Noch Mitte der siebziger Jahre spielte
Musik aus dem Baltikum international praktisch keine Rolle. Einige
Kenner kannten ein paar Stücke von Arvo Pärt, eher aber
noch Werke von Exil-Balten, die sich in Schweden, Kanada und andernorts
niedergelassen hatten. Heute hat sich die Situation grundlegend
verändert. Die baltische Musik hat geradezu einen Siegeszug
um die Welt angetreten und ist längst noch nicht auf dem Gipfel
ihrer Popularität angelangt. Dies hängt auch mit der immer
offenkundigeren Publikumskrise der etablierten westlichen Avantgarde-Szene
zusammen, und es ist nicht weiter verwunderlich, wenn einige der
führenden estnischen Komponisten entscheidende Erfahrungen
als Rockmusiker gesammelt haben. Fragen muß man sich jedoch:
Wie können so kleine Länder wie die drei baltischen Staaten
Estland, Lettland und Litauen solche musikalische Signifikanz bekommen?
Ein wichtiger Grund ist die traditionelle Mittlerposition zwischen
West- und Osteuropa, oder besser: zwischen dem übermächtigen
Nachbarn Rußland und dem restlichen Europa. Insbesondere Riga
war eine richtige Kulturmetropole und eng mit Namen wie Richard
Wagner, Friedrich Smetana, Modest Mussorgskij, Edvard Grieg oder
Jean Sibelius verbunden. Es gibt zum Beispiel Untersuchungen, die
von einer vorübergehende Beeinflussung Wagners durch die lettische
Kultur ausgehen.
Was den Klängen aus dem Baltikum besondere Aktualität
verleiht, ist der Ausdruck von Leid und Trauer, von Verzweiflung
und Hoffnung, die Errichtung des Schönen und Unschuldsvollen
als Gegenbild zur bitteren äußeren Realität. Die
Balten haben schwer gelitten seit der Okkupation durch die Sowjets,
sie wurden systematischer Russifizierung unterworfen und mußten
um ihre Authentizität, um den Erhalt ihrer Kultur fürchten.
Umso mehr pflegten sie diese Traditionen, schützten vielfach
die Insignien nationaler Identität unter dem Mantel der kulturellen
Vielfalt der vereinten Sowjetvölker. Die emotionale Kontinuität
und Unmittelbarkeit, das Streben nach Aufrichtigkeit und Schönheit
als Gegenwelt zu alltäglicher Erniedrigung und Gängelung
ziehen viele Hörer magisch an. Der religiöse Aspekt ist
von zentraler Bedeutung, Naivität und Durchlässigkeit
treten an die Stelle von Infragestellen und Verweigern. Das bedeutet
keine Reduzierung des Konfliktpotentials. Vielmehr wird der Konfliktstoff
aus dem direkten Erleben von Situationen und den damit korrespondierenden
menschlichen Regungen bezogen, nicht so sehr aber aus ästhetischen
Erwägungen, aus dialektischem Denken heraus. Was zählt,
ist primär die intuitive Ebene, der nicht-denkerische Kontakt
über den Klang.
Die schicksalhaften Gemeinsamkeiten, die geographische Nähe,
der introvertierte, moll-lastige Grundzug ihrer Musik prägen
das übergeordnete Bild im Baltikum. Doch die drei Länder
unterscheiden sich gewaltig. Sie haben alle ihre eigenen Traditionen,
ihre eigene Musikgeschichte, ihre eigenen Schulen, ihre unverkennbare
künstlerische Mentalität.
