Die höchsten Leistungen der nordischen
Musik, zu welcher auch die dänische traditionell gehört,
liegen auf den Gebieten der symphonischen Musik, der Kammermusik
und des Lieds. An Musiktheater denkt man weniger beim Blick nach
Norden, auch wenn Carl Nielsens "Maskerade" und Opern
der Dänen Nørgård und Lorentzen, der Finnen Rautavaara
und Sallinen durchaus wichtig und erfolgreich sind. Das theatralisch
Menschliche tritt gegenüber dem symphonisch Naturhaften zurück.
So wurde für den folgenden Überblick angesichts des überreichen
Angebots nur symphonische Musik in Betracht gezogen.
Der erste Komponist, dem ein spezifisch "nordischer Ton"
bescheinigt wurde, war Niels Wilhelm Gade (1817-1890), der acht
Symphonien schrieb und für eine kurze Periode dem Leipziger
Konservatorium vorstand. Am inspiriertesten sind seine frühen
Werke, die deutlich unter Mendelssohns Einfluß stehen, so
die Konzertouverture "Nachklänge von Ossian" (sehr
hebridisch) und die erste Symphonie. Christian Frederik Emil Horneman
(1840-1906) wurde mit einigem Recht als "dänischer Grieg"
bezeichnet. Wesentlich eigenständiger als seine Vorgänger
Gade und Hartmann, schrieb er gegen Ende seines Lebens die stimmungsvoll-elegische
Bühnenmusik zu Holger Drachmanns "Gurre". Die Ouverture
zur Oper "Aladdin" ist voll Esprit und von rhythmischer
Behendigkeit.
Der seinerzeit bedeutendste nordische Tonschöpfer neben Sibelius
war Carl Nielsen (1865-1931), ein Symphoniker von feuriger Eigenwilligkeit.
Die erste Symphonie ist noch von schwärmerisch-schwerblütiger,
romantischer Empfindung durchdrungen, die zweite ("Die vier
Temperamente") hat bereits Züge einer herberen Sachlichkeit,
und die dritte ("Sinfonia Espansiva") weist in ihrer zielstrebigen
Hymnik auf die infernalischen Kräfte voraus, die in der glühenden
Emphase der vierten ("Das Unauslöschliche") und vor
allem mit dem Durchbruch orgiastischer Wildheit (der Trommler gerät
'außer Kontrolle') im ersten Satz der fünften Symphonie
entfesselt werden. War am Anfang der Einfluß von Brahms von
Bedeutung, so zeigen die sechste Symphonie und die späten Bläserkonzerte
eine gewisse Tendenz zu 'Strawinskij ma pesante'. Die meisten Dirigenten
haben mit Nielsens kompaktem Orchestersatz unüberwindliche
Strukturationsprobleme: Keiner hat so dramaturgisch überzeugend
entwickelte und zugleich klar strukturierte Einspielungen der Nielsen-Symphonien
vorgelegt wie Paavo Berglund, dem übrigens auch die überzeugendsten
Sibelius-Einspielungen zu verdanken sind.
Rued Langgaard (1893-1952) war der Prototyp des selbsterklärten
verkannten Genies, eine Art 'nordischer Berlioz' mit hohem Farbsinn
und Freude an bizarren Wirkungen. Eine starke Einspielung seiner
weit ausladenden, hochromantischen ersten Symphonie liegt vor. Die
stärksten Werke, teils sehr modern im experimentellen Geist,
sind das dritte Streichquartett, die vierte Symphonie ("Herbstpfade")
und vor allem die "Sphärenmusik", die Ligeti zu dem
Kommentar veranlaßte, er habe gar nicht gewußt, daß
er ein 'Langgaard-Epigone' sei. In Dänemark ist die Langgaard-Renaissance
in vollem Gange.
