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George Enescu: Symphonie de chambre
op. 33 (1954)

Zerfasernde Aufladung der Linie – Die letzte Etappe

Im Juli 1954 erlitt George Enescu einen schweren Schlaganfall, der ihn halbseitig gelähmt zurückließ. Er war zu diesem Zeitpunkt mit der abschließenden Überarbeitung seiner am 28. Mai desselben Jahres unter Widmungsträger Fernand Oubradous in seinem Beisein in Paris uraufgeführten Symphonie de chambre op. 33 für zwölf Instrumente beschäftigt, und nun mußte der ihm treu ergebene Marcel Mihalovici Hand an die Partitur legen, um nach dem Diktat des hilflosen alten Mannes letzte Ergänzungen vorzunehmen. Dieser Rückschlag läutete die letzte Phase im Leben des bedeutendsten rumänischen Komponisten und Geigers ein, dessen Äußerung kurz vor seinem Tod in der Nacht vom 3. auf den 4. Mai 1955 gegenüber Mihalovici allen Freunden seine Verzweiflung vor Augen führte und legendär wurde: "Wenn ich alles zu Papier bringen könnte, was sich in meinem Kopf bewegt, würde ich Hunderte von Jahren benötigen." Das wird vor allem dann verständlich, wenn man weiß, wie pedantisch Enescu in späten Jahren seine Werke wieder und wieder überarbeitete. Allein sein Hauptwerk, die Oper 'Œdipe', eine lyrische Tragödie in vier Akten, kostete ihn ungefähr 25 Jahre schöpferischer Prozedur. So blieb diese Kammersymphonie die letzte Etappe einer immer gründlicher, immer besessener die einzelnen Schritte überprüfenden kompositorischen Reise.

Kometenhafter Aufstieg

George Enescu wurde am 19. August 1881 (nach dem damals im Bereich der orthodoxen Kirche gültigen julianischen Kalender am 7. August) in dem Dorf Liveni-Virnav im moldawischen Teil Rumäniens geboren. Er war kein "Bauernkind", womit er später gern kokettierte, und entstammte einem gebildeten und auf das Emporkommen seines Zöglings bedachten Elternhaus, zumal er als das jüngste von zwölf Kindern das einzige war, das keiner tödlichen Krankheit zum Opfer fiel. Sein Vater sang, dirigierte einen Chor und spielte Violine, die Mutter spielte Gitarre und Klavier. Vor allem mit der Kirchenmusik, die in Rumänien mehr mit den byzantinischen und griechischen als mit den russischen Wurzeln verflochten ist, kam er früh in Berührung, und er behielt ein lebenslanges Interesse daran bei. Sein Onkel, der Pater Ioan Enescu, war ein berühmter Kantor. Der Vierjährige Gheorghe (so die ursprüngliche Schreibweise) begann mit dem Violinspiel und erhielt Unterricht von einem Zigeuner. Als er fünfjährig das Notenlesen und Klavierspiel lernte, begann er sofort zu komponieren. Er imitierte die klassischen Formen, die er nun kennenlernte, und hatte als Siebenjähriger auf der Geige solche Fortschritte gemacht, daß ihn Eduard Caudella, der Direktor des Konservatoriums in Iasi, gar nicht erst als Schüler annahm, sondern sofort an das Wiener Konservatorium zu Joseph Hellmesberger empfahl. Dort geriet er in den Bann der Musik von Johannes Brahms, der ihn nie mehr völlig loslassen sollte. Er war bei der privaten Uraufführung des Klarinettenquintetts zugegen und spielte unter dem Meister in dessen Erster Symphonie und dem ersten Klavierkonzert mit. Zugleich setzte er sich begierig dem Einfluß der Wagnerianer aus, deren führende Repräsentanten Hans Richter und Felix Mottl waren - auch dieses Element blieb ihm für immer eingraviert: "Wagner ist der Überwältigendste unter den Komponisten. Gewisse Wagnerische Chromatizismen sind mir in Fleisch und Blut übergegangen seit meinem neunten Lebensjahr; sie zu verleugnen wäre das gleiche wie ein Körperteil zu amputieren." Seit seinem elften Lebensjahr stieg sein Ruhm als Geiger kometenhaft, um schließlich einer der ganz großen Musiker seiner Generation zu werden: nicht nur auf der Violine, sondern auch als Pianist, Komponist, Dirigent und Pädagoge (sein berühmtester Violinschüler ist Yehudi Menuhin). Sein Kompositionslehrer in Wien war Robert Fuchs, der ihm ein gediegenes Handwerk beibrachte.

