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Sternschnuppen und so weiter

BBC Legends: Immer mehr aus den Archiven der BBC

Der vielversprechende Start der Serie BBC Legends hat nicht zu viel versprochen. Die Archive der britischen Rundfunkanstalt sind unerschöpflich und überhäufen die Sammler geradezu mit tontechnisch exzellent aufbereiteten (und mit sachkundig erzählerischen Texten ausgestatteten) Trouvaillen – obwohl das nicht weniger wünschenswerte unbekanntere Repertoire fast komplett von den Veröffentlichungen ausgespart bleibt.
Schon die erste Folge von Aufnahmen unter dem legendären Dirigenten Leopold Stokowski gehörte zu den Höhepunkten, und die zweite Folge steht da nicht im mindesten zurück. Diesmal sind von 1968 eine an erlesenster Klangsinnlichkeit und vehementer Dramatik nicht zu übertreffende Symphonie fantastique von Hector Berlioz und ein in seiner durchdisponierten Rauschhaftigkeit unerreichtes Poème de l’extase von Alexander Scrjabin ausgewählt worden, gespielt vom New Philharmonia Orchestra in der Royal Festival Hall (BBCL 4018-2). Dass Stokowski einer der fantastischsten Musiker des 20. Jahrhunderts war, wird hier in jedem Moment schlagend bewiesen – welche Suggestionskraft, welche Beherrschung der orchestralen Mittel, welcher unverwechselbare und stets unvorhersehbare Klang, mit welch unwillkürlicher Dynamik die Form als lebendige Gestalt vor dem Hörer ersteht! Obendrein gibt es ein neunminütiges Interview Stokowskis mit Deryck Cooke, das einen wirklich tiefen, unvergesslichen Eindruck hinterlässt von umfassendem Geist, Bescheidenheit und Größe (umso gespannter sind wir auf die darin angesprochene Aufführung von Carl Nielsens 6. Symphonie!).
Und dann ist da Thomas Beecham, Englands feinster Orchestererzieher, in drei Zusammenstellungen: Federnd lebendige, von reicher Empfindung durchdrungene Mozart-Symphonien (4027-2); Schuberts 3. und Mendelssohns Italienische Symphonie, herrlich ausphrasiert, von unerhörter Zartheit und unwiderstehlichem tänzerischen Schwung, zuzüglich einer köstlichen Nussknacker-Suite (4044-2); und schließlich eines der hinreißendsten Sibelius-Alben der Geschichte, welches u. a. das komplette Konzert zum 90. Geburtstag des großen Finnen umfasst, den Beecham in der mit aufgezeichneten viertelstündigen Würdigung als den bedeutendsten Tonschöpfer seiner Epoche verehrt. Wann hätte man Tapiola so bezwingend zusammenhängend dargestellt gehört? Dass auch die Symphonien Nr. 4 und 7 vortrefflich gemeistert sind, verwundert nicht. Doch ganz besonders muss alle Sibelius-Bewunderer anziehen, wie Beecham mit seinem Royal Philharmonic Orchestra jeder der kostbaren Miniaturen aus den Schauspiel-Suiten zu Schwanenweiß und 'Pelleas und Melisande' in allen Schattierungen zu idealer Kontur verhilft, wie alles so frei und spontan gestaltet wirkt, ohne im Geringsten den Stempel des Zufälligen zu tragen (4041-2).
Auch ein anderer Held der Sibelius-Exegese ist mehrfach vertreten: John Barbirolli, vom Zweiten Weltkrieg bis zu seinem Tod 1970 Chefdirigent des Hallé Orchestra. An einem "Viennese Evening at the Proms" leitete er 1969 subtil zupackend Haydns 83. Symphonie 'La poule', einiges von Johann Strauss, einen betörenden 'Gold und Silber'-Walzer Lehárs (mit in jauchzender Stimmung befindlichem Publikum) und, endlich einmal von ihm in guter Tonqualität zu hören, Richard Strauss’ von Rodzinsky eingerichtete Rosenkavalier-Suite (4038-2). Diesem ungetrübten Vergnügen steht die existentielle Seite gegenüber, mit einer 1966-er Aufnahme von Bruckners Neunter, die in diese Musik eine an Mahler gemahnende, zerreißende Leidenschaftlichkeit hineinlegt; und, damit gekoppelt, mit Gustav Mahlers Siebenter Symphonie, einem in seiner seelischen Intensität bestürzenden Mitschnitt des BBC Northern Symphony Orchestra von 1960 (4034-2). Gewiss ist die Klangqualität problematisch, es passiert einiges an Fehlern. Andererseits hat wohl keiner so tiefe Schichten in dieser Musik so unmittelbar aufgetan – alleine, wie er den Beginn gestalten lässt! So dargestellt ist in dieser zerrissenen Musik wirklich, wie Mahler dies vorschwebte, "die ganze Welt enthalten". Der russisch-österreichisch-stämmige, in Wien und Berlin großgewordene jüdische Dauer-Emigrant berührte sich in manchem (auch hinsichtlich der Repertoire-Vorlieben) mit Barbirolli, und der Vergleich lohnt in Mahler Siebenter – da gibt es kaum Gemeinsames. Zur weltumarmenden Breite Barbirollis kontrastiert Horenstein (1969 mit dem New Philharmonia Orchestra) mit ziemlich zügigen Zeitmaßen, ausgerichtet an den von Mahler selbst überlieferten. Und doch wirkt nichts übereilt, flüchtig oder oberflächlich. Horenstein bewegt sich mit so unerschütterlicher Sicherheit in Mahlers Welt, dass diese völlig andere Auffassung in ihrer Art wenigstens ebenso überzeugt wie diejenige Barbirollis, und das technisch-tonliche Gelingen ist ungleich besser (4051-2). Nachdem zuvor schon Anton Bruckners 8. und 9. Symphonie in dieser Serie unter Horenstein erschienen sind, kommt nun die strukturell und formal gigantisch komplexe Fünfte Symphonie hinzu, und die Darstellung erwirkt – auch durch die größere stilistische Entfernung bedingt – nicht jene Mahler-Nähe, die für seine anderen Bruckner-Aufführungen galt. Hier ist die Rede von elementarer Wucht, von emphatischer Nüchternheit, ja inniger Rauheit – ein Paradox, von dessen Richtigkeit nur das Hören überzeugen kann. Eine Weite und Geschlossenheit wie bei Celibidache wird so natürlich nicht ansatzweise erreicht, auch Schuricht will mir mehr einleuchten, aber die heute so hochgejubelten Provinzfürsten instrumentaler Schroffheit wie Wand oder Blomstedt lässt Horensteins großzügiges Dirigat erbarmungslos verblassen – flexibel im Detail, kompromisslos im Gesamtaufbau imponiert diese Fünfte ungebrochen (4033-2). Mahlers 'Lied von der Erde' unter Horenstein endlich wurde nicht umsonst mit dem Toblacher Komponierhäuschen ausgezeichnet, das späte 1972-er Dokument ist in der innigen Verwebung von vokalem und orchestralem Ausdruck von zeitloser Größe.
Eine Freude ganz anderer, sehr lichter Art ist es, die Münchner Philharmoniker 1972 bei ihrem London-Gastspiel unter Rudolf Kempe mit Mahlers Zweiter zu hören, die wunderbar durchgearbeitet zu leuchtkräftig vitaler Wirkung gebracht wurde, mit außergewöhnlicher Transparenz und schlüssiger Disposition der divergierenden Tempi. Die Münchner hatten einen ausgezeichneten Abend. Nicht in gleichem Maße zu glänzen vermag die mitveröffentlichte Erste Mahler (1965 mit dem BBC Symphony Orchestra), wenngleich auch diese Auführung weit über dem Durchschnitt angesiedelt ist (4022-2).