Den anderen voran ist Litauen ein Korridor stilistischer und ästhetischer
Verschiebungen und Verwerfungen im Fadenkreuz zwischen russischer
Seele und Monumentalität, polnischen Salonfeuern und Avantgardegeschützen
einerseits, zwischen nordbaltisch-skandinavischer Elegie und Verhaltenheit,
südslawischem Musikantentum andererseits. Wie in allen baltischen
Ländern ist auch in Litauen die a-cappella-Chormusik die allgegenwärtige
Basis musikalischen Empfindens und Schaffens. Der erste bedeutende
litauische Komponist war jener Kulturheros, mit dem sich das litauische
Volk seither am meisten identifiziert: der Dichter, Maler und Tonsetzer
Mikolajus Konstantinas Ciurlionis (1875-1911), der in seinem kurzen
Leben vor allem als einer der fantastischsten Meister symbolistischer
Malerei zu visionären Höhen vordrang. Dagegen starb Ciurlionis
zu früh, um eine wirklich eigenständige Tonsprache zu
kultivieren. In dem 1903-07 komponierten symphonischen Gedicht 'Jura'
('Das Meer') sind Richard Strauss, Debussy und Tschaikowskij als
Vorbilder noch zu erkennen, doch ihre Einflüsse sind verschmolzen
zu einem eigengesetzlichen Ganzen. Dieses Werk lehrt, daß
Ciurlionis für die litauische Musik eine ähnliche Position
hätte bestimmen können wie Karol Szymanowski für
die polnische. Bei Ciurlionis kommt eine Qualität atmosphärischer
Dichte und Weite hinzu, die für die baltische Region typisch
ist, ein unentwegter Hauch von schwermütiger Idylle. Ciurlionis
ist der Prototyp eines Malers in Tönen, der eine aus sich selbst
wachsende Landschaft entwirft, ein Panorama modulierender Farben
und Impressionen. Er schuf einen unversieglichen Fundus an Klavierminiaturen,
die irgendwo zwischen Chopin und frühem Scriabin angesiedelt
und heute noch sehr beliebt sind.
Nach Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1918 setzte in Litauen
eine Welle von folkloristisch inspirierter Nationalmusik ein. Es
bestand Nachholbedarf. Der Spätromantiker Juozas Gruodis (1884-1948)
bezeichnete sich als "litauischer Grieg". Dagegen war
Vytautas Bacevicius (1905-70, Bruder der polnischen Komponistin
Grazyna Bacewicz) zunächst ein von den Maschinenmusiken Honeggers
und Mossolows angeregter Modernist, was sich im Paradestück
des litauischen Expressionismus, dem 'Poème électrique'
von 1932, niederschlug. 1940, im Jahr der Annexion durch die Sowjets,
emigrierte Bacevicius nach New York, wo er als brillanter Pianist
reüssierte und sein Komponieren - wie dasjenige vieler Emigranten
- in neoklassizistischere Bahnen geriet.
In den sechziger Jahren kam Litauen unter den Einfluß der
neuen polnischen Avantgarde-Euphorie. Wegweiser des Anschlusses
an internationale Entwicklungen waren Eduardas Balsys (1919-84)
und Julius Juzeliunas (geb. 1916). Eher im intellektuell durchbrochenen
Feld zwischen polnischer und russischer Moderne als in der Nähe
zu den zwei anderen baltischen Ländern ist Litauens musikalische
Stellung heute zu orten. Der 1928 geborene Antanas Rekasius ist
der Hauptvertreter des Collage-Stils und hat äußerst
wirkungsvolle, drastisch Tonales mit Clustern aufmischende Stücke
geschrieben. Die unbefangen synthetische Sprache von Vytautas Barkauskas
(geb. 1931) steht in ihrem musikantischen Explorationsgeist exemplarisch
für das sprunghafte Denken zwischen den Welten. Bronius Kutavicius
(geb. 1932) sucht archaische Riten und neue Klangmittel zu emotional
fesselnden Tonmythen zu verbinden. Der Reiz des Irregulären
entstammt beim 1934 geborenen Feliksas Bajoras der Übereignung
folkloristischer Ausdruckswerte in ökonomisch ausgesparte Texturen.
Osvaldas Balakauskas (geb. 1937) gilt international als der führende
litauische Komponist. Seine Werke zeichnen sich durch klare, bestimmte
Konstruktion, durch wirkungssicheren Aufbau aus. Aus seriellen Erfahrungen
hat er persönliche modale Verfahren entwickelt. Manche seiner
Werke strahlen eine abgründige Hoffnungslosigkeit aus (Ostrobothnian
Symphony), andere sind von geradlinig rockiger Aggressivität.
Eine eminente Begabung ist die 1956 geborene Onute Narbutaite, deren
'Opus Lugubre' für Streicher spinnwebenhafte Assoziationsgabe,
äußerste Empfindsamkeit für geisterhafte Klanglichkeiten
offenlegt.
In Lettland war traditionell der deutsche Einfluß bestimmend.
