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Über "historische Aufführungspraxis"

Zweischneidiges Schwert

In früheren Epochen der abendländischen Musikgeschichte kannten die Musiker weder die Beschäftigung mit vergangenen Stilen noch gar mit exotischer Musik. Wenn überhaupt, dann übertrug man das Veraltete in eine zeitgemäße Fassung, wie beispielsweise Mozart mit Händels Messias verfuhr. Beethovens intensive Händel-Verehrung und die zunehmende Anbetung Johann Sebastian Bachs schufen im romantischen Zeitalter ein verändertes Klima, für welches Mendelssohns berühmte Berliner Wiederaufführung von Bachs Matthäus-Passion 1829 symbolhaft steht. Nach und nach setzte nun ein größerer Respekt für den originalen Notentext ein, mögen uns die meisten der im 19. Jahrhundert erschienenen Neuausgaben alter Meister heute noch so unorthodox erscheinen. Was die Aufführungen betrifft, so ist schon angesichts der überlieferten Bearbeitungen anzunehmen, daß fast allerorten bedenkenlos aus dem herrschenden Zeitgeist heraus musiziert wurde. Eine gezielte Bewegung in Richtung einer an den historischen Gegebenheiten orientierten Aufführungspraxis – in der Folge meist "historische Aufführungspraxis" genannt – kam erst mit der auf die rasche Hochblüte des Expressionismus folgenden Idee von einer "Neuen Sachlichkeit" auf, die sich strikt gegen den Gefühlsüberschwang und die ausufernde Rhapsodik der beim Publikum so beliebten "Spätromantik" stemmte. So ist es nicht verwunderlich, wenn der führende Komponist Paul Hindemith als Instrumentalist einer der Pioniere der Entdeckung von Musik der Zeit vor Bach war. Der neusachliche Geist führte im Routinebetrieb (vor allem im karg protestantischen) der fünfziger Jahre dann zu jener als "antiromantisch" gerechtfertigten mechanischen Striktheit, die zu Recht als "Nähmaschinenmusik" karikiert wurde. Andererseits gab es nun viele Bemühungen, Ensembles mit Originalinstrumenten zu besetzen (was die heute reich florierende Tradition des historischen Instrumentenbaus begründete) und klanglich das umzusetzen, was man unter der korrekten Darstellung der "Alten Musik" verstand: Schnelle bis jagende Tempi, kein Vibrato, leichter, kurzer Bogenstrich, im oberen Lautstärkebereich schroffer Trennklang statt Homogenität, kein Aushalten der Notenwerte mehr, und: kleingliedrige Artikulation, die das Tänzerische und Rhetorische so stark betont, daß das Gesangliche und die größeren Entwicklungszüge, die den individuellen Charakter der Musik ausmachen, in den Hintergrund treten und verschwinden. Diese Eigenschaften haben heute eine Eigendynamik bekommen und werden von vielen als Grundbedingung für das Aufführen "Alter Musik" vom Frühbarock bis zur Romantik angesehen. Alles Abweichende wird als "romantisch" geoutet.
In den sechziger Jahren bildete sich eine "Alte Musik"-Szene heraus, die ihr vom als Mainstream gebrandmarkten herkömmlichen Konzertbetrieb abgehobenes Image auch mit "alternativer" Kleidung unterstrich. In dieser Alternativszene fand die Schallplattenindustrie einen neuen Absatzmarkt, der ungeahnte Ausmaße barg. Das Geschäft mit der "historischen Aufführungspraxis" und, damit verbunden, ihre kulturideologische Durchsetzung, läuft nach wie vor erstaunlich gut.

Zu den Protagonisten zählte schon früh der Gambist Nikolaus Harnoncourt, der später begann, als Dirigent seine Ideen mit modernem Instrumentarium zu verwirklichen und dafür in der engeren Szene als "Verräter" angegriffen wurde. Mehr und mehr durchschaute man die Fragwürdigkeit des Terminus "historische Aufführungspraxis", weiß man doch bis heute nicht und wird auch nie wissen, wie einst tatsächlich musiziert wurde. So gibt es schlagende Argumente gegen die heute gebräuchliche Schroffheit, gegen den notorischen Balancemangel, die Unfähigkeit, breite Tempi zu erfüllen, die obligatorische Verkürzung der Notenwerte oder die immer mehr in Mode gekommene Rubato-Manie, die den Zusammenhang noch weniger erfahrbar werden läßt als die längst belächelte "Nähmaschine". In der zunehmenden Unsicherheit sprechen viele mittlerweile, nicht ohne Ironie, von "historisierender Aufführungspraxis", doch haben sich schlaue Interpreten von heute auf einen weit unverbindlicheren Begriff geeinigt: "historisch informierte Aufführungspraxis". Die Information kann also auch plötzlich als Privatsache gebilligt werden… Völlig verloren gegangen ist jedenfalls das erlebende Mitvollziehen der harmonischen Zusammenhänge im großen Kontext, mithin das konstituierend Einmalige der jeweiligen klingenden Architektur. Das führt unvermeidlich zur Einebnung der jeweiligen Komponistenpersönlichkeit zugunsten der Hervorhebung der sie umgebenden zeitgebundenen Konventionen, soweit wir diese heute verstehen, also zur interpretatorischen Nivellierung der kompositorischen Qualität. Unbestreitbare Errungenschaften sind hingegen auf klanglichem Gebiet gemacht worden, zumal mit der rasanten Perfektionierung des Baus und der Beherrschung der Instrumente, und die Erkenntnisse über Phrasierung, Artikulation und Besetzung der Ensembles, die als verbürgt gelten dürfen, sind bei subtiler Anwendung im Dienste des musikalisch Ganzen von nicht zu überschätzendem Wert. Die "historische Aufführungspraxis" – ein zweischneidiges Schwert, wie eben jede neue technische Errungenschaft.

Christoph Schlüren