1894 wechselte Enescu ans Pariser Konservatorium, wo sein Kompositionslehrer zunächst Jules Massenet war. Ein Andantino aus einer Orchestersuite von 1896 trägt starke Brahmsische Züge, die allerdings mit einer französischen Eleganz in der Orchestration umkleidet sind. Er schrieb vier "Studiensymphonien", deren erste er in späten Jahren noch mochte - die vierte offenbart vollendete Handhabung der klassischen Form und besticht mit ununterbrochenem Ideenfluß und brillanter Orchesterbehandlung, was an die frühen Meisterwerke von Mendelssohn, Arriaga oder Bizet denken läßt. Die Einflüsse sind unüberhörbar in der klassizistischen Umgebung: der polyphonische Schwung und die übermütige Begeisterung von Strauss fanden hier ebenso ihren Niederschlag wie die motivische Strenge und lyrische Introvertiertheit von Brahms, Beethovenscher Kontrapunkt in der Durchführung oder Dvorák-Reminiszenzen im Scherzo. Das kurz zuvor entstandene Rumänische Poem op.1, mit dem er seinen ersten großen Erfolg als Komponist feiern konnte, ist ein pathetisches, großflächiges Nationalgemälde voller Wohlklang mit einem Anfang, der von Mendelssohns Hebriden-Thema durchdrungen ist.

Nach Massenet waren der phantasiestiftende Gabriel Fauré und der unerbittliche Fugenpapst André Gédalge seine Lehrer. Beide haben ihn entscheidend geprägt. Mit dem vierzigminütigen Streicheroktett op. 7 von 1900 bewies Enescu endgültig, daß in ihm ein origineller Komponist ersten Ranges herangereift war: es ist unergründlich, wie dieses konsequent um immer wiederkehrendes Material errichtete Werk in all seiner unnachgiebigen motivischen und imitatorischen Gebundenheit von solchem Elan durchströmt sein konnte. Die Brahmsische Solidität ist ebenso präsent wie der folkloristische, tänzerische wie phantasierende Überschwang. Alles ist in Balance gehalten, nie erlahmt es, immer reißt es mit: ein wahrer Geniewurf.

Die Fasern der Zentralstimme

Wie die anderen Meisterwerke Enescus ist das Oktett relativ unbekannt geblieben, wurde doch sein gesamtes restliches Schaffen ironischerweise in den Schatten gestellt vom Erfolg der beiden Rumänischen Rhapsodien op. 11. Das sind natürlich effektvolle, brillant gearbeitete Stücke, jedoch rein episodisch geformt als Aneinanderreihungen mehr oder weniger ergiebiger Melodien. Der Siegeszug dieser Koloritnummern nimmt sich fast tragisch aus, wenn man bedenkt, daß gerade Enescu später die Fähigkeit organischer Motiventfaltung, -verflechtung und -transformation zu schwindelerregender Höhe gesteigert hat. Eine Neigung, die schon in der ersten Symphonie, einer impulsiven Sturm-und-Drang-Verdichtung, erkennbar ist, doch ungleich stärker konnte sie sich neun Jahre später in der zweiten Symphonie manifestieren. Dort tritt zu der von Strauss inspirierten, sich ständig selbst befruchtenden, weitschweifenden Polyphonie eine heterophone Kraft hinzu: die Einzelstimmen fächern sich auf im vielstimmigen Satz, werden fragiler Verzweigung unterzogen, am überzeugendsten im atmosphärischen langsamen Satz. Die dritte Symphonie, vier Jahre danach abgeschlossen, knüpft im sehr Straussischen ersten Satz daran an, zielt jedoch im langsamen Finale mit Vocalise-Chor (das sich zur Konzert-Kopplung mit Debussys Trois Nocturnes anbietet wie kein anderes Werk) in eine unerhört neue Richtung, die in der Oper 'Œdipe' und den orchestralen Spätwerken wie dem ebenfalls

