime Farb- und Beleuchtungswechsel auswirkt.

 

Das Konzert wurde am 18. März 1927 in Philadelphia mit dem Komponisten am Klavier, begleitet vom Philadelphia Orchestra unter Leopold Stokowski, uraufgeführt. Die Kritiken fielen zurückhaltend bis verächtlich aus, und bis heute ist das Vierte Klavierkonzert das am wenigsten populäre von Rachmaninov geblieben, was sicher nicht zuallerletzt mit der sehr heiklen rhythmischen Faktur des Orchestersatzes zusammenhängt. Durch den sich auch später wiederholenden Mißerfolg wurde Rachmaninov in eine weitere schöpferische Krise gestürzt. Dabei ist es ein echtes Virtuosenkonzert, ein nur unerschrockenen Könnern angemessenes Brevier, das extreme Vielseitigkeit pianistischer Errungenschaft und musikalischen Ausdrucksvermögens einfordert. Rachmaninov sah sich als genuin russischer Komponist, und doch – den Tschaikowskij-Einfluß unbenommen – ist seine Sprache hier unverkennbar von kosmopolitischer Erfahrung durchdrungen, bis hin zu französisch-impressionistischen Momenten, ja zu leichten Jazz-Anklängen im Schlußsatz. Vielleicht ist es die schillernde Finesse und Vielschichtigkeit des Gewebes, die elaboriert stilisierte Eleganz, die den allzu eingängigen 'großen Zug' und damit den großen Durchbruch zur Popularität der Vorgängerwerke verhindert. Manche Kenner halten dieses Konzert für seinen wertvollsten Gattungsbeitrag.

Schon die Gestaltung des ganzen Anfangs des ersten Satzes freilich gibt Aufschluß darüber, warum dieses Reifewerk unverstanden blieb. Das plötzliche, schnell eintretende Sich-Verlieren in der Introversion, nachdem es doch so zupackend und brillant begonnen hat, und die ebenso unvermittelte Wiederaufnahme des Anfangsgestus sind von einer individualistisch verfeinerten Expressivität getragen, die entlegene Empfindungspfade beschreitet, die dem Allgemeinverständlichen doch eher fern liegen. Von einigen plakativeren Episoden im Finale abgesehen (wenn beispielsweise die Thematik des ersten Satzes wieder in den Vordergrund tritt) ist es hier eine subtile Meisterschaft, die durch Details und Gesamtform trägt. Rachmaninov war nicht daran interessiert, einem äußeren Effektbedürfnis seiner Zuhörer Rechnung zu tragen. Das ergab sich von selbst dank des betörenden Klaviersatzes und der eindringlichen Melodik, auch des klaren Formbewußtseins, aber da diese Wirkung seiner Naturbegabung und nicht seiner Berechnung entsprang, konnte sie auch ausbleiben, wenn andere Qualitäten der Empfindung bestimmend wurden. Rachmaninov war ein bekennender Künstler: "Gott verdanke ich die Gaben, die ich erhalten habe, Gott allein. Ohne ihn bin ich nichts."

Christoph Schlüren

[Einführungstext für Konzerthaus Wien, 1998]