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MUSIK AUS DEM BALTIKUM

Drei Welten des inneren Widerstands

Noch Mitte der siebziger Jahre spielte Musik aus dem Baltikum international praktisch keine Rolle. Einige Kenner kannten ein paar Stücke von Arvo Pärt, eher aber noch Werke von Exil-Balten, die sich in Schweden, Kanada und andernorts niedergelassen hatten. Heute hat sich die Situation grundlegend verändert. Die baltische Musik hat geradezu einen Siegeszug um die Welt angetreten und ist längst noch nicht auf dem Gipfel ihrer Popularität angelangt. Dies hängt auch mit der immer offenkundigeren Publikumskrise der etablierten westlichen Avantgarde-Szene zusammen, und es ist nicht weiter verwunderlich, wenn einige der führenden estnischen Komponisten entscheidende Erfahrungen als Rockmusiker gesammelt haben. Fragen muß man sich jedoch: Wie können so kleine Länder wie die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen solche musikalische Signifikanz bekommen? Ein wichtiger Grund ist die traditionelle Mittlerposition zwischen West- und Osteuropa, oder besser: zwischen dem übermächtigen Nachbarn Rußland und dem restlichen Europa. Insbesondere Riga war eine richtige Kulturmetropole und eng mit Namen wie Richard Wagner, Friedrich Smetana, Modest Mussorgskij, Edvard Grieg oder Jean Sibelius verbunden. Es gibt zum Beispiel Untersuchungen, die von einer vorübergehende Beeinflussung Wagners durch die lettische Kultur ausgehen.
Was den Klängen aus dem Baltikum besondere Aktualität verleiht, ist der Ausdruck von Leid und Trauer, von Verzweiflung und Hoffnung, die Errichtung des Schönen und Unschuldsvollen als Gegenbild zur bitteren äußeren Realität. Die Balten haben schwer gelitten seit der Okkupation durch die Sowjets, sie wurden systematischer Russifizierung unterworfen und mußten um ihre Authentizität, um den Erhalt ihrer Kultur fürchten. Umso mehr pflegten sie diese Traditionen, schützten vielfach die Insignien nationaler Identität unter dem Mantel der kulturellen Vielfalt der vereinten Sowjetvölker. Die emotionale Kontinuität und Unmittelbarkeit, das Streben nach Aufrichtigkeit und Schönheit als Gegenwelt zu alltäglicher Erniedrigung und Gängelung ziehen viele Hörer magisch an. Der religiöse Aspekt ist von zentraler Bedeutung, Naivität und Durchlässigkeit treten an die Stelle von Infragestellen und Verweigern. Das bedeutet keine Reduzierung des Konfliktpotentials. Vielmehr wird der Konfliktstoff aus dem direkten Erleben von Situationen und den damit korrespondierenden menschlichen Regungen bezogen, nicht so sehr aber aus ästhetischen Erwägungen, aus dialektischem Denken heraus. Was zählt, ist primär die intuitive Ebene, der nicht-denkerische Kontakt über den Klang.
Die schicksalhaften Gemeinsamkeiten, die geographische Nähe, der introvertierte, moll-lastige Grundzug ihrer Musik prägen das übergeordnete Bild im Baltikum. Doch die drei Länder unterscheiden sich gewaltig. Sie haben alle ihre eigenen Traditionen, ihre eigene Musikgeschichte, ihre eigenen Schulen, ihre unverkennbare künstlerische Mentalität.
Den anderen voran ist Litauen ein Korridor stilistischer und ästhetischer Verschiebungen und Verwerfungen im Fadenkreuz zwischen russischer Seele und Monumentalität, polnischen Salonfeuern und Avantgardegeschützen einerseits, zwischen nordbaltisch-skandinavischer Elegie und Verhaltenheit, südslawischem Musikantentum andererseits. Wie in allen baltischen Ländern ist auch in Litauen die a-cappella-Chormusik die allgegenwärtige Basis musikalischen Empfindens und Schaffens. Der erste bedeutende litauische Komponist war jener Kulturheros, mit dem sich das litauische Volk seither am meisten identifiziert: der Dichter, Maler und Tonsetzer Mikolajus Konstantinas Ciurlionis (1875-1911), der in seinem kurzen Leben vor allem als einer der fantastischsten Meister symbolistischer Malerei zu visionären Höhen vordrang. Dagegen starb Ciurlionis zu früh, um eine wirklich eigenständige Tonsprache zu kultivieren. In dem 1903-07 komponierten symphonischen Gedicht 'Jura' ('Das Meer') sind Richard Strauss, Debussy und Tschaikowskij als Vorbilder noch zu erkennen, doch ihre Einflüsse sind verschmolzen zu einem eigengesetzlichen Ganzen. Dieses Werk lehrt, daß Ciurlionis für die litauische Musik eine ähnliche Position hätte bestimmen können wie Karol Szymanowski für die polnische. Bei Ciurlionis kommt eine Qualität atmosphärischer Dichte und Weite hinzu, die für die baltische Region typisch ist, ein unentwegter Hauch von schwermütiger Idylle. Ciurlionis ist der Prototyp eines Malers in Tönen, der eine aus sich selbst wachsende Landschaft entwirft, ein Panorama modulierender Farben und Impressionen. Er schuf einen unversieglichen Fundus an Klavierminiaturen, die irgendwo zwischen Chopin und frühem Scriabin angesiedelt und heute noch sehr beliebt sind.