Wie die litauische ist auch die lettische neuere Musikkultur international
unzureichend dokumentiert. Vielleicht hängt es damit zusammen,
daß in Lettland der Leidensdruck unter dem sowjetischen Joch
stärker war, die Russifizierung im mittleren baltischen Staat
unnachgiebiger durchgeführt wurde als bei den Nachbarn: Viele
lettische Musik neuerer Zeit verströmt insbesondere in der
Chorliteratur unstillbaren Ausdrucksbedarf, expressive Intensität,
emotionale Aufgewühltheit, wie sie in Estland und Litauen eher
die Ausnahme sind. Und auch die Chöre, so der phänomenale
Rundfunkchor, besitzen eine urtümliche, niederschmetternde
Ausdruckskraft, zu der Vergleichbares sich schwerlich ausmachen
läßt. Lettlands erster Symphoniker war der in bester
russischer Orchestrationsmanier ausgebildete Jazeps Vitols (1863-1948),
ein Nationalromantiker mit Drang zu universeller Aussage. Eine hochinteressante
Figur ist der nach Kanada emigrierte Vitols-Schüler Talivaldis
Kenins (geb. 1919), dessen eklektizistisches Idiom auf instrumentalem
Gebiet (wo er gerne konzertante Formen pflegt) und im Chorschaffen
mit hoher Eigenart und souveränem Können besticht. Eduard
Erdmann (1896-1958), einer der größten Pianisten des
Jahrhunderts, ist im lettischen Riga geboren. Er ist als Komponist
bis heute ein Geheimtip geblieben, doch hat er - beispielsweise
in vier Symphonien - die elaborierte freie Tonalität Schönbergs
an der Schwelle zum Zwölftonsystem auf persönliche, allen
Dogmen abholde Weise weiterentwickelt. Wie diejenigen seines Lehrers
Heinz Tiessen müssen seine Werke, die zu den Höhepunkten
des deutschen Expressionismus zählen, erst noch der Versenkung
entrissen werden.
Die symphonische Tradition im der Sowjetunion einverleibten Lettland
führten Janis Ivanovs (1906-83) mit 22 (!) Symphonien im Fahrwasser
von Schostakowitsch und Prokofjew, sowie Adolfs Skulte (geb. 1909)
und später Imants Kalnins (geb. 1941), fort. Zwischen Schostakowitsch-Einfluß
und folkloristisch angehauchtem Tonfall bewegt sich Romualds Kalsons
(geb. 1936). Unter den heutigen lettischen Komponisten ist Peteris
Vasks (geb. 1946) die führende Persönlichkeit. Mit den
führenden estnischen Tonsetzern teilt er die Neigung zu wehmütigem
Schönklang, verzückter Naturvision und innigem Gebet.
Doch sind seine Werke andererseits von delirierenden Abschnitten,
von Katastrophen durchsetzt, die an das harte Schicksal seines Volkes
erinnern sollen. Immer wieder sind es die Stimmen der Vögel,
die für ihn Vitalität symbolisieren in einer von Zerstörung
ihrer Grundlagen bedrohten Welt und in Korrespondenz mit der menschlichen
Stimme treten, die ganz profund der "Stimme des Gewissens"
gehorchen will. Er möchte Bekenntnis- und Naturmusiker zugleich
sein, seine Musik scheint aufzufordern: "Werde ein besserer
Mensch!" Peteris Vasks, Sohn eines baptistischen Priesters
in einem bis vor kurzem brutal unterdrückten Land, ist ein
Prediger in Tönen. Das Nebeneinander des Unvereinbaren, von
Idyll und Terror, ist zentrales Motiv. Chorwerke wie 'Litene' oder
'Zemgale' sind Vertonungen der schrecklichsten Tragödien des
lettischen Volkes, das orchestrale 'Lauda' dagegen ist ein instrumentaler
Lobgesang auf dessen ungebrochenen Überlebenswillen. Am unmittelbarsten
und natürlichsten spricht sich Vasks in seinen Werken für
Streichorchester aus.
Ein weiterer hervorragender Tonschöpfer dieser Generation ist
der 1947 geborene Peteris Plakidis.
Er strebt weniger die offenkundigen emotionalen Extreme als eine
stets balanciert ausdrucksvolle Klarheit an. Mit maximal diatonischer
Simplizität ("Weiße-Tasten-Musik"), hierin
vergleichbar einigen Werken des Finnen Erkki Salmenhaara, eroberte
Georgs Pelecis (geb. 1947) die Herzen des Publikums und verstieß
gegen ungeschriebene Gesetze elitärer Kritik. Dank Gidon Kremers
Einsatz ist sein Konzert für Klavier, Violine und Streicher
mit dem Titel "Nevertheless" mit bezaubernd einfachen
Schlußvariationen im Volkston auch hierzulande bekannt geworden.
