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Colin Matthews – Flexible Phantastik

"…through the glass" für 16 Instrumentalisten (1994)

"Meine Musik gehört wohl zum Mainstream, ohne daß sie konservativ wäre. Die Einflüsse sind mehr europäischer als britischer Herkunft, wobei ich nicht auf bestimmte Verfahren festgelegt bin, was die Gestaltung von Klangfarbe, Form, Harmonie und Linienführung betrifft. Jedes Werk verlangt einen anderen, spezifischen Zugang."

Colin Matthews

Der 1946 in London geborene Colin Matthews verfügt wie sein gleichfalls als Komponist in hohem Ansehen stehender Bruder David – beide arbeiteten, in verschiedenen Projekten, mit Benjamin Britten zusammen – über einen ungewöhnlich breiten praktischen Bildungshorizont. Colin Matthews studierte Komposition bei Arnold Whittall und Nicholas Maw. Er assistierte Deryck Cooke bei der Erstellung der Aufführungsfassung der Skizzen zu Gustav Mahlers Zehnter Sinfonie und war Mitherausgeber der Gustav Holst-Werkausgabe. Als umworbener Plattenproduzent gründete er das heute wichtigste Label für zeitgenössische Musik Großbritanniens, NMC. Bei dem weiten Tätigkeitsfeld ist es nicht verwunderlich, daß seine stilistische Bandbreite enorm ist. Doch ist er keineswegs ein Stilpluralist, sondern verschmilzt in stets neuer Weise unterschiedlichste Ansätze zu einheitlicher Gestalt. Matthews’ technische Meisterschaft ist außergewöhnlich, besonders was die instrumentatorische Feinabstimmung betrifft. Die Schichtung und Überlagerung verschiedener Satzebenen führt oft zu sehr komplex organisierten Formen, deren konturscharfe Konstruktionselemente in organisch zusammenhängender Weise vernetzt sind. Die Konfrontation von sehr einfachen Mitteln (so immer wieder jene gleichmäßig pochenden Rhythmen) mit komplizierten Verfahren mag zunächst einen virtuellen Eindruck machen, doch sie erfährt aus dem Gesamtprozeß heraus ihre Plausibilität. In Matthews’ frühen Stücken Mitte der siebziger Jahre war der Einfluß minimalistischer Patterns offenkundig, wich jedoch zunehmend einer flexiblen Phantastik in der Verknüpfung heterogener Artikulationen, wie sie seinen letzten Werken eignet.

 

 

Reflektorisch gebrochene Struktur

"'…through the glass' entstand zwischen März und September 1994, und dauert ungefähr 16 Minuten in einem einzigen großen, überwiegend in langsamer Bewegung gehaltenen Bogen. Der Beginn ist eine heftig akzentuierte Monodie (einstimmige Melodie). Nach einer Folge Refrain-artiger Episoden, deren letzte einen verhaltenen 'Choral' (eigentlich mehr ein ferner Gesang als ein Choral!) der gedämpften Streicher bringt, wird der Anfang wiederaufgegriffen. Der schnelle Mittelteil spielt flüchtig auf das gesamte vorangegangene Material an. Dann führt die Wiederaufnahme der Refrains zur Apotheose des 'Choral' in einer ausgedehnten Coda. '…through the glass' ist Sally Cavender gewidmet. Der Titel des Werks ist dem Schluß eines Gedichts von Edmund Blunden entnommen. Es wäre jedoch irreführend, dieses dunkle, unheilerfüllte Gedicht komplett zu zitieren. Der Titel kam mir übrigens – wie das so bei Namen üblich ist – erst im Laufe der Niederschrift. Er gefiel mir aus verschiedenen Gründen – darunter war das Bild von etwas, das hinter Glas sichtbar wird, unerreichbar, womöglich reflektorisch gebrochen aufscheint."

Colin Matthews, 1994

Christoph Schlüren

[Einführungstext für Salzburger Festspiele, 1998]