Demgegenüber muss das Dirigentenporträt Adrian Boult einigermaßen verblassen, mit einer sehr soliden Unvollendeten Schuberts, den genre-sicher exekutierten 'Jeux d’ enfants' von Bizet, einer kaum begeisternden Darbietung von Ravels zweiter Suite aus 'Daphnis et Chloé' und einer sehr guten, freilich zu Beecham, Stokowski oder Barbirolli niemals in Reichweite kommenden Siebenten Sibelius’ (4039-2). Noch weniger sagt mir Giulinis gerühmtes 1961-er Konzert mit dem Philharmonia Orchestra in Edinburgh, wo die Bilder einer Ausstellung und Tschaikowskijs Pathétique zu hören waren (4023-2) – zweifellos wird sehr intensiv musiziert, doch mit wenig Gespür für die tatsächlichen Gegensätzlichkeiten, für die formbildenden Prinzipien. Da sind Verdis Requiem (1963) und Schuberts Es-Dur-Messe (1968) unter dem 1914 geborenen italienischen Maestro doch weitaus fesselnder – hier gibt es wirklich Himmelstürmende, Überwältigendes, Beglückendes, Erschütterndes, wenn auch nicht durchgehend. Auch die sängerischen Leistungen sind sehr ansprechend (4029-2). Ein anderes Requiem, dasjenige von Gabriel Fauré, dirigierte 1968 die berühmte Pariser Kompositionsprofessorin Nadia Boulanger, die außerdem von Fauré und Strawinskij geprägte, archaisch-dunkelgetönte sakrale Werke ihrer frühverstorbenen Schwester Lili (1893-1918) präsentierte, darunter vor allem den 26-minütigen 130. Psalm 'Du fond de l’abîme' (4026-2). Was im Fall Lili Boulangers als bis heute maßstabsetzende Aufführungen gelten muss, wirkt jedoch bei Fauré trotz aller stilbewußt gewissenhaften Ernsthaftigkeit ein wenig kleinformatig, wenn man dagegen an Celibidache oder Cluytens denkt. Ein denkwürdiges Ereignis war am 28. September 1963 anlässlich der Konzerte der Moskauer Philharmoniker in London das Zusammentreffen von Yehudi Menuhin mit David und Igor Oistrach. David dirigierte im Beethoven-Konzert, welches dem Solisten Menuhin denkwürdig fabelhaft gelang, ganz besonders im zweiten Satz, wo der Dialog mit den Orchesterstimmen von vollendeter Einfühlung getragen ist. Und Menuhin dirigiert Mozarts Sinfonia concertante mit Igor an der Geige und David an der Bratsche – ein Konzertieren von nie nachlassender Lebendigkeit, hochkultiviert und mit uneingeschränkter Freude am gemeinsamen Musizieren, wie eine Sternschnuppe am Nachthimmel des Kalten Krieges (4019-2).