Die reichste und kultivierteste musikalische Landschaft unter den
baltischen Ländern besitzt Estland. Und es ist der lebende
Beweis, daß eine große nationale Kultur das beste Fundament
bietet, um der völligen Zerschlagung gewachsener Identität
zu trotzen. Estland war Anfang der neunziger Jahre Schauplatz einer
in dieser Form einmaligen "Singing Revolution". Die Ursprünge
der nationalen Musik reichen in der Tradition des Runo-Lieds wenigstens
fünftausend Jahre zurück, so lange schon sind estnische
Stämme in der Region zuhause.
Die estnische Sprache erinnert den Fremden an das Finnische, wobei die Verwandtschaft
sich bei detaillierterer Betrachtung als nicht allzu eng herausstellt.
Legendär ist die hohe Qualität estnischen Chorgesangs,
der bis heute die Grundlage der Musikkultur bildet. In Sowjetzeiten
war der legendäre Chordirigent und beliebte Liederkomponist
Gustav Ernesaks (1908-93) die zentrale Persönlichkeit des volksnahen
estnischen Musiklebens. International wurde Anfang der achtziger
Jahre der Este Arvo Pärt zur Symbolfigur einer asketischen
Neotonalität, mit der er zu Weltruhm gekommen ist und wohl
auch den Grundstein für den weltweiten Gregorianik-Boom gesetzt
hat.
Der erste bedeutende estnische Komponist war Rudolf Tobias (1873-1918).
Sehr ergreifend sind einige seiner Chorwerke, so die a-cappella-Motette
vom Seher Kaiphas oder das Oratorium 'Des Jona Sendung'.
Die große nationale Schule verdankt Estland dem Wirken des
überragenden Heino Eller (1887-1970). Es ist Ellers immenses
Verdienst, daß er nicht eine, sondern viele Schulen begründet
hat, indem er jedem seiner Schüler dazu zu verhelfen suchte,
seinem eigenen Wuchs zu folgen. So haben fast alle bedeutenden Komponisten
der nächsten Generationen bei ihm studiert, darunter Eduard
Tubin, Boriss Parsadanian, Arvo Pärt, Jaan Rääts
und Lepo Sumera. Eller selbst war ein empfindsamer, schöngeistiger
Romantiker, dessen Werke vor allem die Aura des Zauberhaften, oft
Impressionistischen umgibt. In ihnen durchdringen sich vielerlei
Einflüsse, die er mit unprätentiösem Geschmack und
kunstvollem Farbenspiel in Balance bringt. Er benutzte die neuen
Techniken und blieb dabei in der Romantik verwurzelt. Eller hat
in Symphonie wie symphonischer Dichtung, in Kammer- und Klaviermusik
Zeitloses geschaffen. Sein Werk ist im Westen noch ganz unbekannt.
Ein bedeutender Zeitgenosse Ellers war Mart Saar (1882-1963), der
sich mit der Verwendung von Volksmelodien um eine nationale Tonsprache
bemühte.
Unter Heino Ellers Schülern wuchs Eduard Tubin (1905-82), der
1944 vor der Roten Armee nach Schweden floh und dort postum berühmt
wurde, zu Estlands zentralem Symphoniker heran. Anfangs, so in den
ersten zwei Symphonien, ist bei ihm noch das Leitbild Eller zu vernehmen.
In zehn vollendeten Symphonien entwickelte Tubin immer mehr eine
dunkel glühende Tonsprache mit massiven Kräfteballungen
und rhythmischen Ostinati. Faszinierend ist seine schillernde Stilfusion
vor allem in den Reifewerken ab der vierten Symphonie, wo sich zunehmend
Elemente symphonischer Tradition, altmeisterlicher Kontrapunktik,
barbarischer Rhythmik, zeitgenössischer Harmonik, estnischer
Folklore und authentischer Unterhaltungsmusik durchdringen und eine
organische Einheit bilden. Gerade die grellen Blüten trivialer
Tanzmusik, eingwoben im dramatischen Kontext des Finales der Fünften
oder in der orgiastisch aufgipfelnden Sechsten Symphonie, sind von
schlagender Originalität. Diese beiden Symphonien mit ihren
drastischen Stimmungsumschwüngen und der suggestiven Orchesterbehandlung
sind den stärksten Schöpfungen Schostakowitschs an die
Seite zu stellen. Am eigentümlichsten ist wohl seine sphinxartige,
extrem kontrastreiche Achte Symphonie von 1966 berührendes
Dokument stolzer Verzweiflung des einsamen Exilanten.