Nach Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1918 setzte in Litauen eine Welle von folkloristisch inspirierter Nationalmusik ein. Es bestand Nachholbedarf. Der Spätromantiker Juozas Gruodis (1884-1948) bezeichnete sich als "litauischer Grieg". Dagegen war Vytautas Bacevicius (1905-70, Bruder der polnischen Komponistin Grazyna Bacewicz) zunächst ein von den Maschinenmusiken Honeggers und Mossolows angeregter Modernist, was sich im Paradestück des litauischen Expressionismus, dem 'Poème électrique' von 1932, niederschlug. 1940, im Jahr der Annexion durch die Sowjets, emigrierte Bacevicius nach New York, wo er als brillanter Pianist reüssierte und sein Komponieren - wie dasjenige vieler Emigranten - in neoklassizistischere Bahnen geriet.
In den sechziger Jahren kam Litauen unter den Einfluß der neuen polnischen Avantgarde-Euphorie. Wegweiser des Anschlusses an internationale Entwicklungen waren Eduardas Balsys (1919-84) und Julius Juzeliunas (geb. 1916). Eher im intellektuell durchbrochenen Feld zwischen polnischer und russischer Moderne als in der Nähe zu den zwei anderen baltischen Ländern ist Litauens musikalische Stellung heute zu orten. Der 1928 geborene Antanas Rekasius ist der Hauptvertreter des Collage-Stils und hat äußerst wirkungsvolle, drastisch Tonales mit Clustern aufmischende Stücke geschrieben. Die unbefangen synthetische Sprache von Vytautas Barkauskas (geb. 1931) steht in ihrem musikantischen Explorationsgeist exemplarisch für das sprunghafte Denken zwischen den Welten. Bronius Kutavicius (geb. 1932) sucht archaische Riten und neue Klangmittel zu emotional fesselnden Tonmythen zu verbinden. Der Reiz des Irregulären entstammt beim 1934 geborenen Feliksas Bajoras der Übereignung folkloristischer Ausdruckswerte in ökonomisch ausgesparte Texturen. Osvaldas Balakauskas (geb. 1937) gilt international als der führende litauische Komponist. Seine Werke zeichnen sich durch klare, bestimmte Konstruktion, durch wirkungssicheren Aufbau aus. Aus seriellen Erfahrungen hat er persönliche modale Verfahren entwickelt. Manche seiner Werke strahlen eine abgründige Hoffnungslosigkeit aus (Ostrobothnian Symphony), andere sind von geradlinig rockiger Aggressivität. Eine eminente Begabung ist die 1956 geborene Onute Narbutaite, deren 'Opus Lugubre' für Streicher spinnwebenhafte Assoziationsgabe, äußerste Empfindsamkeit für geisterhafte Klanglichkeiten offenlegt.
In Lettland war traditionell der deutsche Einfluß bestimmend. Wie die litauische ist auch die lettische neuere Musikkultur international unzureichend dokumentiert. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß in Lettland der Leidensdruck unter dem sowjetischen Joch stärker war, die Russifizierung im mittleren baltischen Staat unnachgiebiger durchgeführt wurde als bei den Nachbarn: Viele lettische Musik neuerer Zeit verströmt insbesondere in der Chorliteratur unstillbaren Ausdrucksbedarf, expressive Intensität, emotionale Aufgewühltheit, wie sie in Estland und Litauen eher die Ausnahme sind. Und auch die Chöre, so der phänomenale Rundfunkchor, besitzen eine urtümliche, niederschmetternde Ausdruckskraft, zu der Vergleichbares sich schwerlich ausmachen läßt. Lettlands erster Symphoniker war der in bester russischer Orchestrationsmanier ausgebildete Jazeps Vitols (1863-1948), ein Nationalromantiker mit Drang zu universeller Aussage. Eine hochinteressante Figur ist der nach Kanada emigrierte Vitols-Schüler Talivaldis Kenins (geb. 1919), dessen eklektizistisches Idiom auf instrumentalem Gebiet (wo er gerne konzertante Formen pflegt) und im Chorschaffen mit hoher Eigenart und souveränem Können besticht. Eduard Erdmann (1896-1958), einer der größten Pianisten des Jahrhunderts, ist im lettischen Riga geboren. Er ist als Komponist bis heute ein Geheimtip geblieben, doch hat er - beispielsweise in vier Symphonien - die elaborierte freie Tonalität Schönbergs an der Schwelle zum Zwölftonsystem auf persönliche, allen Dogmen abholde Weise weiterentwickelt. Wie diejenigen seines Lehrers Heinz Tiessen müssen seine Werke, die zu den Höhepunkten des deutschen Expressionismus zählen, erst noch der Versenkung entrissen werden.
