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Arvo Pärt

Silouan’s Song (my soul yearns after the Lord…)

Der 1935 in Paide geborene Este Arvo Pärt wurde in den letzten Jahren weltberühmt als Kultkomponist einer neuen, archaisierenden Einfachheit. Als Schüler des bedeutenden Romantikers Heino Eller bewies Pärt Anfang der sechziger Jahre zunächst hohe Begabung als passionierter, experimentierlustiger Avantgardist, der mit technischer Radikalität und später mit glänzenden Collagen internationales Aufsehen erregte. Doch Pärt suchte etwas anderes. Mit seiner 1971 entstandenen dritten Symphonie schuf er ein Monument modern aufbereiteten Neo-Archaismus in effektiv feierlichem Orchestergewand. Seine Suche ging in der Stille weiter, und Mitte der siebziger Jahre hatte er den Tintinnabuli-Stil gefunden, an dem er seither festhält wie einst Orff an seinen Entdeckungen. 'Tintinnabuli' heißt Glöckchenklingeln. Ein Dreiklang ist das Reinheits-Referenzsystem für eine ganze Komposition oder wenigstens einen Abschnitt derselben, und so ist die Idee harmonischer Entwicklung hinfällig: Töne dieses Dreiklangs sind ständig präsent und vergegenwärtigen das Unveränderliche, aufgrund dessen alles Veränderliche stattfindet. Ein ganz neues Spiel von Kon- und Dissonanz entsteht, die Zusammenstöße finden nicht auf der gleichen Ebene statt. Das Tintinnabuli gleicht einer getönten Brille, und jede andere Farbe wird nur in ihrer Durchdringung mit der Grundtönung sichtbar. Tintinnabuli garantiert die Schönheit der Dissonanz, hat die Funktion prästabilierter Harmonie, schließt in seiner Unablenkbarkeit emotionalen Exzeß aus.

 

Das kurze Streichorchesterwerk 'Silouan's Song' hat Pärt 1991 vollendet. Die Faktur ist extrem einfach und reduziert. Im Rhythmischen herrscht absolute Homophonie. Die Tintinnabuli-Stimmen intonieren ausschließlich die drei Töne des f-moll-Dreiklangs (f-as-c), was dem Stück den Ausdruck kontinuierlicher Introversion verleiht. Quasi bezugslos zur Tintinnabuli-Ebene schreiten die melodisch freien Stimmen langsam kleine Räume ab, die den Umfang einer Quinte nicht übertreten. Der aeolische Modus gestattet keinen einzigen leiterfremden Ton. Alle Phrasen sind durch Generalpausen voneinander abgesetzt. Kurz nach dem Höhepunkt, der plötzlich einen Registerumfang von über fünf Oktaven nutzt und damit machtvoll aus der zurückhaltenden Umgebung herausragt, endet der Satz fast lakonisch mit einer Wendung zur Subdominante b-moll.

Christoph Schlüren

[Einführungstext für Konzert des Ostrobothnian Chamber Orchestra, München 1997]