Zu Ellers markantesten Schülern gehört der Armenier Boriss
Parsadanian (geb. 1925), ein echter Symphoniker von unerbittlicher
Rauhheit, weitschwingender Linie und fern geschwätziger Sentimentalität.
Schostakowitsch hat seine Spuren in Parsadanians Sprache hinterlassen,
doch Parsadanians Formen- und Empfindungswelt ist in elf Symphonien
eine andere, mehr dem naturhaft Panoramischen zugewandte. Ester
Mägi (geb. 1922) hat es stets verstanden, mit zarter, musikantischer
Hand Folkloristisches elegant und geschmackssicher ihren Kompositionen
einzuverweben. Atmosphärische Tragfähigkeit und spielerische
Melancholie, typisch estnische Eigenschaften also, kennzeichnen
das dem Virtuosen nicht abgeneigte Werk des wirkungssicheren Symphonikers
Eino Tamberg (geb. 1930).
Der 1930 geborene Veljo Tormis hat seine ganze Schaffenskraft in
den Dienst der Wiederbelebung der uralten Runogesänge in zeitlos
modernem Gewand gestellt. Es ist ihm gelungen, einer rituell gebundenen
Kunst einen Großteil der originären Kraft zu erhalten,
indem er ihr den Schliff einer sich selbst genügenden Kunstform
gab. Die unbeschönigte Ursprünglichkeit seiner charakteristischen
Singzyklen läßt diese auf den Konzertpodien in aller
Welt Einzug halten. Jaan Rääts (geb. 1932) bewährte
sich als behender Maskenspieler zwischen den Zeitstilen, dessen
Stücke meist Perpetuum-mobile-Charakter haben, mit viel Witz,
Ideen und Schnittke-Nähe bestechen und gelegentlich zu mechanischem
Dahinschnurren tendieren.
Der Eller-Schüler Arvo Pärt (geb. 1935) war in den sechziger
Jahren ein passionierter, experimentierlustiger Avantgardist, der
mit glänzenden Collagen und technischer Radikalität auch
in Polen Aufsehen erregte. Doch Pärt suchte etwas anderes.
Mit seiner 1971 entstandenen dritten Symphonie schuf er ein Monument
von modern aufbereitetem Neo-Archaismus in effektiv-feierlichem
Orchestergewand. Seine Suche ging in der Stille weiter, und Mitte
der siebziger Jahre hatte er den seither gültigen Tintinnabuli-Stil
gefunden. 'Tintinnabuli' heißt Glöckchen-Klingeln. Ein
Dreiklang ist das Reinheits-Referenzsystem für eine ganze Komposition
oder wenigstens einen Abschnitt derselben, und so ist die Idee einer
harmonischen Entwicklung hinfällig: Töne dieses Dreiklangs
sind ständig präsent und vergegenwärtigen das Unvergängliche,
aufgrund dessen alles Veränderliche stattfindet. Ein ganz neues
Spiel von Kon- und Dissonanz entsteht, die Zusammenstöße
finden nicht auf der gleichen Ebene statt. Das Tintinnabuli gleicht
einer getönten Brille, und jede andere Farbe wird nur in ihrer
Durchdringung mit der Grundtönung sichtbar. Tintinnabuli garantiert
die Schönheit der Dissonanz, hat die Funktion prästabilierter
Harmonie, schließt in seiner Unablenkbarkeit emotionalen Exzeß
aus. Zu Pärts berühmtesten Werken gehören die geistlichen
Kompositionen 'Stabat Mater', 'Johannes-Passion', 'Miserere' und
der in mystischem alt-kirchenslawisch gehaltene 'Kanon Pokajanen',
aber auch Instrumentales wie die unzähligen Fassungen von 'Fratres',
der 'Cantus in memory of Benjamin Britten', 'Festina lente' und
das Violindoppelkonzert 'Tabula Rasa'.
Kuldar Sink (1942-95), der auf tragische Weise in den Flammen seines
Hauses umkam, eignete sich die avantgardistischen Mittel an, um
sie in gewählter Weise mit folkloristischen Charakteristika,
die er teils in der zentralasiatischen Sowjetunion kennengelernt
hatte, zu einer höheren Einheit zu verbinden. Der 1950 geborene
Lepo Sumera war der letzte Schüler Heino Ellers und ist heute
mit bisher fünf Symphonien Estlands führender Symphoniker.
