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Unerhörtes
von den Größen unseres Jahrhunderts

BBC Legends: Epochales aus den Archiven der BBC

Das schreckliche Verbrechen der BBC, große Teile ihrer bedeutendsten Mitschnitte später mit anderen Tondokumenten zu überspielen, haben glücklicherweise einige Aufnahmen überlebt, deren Veröffentlichung eine immense Bereicherung des aus allen Nähten platzenden Klassik-CD-Markts bedeuten. Die Serie BBC Legends stellt in exzellenter Klangqualität und mit umfassend informierenden Bookletessays (in erstklassiger deutscher Übersetzung!) Konzerte (bzw. größere Teile daraus) mit legendären Größen der Musikgeschichte vor. Die größte Sensation ist George Enescu vorbehalten, dem großen rumänischen Nationalkomponisten und Geiger. Sein 1951er Dirigat von Bachs h-moll-Messe (mit Suzanne Danco, Kathleen Ferrier, Peter Pears etc.) ist durchglüht von erfüllter Innerlichkeit ohne jegliche aufgesetzte Expressivität, das Charakteristische pointiert erfassend fern stilisierender Übertreibung – eine in ihrer bedingungslosen Hingabe und unsentimentalen Beseeltheit geradezu ideale Aufführung (BBCL 4008-7)!
Einen unübersehbaren Schwerpunkt unter den BBC-Veröffentlichungen bildet das Wirken des 1970 verstorbenen Sir John Barbirolli, der das Hallé Orchestra Manchester zu Weltgeltung führte und am 2. Dezember dieses Jahres 100 Jahre alt geworden wäre. Seine unerhört konzisen, dramatisch aufwühlenden und bis ins letzte Detail unerbittlich und liebevoll ausgearbeiteten Aufführungen von Mahlers-Symphonien sind in vieler Hinsicht bis heute unerreicht. Das gilt hier vor allem für die Dritte Symphonie in einer Aufnahme vom Mai 1969 in Manchester, wo äußerste Empfindsamkeit zu herber Größe gebündelt wird (4004-7, mit einem halbstündigen, biographisch sehr ergiebigen Interview, dessen Tonfall wohl kein Hörer je wieder vergessen wird…). Selbstverständlich ist auch die Aufnahme von Mahlers 4. Symphonie von exquisitem Rang (mit der Sopranistin Heather Harper und dem BBC Symphony Orchestra in Prag 1967), welcher Berlioz’ Ouvertüre 'Le Corsaire' beigegeben wurde (4014-2). Nicht weniger brillant und klar geformt ist eine Zusammenstellung von englischen Werken (4013-2), die William Waltons mediterran-sprühende Partita, Elgars furiose Alassio-Ouverture (die einzige Barbirolli-Aufnahme von diesem Stück!) und von Britten die Sinfonia da requiem und die Purcell-Variationen "Young Person’s Guide to the Orchestra" vereint. Bei letzterem Stück möchte man im direkten Vergleich dem Klangmagier Leopold Stokowski trotzdem noch den Vorzug geben (4005-2, 1963/64), der überdies mit einer packenden Beethovenschen Siebten zu hören ist, deren Finale kaum irgend bezwingenderen Schwung entfalten kann als hier, sowie hinreißend mit Manuel de Fallas "El amor brujo", wo Stokowski, mit kleinen Instrumentationsretouchen, koloristisch wirklich das letzte rausholt.
Beethovens 7. Symphonie ist auch extrem schwungvoll mit Thomas Beecham vertreten (4012-2), in dessen zündend musiziertem Potpourri-Programm von 1959 auch Mendelssohns 'Ouverture zum Märchen von der schönen Melusine' bezaubernd stilsicher erklingt (außerdem die britische Nationalhymne, John Addisons 'Carte blanche' und kurze Stücke von Saint-Saëns, Debussy und Gounod. Immer wieder fasziniert das frische, farbige Klangbild der digital entstaubten BBC-Dokumente, so auch bei Constantin Silvestris berühmter, erstaunlich schlüssiger Deutung von Tschaikowskijs monumentaler Manfred-Symphonie mit seinen Symphonikern aus Bournemouth, die hier klanglich und musikalisch viel überzeugender wirkt als in der EMI-Studioproduktion mit demselben Orchester; die hinzugefügten "Pini di Roma" von Respighi sind übrigens nicht weniger fesselnd geraten (4007-2). Aufs akribischste studierte Mrawinskij seine Leningrader Philharmoniker ein, deren dramaturgisch spannend geführtes, hochkultiviertes Spiel (vor allem der Streicher) in Schostakowitschs 8. Symphonie tief beeindruckt (4002-2, Londoner Konzert vom September 1960); auch die beigegebene Mozart-Symphonie KV 319 ist vortrefflich erarbeitet.
Jascha Horensteins leidenschaftliche Bruckner-Deutungen, die (gemeinsam mit Robert Simpsons unermüdlichem Einsatz bei der BBC) den Londonern erstmals die Musik des Österreichers nahebrachten, sind hier mit den Symphonien Nr. 8 und 9 verewigt (4017-2, London 1970). Horensteins Bruckner verweist in der oft auf engem Raum heftig widerstreitenden Auslegung, in der unmittelbar eindringlichen Wildheit unmißverständlich auf Mahler. In Gustav Mahlers grandios übersteigerter 8. Symphonie hatte Horenstein hingegen mit der Solisten-Besetzung nur beschränkt Glück, was die großen Leistungen des Orchesters und auch der Chöre in Mitleidenschaft zieht. Packend zu hören ist diese "Symphonie der Tausend" vom März 1959 in der Royal Albert Hall trotzdem allemal (4001-7, mit aufschlußreichem Interview).