Von Finn Høffding (geb. 1899), dem Vater der dänischen
Neuen Sachlichkeit, liegt leider noch keine Portrait-CD vor. Das
Oratorium "Moses", Magnum Opus von Herman D. Koppel (geb.
1908) erscheint demnächst bei Dacapo. Tragisch ist der Fall
Franz Syberg (1904-55), der über zehn Jahre vor seinem frühen
Tod mit dem Komponieren aufhörte, nachdem seine Symphonie der
zweiten Holmboe-Symphonie im letzten nationalen Wettbewerb vor dem
Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unterlegen war. Er hat vielleicht
am fruchtbarsten an Nielsen angeknüpft, auch Einflüsse
Hindemiths und Bartóks assimiliert und in seinen besten Werken
zu feiner Differenziertheit und gelöster Lebendigkeit gefunden.
Vagn Holmboe (geb. 1909) errang während des Krieges den Rang
als bedeutendster dänischer Symphoniker nach Nielsen. Vor allem
in erster Zeit war der Einfluß balkanischer Folklore von Bedeutung,
und die Frühwerke sind entschieden von Bartók, Strawinskij
und Hindemith geprägt. Er feilte an seinen organischen Prinzipien,
und das Schlagwort 'Metamorphosetechnik' wird zurecht mit ihm assoziiert.
Seine dreizehn Symphonien entwickeln in freitonaler Nachfolge der
klassischen Moderne alle Stadien - bis hin zu massivsten Post-Nielsen-Kollisionspfaden
- aus wenigen motivischen Keimen. Die koloristische Seite gerät
dabei öfters zur Nebensache, die Orchestration gelegentlich
außer Balance, und nicht wenige dürften den vorzüglichen
Streichquartetten (mittlerweile zwanzig!) den Vorzug geben.
Gunnar Berg (1909-89), lange Zeit in der Schweiz lebender Zwölftöner,
stieß zu kristalliner Kontur vor. Ein der Hindemith-Schule
entwachsener Urmusikant ist Niels Viggo Bentzon (geb. 1919), enfant
terrible der dänischen Szene mit hoher Produktion unterschiedlichster
Qualität. Axel Borup-Jørgensens athematische orchestrale
Soundscapes gipfeln in der elaboriert-flimmernden Struktur von "Marin".
Von fluktierend-labyrinthischem Charakter in der Art eines "nordischen
Mahler" (vor allem in der monumentalen 2. Symphonie "Isola
Bella") sind
die Symphonien Ib Nørholms (geb. 1931).
Seine transparente Neunte ist von konzentrierterer Faktur. Der Hauptvertreter
messerscharfer Collage-Architektur ist Pelle Gudmundsen-Holmgreen
(geb. 1932).
Per Nørgård (geb. 1932), Schüler Holmboes, ist
heute unumstritten Dänemarks führender Komponist und Kompositionslehrer.
In den fünfziger Jahren kam seine singuläre Begabung in
Werken von transparenter Komplexitität und Vielschichtigkeit
und zugleich emotionaler Eindringlichkeit wie der ersten Symphonie
("Sinfonia austera", grandios realisiert von Leif Segerstam)
und den Streichorchesterwerken "Metamorfosi" und "Konstellationer"
zum Vorschein: Ein von Sibelius, Bartók und Holmboe emanzipierter
Personalstil, der ihm begeisterten Zuspruch sicherte. Doch Nørgård
blieb der immerzu sich Verwandelnde, unablässig Weiterforschende,
der gegen die herrschenden Tendenzen der Zeit harmonikale und fraktale
Prinzipien entwickelte, die 'Unendlichkeitsreihe' (2. Symphonie)
und die hierarchische Proportionalrhythmik des Goldenen Schnitts
(3. Symphonie) etablierte und ausschöpfte, dann wieder die
Schleusen des Chaos öffnete und dieses mit der vollkommenen
Ordnung seiner Systeme kollidieren ließ (4. Symphonie). In
den letzten Jahren stieß er in den scheinbaren Zufälligkeiten
der Natur abgewonnene Bereiche vor, wo die Klangbeziehungen ihr
organisches Eigenleben zu entfalten scheinen ("Night-Symphonies,
Day Breaks"), was in der fünften Symphonie in so etwas
wie selbstgewonnene Ausdrucksfähigkeit des Materials mündete:
Es ist, als schaute man dem Drachen in den Rachen. Durch alle Turbulenzen
hindurch scheint in Nørgårds transparenter Klangwelt
eine ständige Bereitschaft zum Hineinhorchen in die Stille.