Die symphonische Tradition im der Sowjetunion einverleibten Lettland führten Janis Ivanovs (1906-83) mit 22 (!) Symphonien im Fahrwasser von Schostakowitsch und Prokofjew, sowie Adolfs Skulte (geb. 1909) und später Imants Kalnins (geb. 1941), fort. Zwischen Schostakowitsch-Einfluß und folkloristisch angehauchtem Tonfall bewegt sich Romualds Kalsons (geb. 1936). Unter den heutigen lettischen Komponisten ist Peteris Vasks (geb. 1946) die führende Persönlichkeit. Mit den führenden estnischen Tonsetzern teilt er die Neigung zu wehmütigem Schönklang, verzückter Naturvision und innigem Gebet. Doch sind seine Werke andererseits von delirierenden Abschnitten, von Katastrophen durchsetzt, die an das harte Schicksal seines Volkes erinnern sollen. Immer wieder sind es die Stimmen der Vögel, die für ihn Vitalität symbolisieren in einer von Zerstörung ihrer Grundlagen bedrohten Welt und in Korrespondenz mit der menschlichen Stimme treten, die ganz profund der "Stimme des Gewissens" gehorchen will. Er möchte Bekenntnis- und Naturmusiker zugleich sein, seine Musik scheint aufzufordern: "Werde ein besserer Mensch!" Peteris Vasks, Sohn eines baptistischen Priesters in einem bis vor kurzem brutal unterdrückten Land, ist ein Prediger in Tönen. Das Nebeneinander des Unvereinbaren, von Idyll und Terror, ist zentrales Motiv. Chorwerke wie 'Litene' oder 'Zemgale' sind Vertonungen der schrecklichsten Tragödien des lettischen Volkes, das orchestrale 'Lauda' dagegen ist ein instrumentaler Lobgesang auf dessen ungebrochenen Überlebenswillen. Am unmittelbarsten und natürlichsten spricht sich Vasks in seinen Werken für Streichorchester aus.
Ein weiterer hervorragender Tonschöpfer dieser Generation ist der 1947 geborene Peteris Plakidis.
Er strebt weniger die offenkundigen emotionalen Extreme als eine stets balanciert ausdrucksvolle Klarheit an. Mit maximal diatonischer Simplizität ("Weiße-Tasten-Musik"), hierin vergleichbar einigen Werken des Finnen Erkki Salmenhaara, eroberte Georgs Pelecis (geb. 1947) die Herzen des Publikums und verstieß gegen ungeschriebene Gesetze elitärer Kritik. Dank Gidon Kremers Einsatz ist sein Konzert für Klavier, Violine und Streicher mit dem Titel "Nevertheless" mit bezaubernd einfachen Schlußvariationen im Volkston auch hierzulande bekannt geworden. Die reichste und kultivierteste musikalische Landschaft unter den baltischen Ländern besitzt Estland. Und es ist der lebende Beweis, daß eine große nationale Kultur das beste Fundament bietet, um der völligen Zerschlagung gewachsener Identität zu trotzen. Estland war Anfang der neunziger Jahre Schauplatz einer in dieser Form einmaligen "Singing Revolution". Die Ursprünge der nationalen Musik reichen in der Tradition des Runo-Lieds wenigstens fünftausend Jahre zurück, so lange schon sind estnische Stämme in der Region zuhause.

Die estnische Sprache erinnert den Fremden an das Finnische, wobei die Verwandtschaft sich bei detaillierterer Betrachtung als nicht allzu eng herausstellt. Legendär ist die hohe Qualität estnischen Chorgesangs, der bis heute die Grundlage der Musikkultur bildet. In Sowjetzeiten war der legendäre Chordirigent und beliebte Liederkomponist Gustav Ernesaks (1908-93) die zentrale Persönlichkeit des volksnahen estnischen Musiklebens. International wurde Anfang der achtziger Jahre der Este Arvo Pärt zur Symbolfigur einer asketischen Neotonalität, mit der er zu Weltruhm gekommen ist und wohl auch den Grundstein für den weltweiten Gregorianik-Boom gesetzt hat.