 

 

 

über weite Strecke mit Vocalise-Chor operierenden symphonischen Gedicht 'Vox maris', der Ouverture über volkstümliche rumänische Themen und der dritten Orchestersuite ('Suite villageoise', vor allem den langsamen Teilen daraus) in einer Vollendung und Verfeinerung weiterbeschritten wurde, die unter den Komponisten dieses Jahrhunderts einmalig ist. Immer weniger interessierte Enescu da der Ausbau der überlieferten Form der realen Mehrstimmigkeit, und immer mehr konzentrierte er sich auf den Gehalt einer einzigen zentralen Linie, auf deren adäquate Ausschmückung und kostbare Einrichtung, deren quasi-polyphonische Aufladung: die Heterophonie, deren natürliche Ursprünge ihm aus der rumänischen Volksmusik seit jeher vertraut waren, brachte Enescu in einer Art zur Blüte, die man als das Ablauschen der Aura der Hauptstimme bezeichnen könnte. Der ganze Satz ist durchdrungen von den Fasern der zentralen Stimme, und damit eigentlich, höchst vielgestaltig, von dieser selbst, ihre Aspekte widerspiegelnd. In der vollendetsten und sparsamsten Form ist dies vielleicht tatsächlich in zwei quasi-monodischen Sätzen aus der 'Suite villageoise' gelungen, und überhaupt fand Enescu damit endlich zu einer angemessenen Verarbeitung der volksmusikalischen Charaktere, so auch in der dritten Violinsonate oder der dritten Klaviersonate. Er kultivierte eine Art maximaler Passivität bei hoher polyphoner und chromatischer Dichte. Öfter geriet er dabei in die Nähe impressionistischer Klanglichkeit, doch war bei ihm immer die lineare Triebkraft und melische Spannung maßgebend und nicht das stillstehende Auskosten sich selbst genügender köstlicher Detailwirkungen. Der große Geiger, der wie kaum ein anderer die weitschauende melodische Perspektive der Bachschen Solowerke zu verwirklichen verstand und sich auf keine agogischen Kurzsichtigkeiten einließ, blieb da immer in ihm wach.

Dor und der ordnende Geist

Die eigenartige Stimmung, die von Enescus Musik stets ausgeht, geht fundamental auf die heimatlichen moldawischen Wurzeln zurück, auf jenen Empfindungskern, den Enescu als "Traurigkeit inmitten von Freude" beschrieb, als "unbestimmte, aber aufs Tiefste bewegende Sehnsucht". Dafür steht der Begriff "dor", der mit Umschreibungen wie nostalgisch, kummervoll oder träumerisch nur teilweise erfaßt werden kann. In den Doinas, langsamen und kummererfüllten rumänischen Weisen, spricht sich das am direktesten aus, und immer wieder zog diese affektbeladene Ausdruckswelt Enescu magisch an. (Weitere Ausführungen hierzu liefert die hilfreiche englischsprachige Biographie 'George Enescu - his life and music' von Noel Malcolm, erschienen bei Toccata Press, 15 Mantilla Road, GB-London SW17 8DY). In diesem nie starr konturierten Rahmen konnte er sein Bestes geben, sich authentisch ausdrücken, indem er die Klarheit der Klassizität mit dem Quasi improvisando seiner angestammten Innenwelt durchwob: dann war der ordnende Geist von "dor" durchdrungen, und er fand zu sich selbst. Technische Lösungen interessierten ihn nicht, und seine Heterophonie war wohl nichts anderes als der Versuch, den symphonischen Linien jenen unfaßlichen Ausdrucksreichtum, jenes farbig schimmernde Moment, letztlich aber: jenen Empfindungskern zu verleihen, jenes "dor", das von frühester Zeit an in ihm mitschwang.