Souverän in technischer Detailarbeit und kühner Formdisposition,
und unerhört fantasievoll in der Anwendung orchestraler Mittel,
hat er der symphonischen Idee ein neues Expansionsfeld eröffnet.
In seinen letzten Werken arbeitet er zunehmend mit exakt umrissener
Aleatorik im Grenzbereich improvisatorischer und streng kalkulierter
Wirkung. Sumera durchdringt die changierenden Klangfelder mit machtvoller
Emotion, die auf tonalen Prinzipien beruht, und schafft so im Hörer
- nicht unähnlich dem Georgier Giya Kancheli - suggestiv sich
verändernde und umbrechende Zustände voller Spannung und
Magie. In seinen Werken manifestiert sich der estnische Geist, der
alle sowjetischen Verdrängungsmechanismen überstanden
hat, in ähnlich unverstellter Form wie der überbordende
Leidensdruck und Freiheitswille der Letten in den Kompositionen
von Peteris Vasks. Sumera hat auch politische Verantwortung wahrgenommen
und nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit die kulturelle
Verfassung des kleinen Landes als Minister in neue Bahnen gelenkt.
Der 1949 geborene Raimo Kangro und der 1959 geborene Erkki-Sven
Tüür haben beide Erfahrungen als ambitioniert kunstfertige
Rockmusiker gesammelt. In Kangros originellem Werk tut eine in wohldosierte
Verrücktheit überdrehte Folklore erfrischende Wirkung,
alles quillt über vor Lebendigkeit. Tüür ist Schüler
Sumeras und war zunächst Kopf der von King Crimson inspirierten
Art-Rock-Band 'In Spe'. In seinen sieben Architectonics sind die
virtuosen Rock-Roots unüberhörbar. Doch unablässig
weitet sich das stilistische Spektrum von Tüürs technisch
versiertem Schaffen, und sehr Unterschiedliches wie das ätherische
Requiem, in satten Farben gesetzte Streicherwerke, eher experimentell
angelegte Orchestermusik haben Platz darin. Den Gipfel von Tüürs
bisherigem Schaffen markieren ein lyrisches Cellokonzert und die
kraftvoll geformte Dritte Symphonie, mit welcher er an die Seite
seines Lehrers Sumera tritt. René Eespere (geb. 1953) ist
der Anführer des sogenannten estnischen Minimalismus und hat
mit 'Trivium' Kammermusik von betörender Schönheit geschrieben.
Urmas Sisask (geb. 1960) hat nicht nur Estlands erstes Planetarium
gebaut, sondern folgerichtig auch einen einstündigen 'Sternenhimmel-Zyklus'
für Klavier geschrieben. Seine umfangreiche Chormusik, darunter
die 24 'Gloria Patri'-Hymnen und das Weihnachtsoratorium, wandelt
auf den Bahnen Arvo Pärts weiter und stößt auf große
Publikumsresonanz.
Estland konnte als kleine Nation einen authentischen Tonfall ausbilden,
der einzigartig dasteht und überall auf der Welt Komponisten
und Interpreten suggestiv anzieht. Auch die hochemotionale lettische
Musik erobert sich, angeführt von Peteris Vasks' botschaftsgetränkten
Bekenntnissen, mehr und mehr eine überall wahrnehmbare Position.
Noch sind in Litauen solche Tendenzen nicht zu vernehmen, aber auch
von der Invasion lettischer Klänge hat man vor einigen Jahren
nichts geahnt. Das Baltikum nimmt, unter dem Eindruck durchaus drängender
materieller Nöte, aber auch mit der unverbrauchten Motivation
der der Unterdrückung Entwichenen, heute eine geistige Mittlerrolle
zwischen Ost und West ein, indem es nicht mehr nur ein melting pot
unterschiedlichster kultureller Strömungen ist, sondern mit
seiner schwer errungenen Eigenständigkeit prunken darf. Das
Joch ist abgeworfen, die Welt steht offen - mehr noch: Sie schaut
auf diese unbeugsamen Kleinstaaten. Daß nach wie vor der bedrohliche
Schatten des großen Bruders im Osten lauert, ist nicht nur
ein Unglück, sondern hält wach und die drohende Lethargie
westlicher Übersättigung in Schach, bremst die zunehmende
Amerikanisierung. Denn der innere Widerstand existiert weiter, in
drei deutlich voneinander unterschiedenen musikalischen Welten,
und schenkt seine Impulse der weiten, großen restlichen Welt. |