Pianisten

Vielleicht das allergrößte Juwel, das BBC Legends bisher herausbrachte, ist Arturo Benedetti Michelangeli vorbehalten. Es hat schon nichts mehr mit Perfektion zu tun, wie er, begleitet vom New Philharmonia Orchestra unter Frühbeck, 1965 Edvard Griegs Klavierkonzert vorträgt. Nichts entgeht diesem ebenso transzendenten wie gnadenlos direkten Musiker, die Phrasierung ist überall von solch unumstößlicher Gestalt, dass Zweifeln nur dann Raum gegeben wird, wenn die Wahrnehmung des Hörers getrübt ist. Außerdem das erste Buch von Debussys Préludes, aufgenommen 1982 und von unantastbarer Vollendung (4043-2). Walter Gieseking ließ 1956 seinen wunderbar leichten, filigranen, von höchster Nuancierungskunst durchdrungenen Debussy und Ravel hören, und 1953 Schumanns Kreisleriana mit nie erzwungener Eindringlichkeit (4030-2). Ganz Gesang war das Spiel von Myra Hess, die, vom BBC Symphony Orchestra unter Sargent begleitet, Beethovens Klavierkonzerte Nr. 5 und 2 vortrug – man höre zumal die langsamen Sätze! Dazu gibt’s noch ein dialogisch sehr amüsantes Interview, in dem sie ihre Abneigung gegen alles Mechanische zum Ausdruck bringt (4028-2). Das faszinierende pianistische Spektrum dieser Edition wurde außerdem um hochkarätige Aufnahmen Clifford Curzons und Svjatoslav Richters erweitert. Mit Barenboim spielt Curzon in nobler Eintracht Mozarts Doppelkonzert KV 365, mit Britten die Sonate für zwei Klaviere KV 448 (4037-2). Und von Boulez wird er begleitet in Mozarts Krönungskonzert und dem Fünften Beethovens – zu solcher klassischen Empfindsamkeit angesteckt dürfte man Boulez selten gehört haben (4020-2). Richter entlockte 1961 mit Kyrill Kondraschin und dem London Symphony Orchestra Liszts Klavierkonzerten einen inneren Reichtum, wie es nur ganz wenige vermochten, und siehe, es ist doch weit mehr als virtuose Theatralik (4031-2, zuzüglich Chopins Andante spianato et Polonaise). Und dann ist da zuletzt ein französisches Doppelalbum Richters, aufgenommen zwischen 1961 und 1967, ein wahrer Segen für hungrige Fans mit viel Chopin und Debussy (4021-2).

BBC Legends ist erhältlich über den Vertrieb Musikwelt, Münster/Westfalen.

Christoph Schlüren