Uneingeschränkt empfohlen werden darf das Vermächtnis des späten Pierre Monteux, der (1962 mit Régine Crespin, André Turp, Michel Roux und John Shirley-Quirk) in Berlioz’ "Fausts Verdammnis" suggestiv das klangliche Potential sich auswirken läßt und unwiderstehlich den Weg in den Höllenspuk weist (4006-7). Ein hinreißendes Dokument des charismatischen Musikanten Thomas Beecham ist mit Berlioz’ gigantisch besetzter Totenmesse erhältlich (4011-2, Royal Albert Hall 1959). Dagegen nimmt Rudolf Kempe mit Brahms’ 4. und Schuberts 5. Symphonie den Hörer nur bescheiden in Anspruch (4003-2, 1974/76), und an seine schwungvoll ausziselierten Dresdner Strauss-Aufnahmen denkt man hier besser nicht.
Gleich neun CDs sind dem führenden englischen Komponisten Benjamin Britten als Pianist und Dirigent gewidmet. Brittens Urmusikalität, sein oft nachgerade instinktsicherer Sinn fürs strukturell-formal Wesentliche, der z. B. agogisch sehr individuelle Lösungen erschließt, seine frische Musizierfreude und Fähigkeit, eine ganz eigene Klangaura zu schaffen, sind unbestreitbar. Dirigiertechnisch ist dabei in komplizierter zu realisierenden Werken vieles nicht sehr kontrolliert – was besonders bei Mahlers 4. Symphonie (1961 mit Joan Carlyle) für Abstriche sorgt, die gleichwohl absolut hörenswert ist, gekoppelt mit den Liedern eines fahrenden Gesellen, vorgetragen von der überragenden Anna Reynolds (1972), und zwei Wunderhorn-Liedern mit Elly Ameling (8004-2). Nicht weniger lohnend sind Tschaikowskijs Streicherserenade und Mozartiana-Suite zuzüglich zwei Encores (8002-2). Eindringlich sind Brittens Wiedergaben zweier zentraler symphonischer Werke seines Lehrers Frank Bridge, 'The Sea' und 'Enter Spring', zusammen mit Gustav Holsts 'Egdon Heath' (vom Orchester eher kläglich realisiert) und Brittens eigener Ouvertüre 'The Building of the House' (8007-2). Ein Querschnitt bringt Mendelssohns Hebriden-Ouvertüre, Mozarts Haffner-Symphonie und Haydns späte c-moll-Symphonie Nr. 97, alles voll feiner, erlesener Details; außerdem Debussys 'Prélude à l’après-midi d’un faune' und Beethovens Coriolan-Ouvertüre, deren heikle Rhythmik wenig überraschend ziemlich wacklig gerät (8008-2). Großes Gelingen hingegen prägt die 1959er Aufführung von Henry Purcells Oper 'Dido and Aeneas', der die Kantate 'When Night Her Purple Veil Had Softly Spread' zur Seite gestellt ist (8003-2) – eine prächtige Scheibe! Prachtvoll nobel ertönt Händels repräsentative 'Ode for St. Caecilia’s Day', gekoppelt mit Brittens 'Gloriana'-Choral Dances (8009-2, 1967). Ein besonderes Juwel ist die Mozart-CD (8005-2) mit Elly Ameling ('Exsultate, jubilate'), Svjatoslav Richter (B-Dur-Konzert KV 595) und Britten selbst am Klavier im Klavierquartett g-moll KV 478. Sensationell besetzt schließlich sind Brahms’ Liebeslieder-Walzer mit Heather Harper, Janet Baker, Peter Pears und Thomas Hemsley sowie Britten und Claudio Arrau (!) am Klavier. Das Ergebnis ist in der divergierenden Materialfülle eher zwiespältig, aber für Fans sicher ein großes Ereignis, dem Harper-Baker-Duette von Tschaikowskij und Rossini, sekundiert von Britten, zugegeben sind (8001-2).
Im übrigen BBC-Sortiment gibt’s an hochkarätiger Kammermusik neben Svjatoslav Richters späten Schubert-Sonaten, dessen Phantastik (in der f-moll-Sonate!) geradezu Verwegenes zeitigt (BBCL 4010-2), die ergiebige Kollaboration Clifford Curzons mit dem Amadeus-Quartett in Brahms’ f-moll-Quintett und Schuberts Forellenquintett (4009-2) sowie den überragenden Emil Gilels Ende der 50er Jahre mit Scarlatti, Bachs Italienischem Konzert, Schumanns fis-moll-Sonate, Tschaikowskij und Prokofjew (4015-2). Letztere Scheibe sei dem anspruchsvollen Klavierfreund unbedingt empfohlen.

Die Serie BBC Legends ist erhältlich über den Vertrieb Musikwelt, Münster/Westfalen.

Christoph Schlüren