Verschlungener Organismus

Auch die Vervollkommnung der elaborierten Polyphonie trieb Enescu weiter und brachte es darin im zweiten Streichquartett am weitesten. Von diesem ausgehend kann man wohl die Stellung der Kammersymphonie, seines letzten vollendeten Werks, verstehen, das ansonsten eine in seinem Schaffen einzigartige Stellung einnimmt. Wie diejenige seines zweiten Streichquartetts reicht auch die Entstehungsgeschichte von Enescus Kammersymphonie zurück in seine Jugend. Um die Jahrhundertwende plante er ein Bläserseptett, das dann, wahrscheinlich zugunsten des monumentalen Streicheroktetts, nicht weiter ausgeführt wurde. Doch das einleitende Thema trug er ein halbes Jahrhundert lang mit sich, um es dann kaum verändert als Anfang des Hauptthemas der Kammersymphonie zu verwenden. Diese war zunächst in reiner Streicherbesetzung vorgesehen, was anhand der Satzfaktur kaum mehr nachvollziehbar ist, sind doch insgesamt die verschiedenen Bläser, gerade auch in ihrer sinnfälligen Alternanz und Trennschärfe, natürlich auch aufgrund der Überzahl und dynamischen Überlegenheit, mehr die Entwicklung tragend als die Streicher oder das Klavier. Die zwölf involvierten Instrumente sind: Flöte, Oboe, Englischhorn, Klarinette, Fagott, Horn, Trompete, Violine, Viola, Violoncello, Kontrabaß und Klavier. Das Werk ist, äußerlich gesehen, viersätzig:

I Molto moderato, un poco maestoso

II Allegretto molto moderato

III Adagio

IV Allegro molto moderato

Für den Übergang vom ersten zum zweiten Satz gibt Enescu ungefähr zwanzig Sekunden des Abwartens vor dem neuen Einsatz an. Den dritten Satz trennt vom zweiten nur eine atmende Achtelpause am Ende eines Rallentando, und das Finale geht einfach aus dem Adagio hervor. Thematisch sind alle Sätze ineinander verschlungen. Das anfangs vorgestellte Hauptthema taucht nicht nur im ersten Satz rekapitulierend nochmals auf, sondern auch im zweiten und vierten Satz in direkter Form, und zudem ständig in verwandelter Form, wie alle Themen und Nebenthemen dieses Werks: Reinformen, unterschiedlichste Abwandlungen und Kombinationen, selbständig agierende Motivteile sind immerfort im Umlauf. Das Hauptmotiv des zweiten Satzes kündigt sich in der Schlußphase des ersten Satzes an, die Thematik des Finales führt die Trompete in den Accelerando-Schluß des Adagios ein und nimmt sie entschlossen hinüber in das neue Tempo. Der zweite Satz, ein Scherzo, ist ein verschleierter Variationssatz, dessen letzte Variation eigentlich das nachfolgende Adagio ist. Gewiß kann man auch Elemente von Sonaten- und Rondoform in dem unkonventionellen Werk auffinden, doch jeder solche Analyseansatz mußte am Wesentlichen weit vorbeizielen, indem er dem eine klassische Formpsychologie überstülpte, was seiner Veranlagung nach fluktuierend und dem Formwillen nach auf den Gesamtumriß der vier Sätze als einer organischen Ganzheit hingearbeitet ist. Eine zentrale

Stellung nehmen dabei die Wiederauftritte des Hauptthemas ein, die den inneren Zusammenhalt der Sätze nicht nur symbolisieren und deren Position nie beliebig gewählt ist. Die Kammersymphonie, Enescus Vermächtnis, ist sicher sein "modernstes" symphonisches Werk - modern im zeitlosen Sinne.

Christoph Schlüren

(Einführungstext für Konzerthaus Wien 1996)