Der imaginative Lyriker Svend Nielsen (geb. 1937) schrieb farbreiche
Orchesterstücke, die auf CD noch nicht dokumentiert sind. Ole
Bucks (geb. 1945) vier Landschaften für Kammerensemble spannen
in feinster atmosphärischer Verästelung und intervallischer
Aushorchung den jahreszeitlichen Bogen vom Sommer zum Frühling:
Selten wurde aus so geringem Tonvorrat solch verfeinerter Reichtum
bezogen! Ein starker Intellektueller mit bizarrem Humor ist Karl-Åge
Rasmussen (geb. 1947). Poul Ruders (geb. 1949) gehört zu den
international erfolgreichsten dänischen Tonsetzern - sei es
mit dem Stahlbetonklang von "Manhattan Abstraction", der
Materialschlacht der Symphonie "Himmelhoch jauchzend - zum
Tode betrübt" (eine hervorragend kontrollierte Aufnahme),
der frostigen Melancholie von "Tundra" oder der emotionalen
Bündelung des zweiten Violinkonzerts, seines "persönlichsten
Werkes". Gegenüber der Rudersschen Tendenz zur Überfrachtung
wirken die Kompositionen von Hans Abrahamsen (geb. 1951) fast asketisch.
"Winternacht" für Kammerorchester, eine seiner stärksten
Leistungen, ist ein brillantes Exempel funkensprühender Clarté.
Mogens Christensen, der heute im norwegischen Bergen lebt, war lange
wie Abrahamsen stark von seinem Lehrer Nørgård beeinflußt.
Sein Tonfall ist von äußerster Naturhaftigkeit und silbriger
Helligkeit, extremer linearer Differenzierung und kapriziöser
Wendigkeit - einem hochentwickelten Singvogel gleich. Die Einspielungen
seiner Werke zeugen von besonderer Kultiviertheit und Liebe zur
Sache. Besonders fruchtbar ist seine Zusammenarbeit mit dem baskischen
Geiger Ricardo Odriozola (geb 1965), der in tänzerisch-launenhaften,
unbekümmerten Musikanterien gleichfalls hohe kompositorische
Begabung beweist. Hoffentlich ist von ihm bald Orchestermusik erhältlich.
Anders Nordentoft (geb. 1957) entwickelt aus wohlklingender Einfachheit
heraus komplexe, lebensvolle Gestalten - eine CD mit der London
Sinfonietta erscheint in nächster Zeit. Den diesjährigen
Nordic Council Music Prize erhielt für sein Violinkonzert "Sterbende
Gärten" Bent Sørensen (geb. 1958), dessen Kompositionen,
stets an der Grenze zur Unspielbarkeit angesiedelt, geradezu endlos
scheinende Verfallstudien einer unentwegt in sich selbst kreisenden
Miniaturwelt sind. Ständige umherwuselnde Bewegung erzeugt
einen Strudel von obsessiver Verhaltenheit in nicht zur Ruhe kommender
Piano-Fragilität. Der von den Färöer-Inseln stammende
Sunleif Rasmussen (geb 1961) hat mit "Landid" eine kleine
Trilogie aus dunkel leuchtender Poesie geschaffen - sehr nordisch
und darin eher norwegischer oder isländischer Musik verwandt
als dänischer.
Christoph Schlüren
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