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Sir Harrison Birtwistle

"The Triumph of Time" für großes Orchester (1971/72)
Musikalisches Dorngestrüpp

"Komponieren ist Zusehen, wie Dinge in dramatische Gegenüberstellung gebracht werden können in einer Landschaft der Intuition.

Im Wesentlichen beschäftige ich mich mit Wiederholung, indem ich wieder und wieder das gleiche Ereignis von verschiedenen Zugangsseiten aus passiere und so ein multidimensionales Ganzes schaffe, ein Ganzes, das sowohl Widersprüche als auch Perspektiven umfaßt. Ich schaffe keine lineare, zielorientierte Musik, sondern bewege mich in Kreisen – oder, um genauer zu sein, in konzentrischen Kreisen.

Wenn ich diese kontrapunktischen Ostinati kreiere, eines über das andere schichte, fühle ich mich wie ein Maurer, der Trockenmauern hochzieht. Wenn diese Leute einen Stein in die Hand nehmen, finden sie immer einen Platz dafür in der Mauer. Keiner wird weggeworfen. Bei mir ist es ähnlich. Mein Material entsteht durch Zufallsoperationen, meist Zahlenspiele. Ich nehme das erste, was sich anbietet, und finde den geeigneten Platz dafür. Wenn ich so einen gewissen Zusammenhang geschaffen habe, generiere ich mehr Material, und allmählich wächst das Stück heran. Sobald ich mich bewege, sobald ich eine Geste mache und mich zu einer anderen bewege, entsteht eine verzweigte Situation. Dinge, die ich zunächst keineswegs vermutet hätte, treten auf den Plan. Denen bin ich jetzt aber verpflichtet. Die sind sehr zeugungskräftig. Von nun an enthüllt sich die Form von selbst."

Harrison Birtwistle

Harrison Birtwistle, 1934 in Accrington geboren, war zunächst Klarinettist. Er komponierte von Anfang an eine Musik, die "völlig anders als alles andere war". Den eigentlichen Anstoß, Komponist zu werden, gab ihm Messiaens Turangalîla-Symphonie. Mit den Komponisten Alexander Goehr und Peter Maxwell Davies, dem Pianisten John Ogdon und dem Trompeter und Dirigenten Elgar Howarth schloß er sich zur Manchester New Music Group zusammen. Als Komponist trat er 1959 mit dem Bläserquintett 'Refrains and Choruses' hervor, und das auf Formalismen der griechischen Tragödie errichtete Ensemblestück 'Tragoedia' machte 1965 seinen Namen schlagartig zu einem Begriff. Strawinskij, Varèse und Messiaen dürfen neben Konstruktionsprinzipien von mittelalterlicher und Renaissance-Musik als seine Haupteinflüsse gelten, ohne daß dies der Musik anzuhören wäre: Diese ist in ihrer gestisch-labyrinthischen, dorngestrüpphaften, sich um Contenance, Eleganz und gediegenen Ausdruck nicht kümmernden Radikalität, in ihrer Unbehauenheit ohne Vorfahren. Glatt läuft hier gar nichts. Abenteuerreisen auf verwachsenen Pfaden darf der Hörer beispielsweise im 1984 entstandenen, halbstündig auf ihn einstürzenden Ensembleritual 'Secret Theatre' bestehen, und wie nebenbei setzt ihn der Komponist seiner ins Aggressive gewendeten Melancholie aus. Schöpferische Leitbilder sind für ihn Paul Klee und Picasso. Für einen britischen Komponisten ist Birtwistles internationale Reputation derzeit singulär. Er wurde mit lukrativen Kompositionsaufträgen und hochdotierten Preisen überhäuft, so 1986 dem Grawemeyer Award und 1995 dem Ernst-von-Siemens-Musikpreis.

 

Kondukt auf Irrfahrt

'The Triumph of Time' wurde von dem gleichnamigen, allegorischen Kupferstich Pieter Brueghels d. Ä. inspiriert, der eine schaurige Prozession darstellt, wo hintereinander die Zeit – die gerade dabei ist, ein Kind zu verschlingen – auf einem Karren, der Tod auf einer dürren Mähre und der Ruhm – die Trompete blasend – hoch auf dem Elefanten vorüberziehen. Die assoziationsbeladenen Symbolebenen des Bildes formte Birtwistle kongenial zu einem großen Adagio-'Processional' mit einander wechselseitig beleuchtenden Hinter-, Mittel- und Vordergrund-Welten. Dabei kehren nur zwei Elemente offenkundig wahrnehmbar wieder. Das eine ist eine Englischhornklage, eine dreimal mit Abwandlungen auftretende, chromatisch getönte Aulodie (Symbol der zyklischen Zeit, die nach dem gewaltigen Höhepunkt wie unberührt wiederkehrt). Das andere ist die immer wieder in unregelmäßigen Abständen vordergründige Knotenpunkte artikulierende es-g-d-Tetrachordphrase des Sopransaxophons (Symbol der linearen Zeit nach menschlichem Maß), ein hell aufscheinendes, faßliches Signal in einer nach unergründlichem Maß voranschreitenden Prozession, deren innere, in der Transzendenz alles Veränderlichen verankerte Logik rätselhaft bleiben muß. Formal an der zyklischen Zeit orientiert, will 'The Triumph of Time' ein Bild aus einer symbolhaft verschlüsselten Welt evozieren, die in ihrer Gesamtheit jenseits jeglicher Erfahrbarkeit stattfindet. Dort liegt kein Himmelreich begraben. Was bleibt gleich im Triumph der Zeit? Birtwistles düsteres 'Stirb und Werde!' ist die stetige Andeutung eines Kondukts auf Irrfahrt.

Christoph Schlüren

(Einführungstext für Salzburger Festspiele 1998)