Der erste bedeutende estnische Komponist war Rudolf Tobias (1873-1918). Sehr ergreifend sind einige seiner Chorwerke, so die a-cappella-Motette vom Seher Kaiphas oder das Oratorium 'Des Jona Sendung'.
Die große nationale Schule verdankt Estland dem Wirken des überragenden Heino Eller (1887-1970). Es ist Ellers immenses Verdienst, daß er nicht eine, sondern viele Schulen begründet hat, indem er jedem seiner Schüler dazu zu verhelfen suchte, seinem eigenen Wuchs zu folgen. So haben fast alle bedeutenden Komponisten der nächsten Generationen bei ihm studiert, darunter Eduard Tubin, Boriss Parsadanian, Arvo Pärt, Jaan Rääts und Lepo Sumera. Eller selbst war ein empfindsamer, schöngeistiger Romantiker, dessen Werke vor allem die Aura des Zauberhaften, oft Impressionistischen umgibt. In ihnen durchdringen sich vielerlei Einflüsse, die er mit unprätentiösem Geschmack und kunstvollem Farbenspiel in Balance bringt. Er benutzte die neuen Techniken und blieb dabei in der Romantik verwurzelt. Eller hat in Symphonie wie symphonischer Dichtung, in Kammer- und Klaviermusik Zeitloses geschaffen. Sein Werk ist im Westen noch ganz unbekannt. Ein bedeutender Zeitgenosse Ellers war Mart Saar (1882-1963), der sich mit der Verwendung von Volksmelodien um eine nationale Tonsprache bemühte.
Unter Heino Ellers Schülern wuchs Eduard Tubin (1905-82), der 1944 vor der Roten Armee nach Schweden floh und dort postum berühmt wurde, zu Estlands zentralem Symphoniker heran. Anfangs, so in den ersten zwei Symphonien, ist bei ihm noch das Leitbild Eller zu vernehmen. In zehn vollendeten Symphonien entwickelte Tubin immer mehr eine dunkel glühende Tonsprache mit massiven Kräfteballungen und rhythmischen Ostinati. Faszinierend ist seine schillernde Stilfusion vor allem in den Reifewerken ab der vierten Symphonie, wo sich zunehmend Elemente symphonischer Tradition, altmeisterlicher Kontrapunktik, barbarischer Rhythmik, zeitgenössischer Harmonik, estnischer Folklore und authentischer Unterhaltungsmusik durchdringen und eine organische Einheit bilden. Gerade die grellen Blüten trivialer Tanzmusik, eingwoben im dramatischen Kontext des Finales der Fünften oder in der orgiastisch aufgipfelnden Sechsten Symphonie, sind von schlagender Originalität. Diese beiden Symphonien mit ihren drastischen Stimmungsumschwüngen und der suggestiven Orchesterbehandlung sind den stärksten Schöpfungen Schostakowitschs an die Seite zu stellen. Am eigentümlichsten ist wohl seine sphinxartige, extrem kontrastreiche Achte Symphonie von 1966 – berührendes Dokument stolzer Verzweiflung des einsamen Exilanten.
Zu Ellers markantesten Schülern gehört der Armenier Boriss Parsadanian (geb. 1925), ein echter Symphoniker von unerbittlicher Rauhheit, weitschwingender Linie und fern geschwätziger Sentimentalität. Schostakowitsch hat seine Spuren in Parsadanians Sprache hinterlassen, doch Parsadanians Formen- und Empfindungswelt ist in elf Symphonien eine andere, mehr dem naturhaft Panoramischen zugewandte. Ester Mägi (geb. 1922) hat es stets verstanden, mit zarter, musikantischer Hand Folkloristisches elegant und geschmackssicher ihren Kompositionen einzuverweben. Atmosphärische Tragfähigkeit und spielerische Melancholie, typisch estnische Eigenschaften also, kennzeichnen das dem Virtuosen nicht abgeneigte Werk des wirkungssicheren Symphonikers Eino Tamberg (geb. 1930).
Der 1930 geborene Veljo Tormis hat seine ganze Schaffenskraft in den Dienst der Wiederbelebung der uralten Runogesänge in zeitlos modernem Gewand gestellt. Es ist ihm gelungen, einer rituell gebundenen Kunst einen Großteil der originären Kraft zu erhalten, indem er ihr den Schliff einer sich selbst genügenden Kunstform gab. Die unbeschönigte Ursprünglichkeit seiner charakteristischen Singzyklen läßt diese auf den Konzertpodien in aller Welt Einzug halten. Jaan Rääts (geb. 1932) bewährte sich als behender Maskenspieler zwischen den Zeitstilen, dessen Stücke meist Perpetuum-mobile-Charakter haben, mit viel Witz, Ideen und Schnittke-Nähe bestechen und gelegentlich zu mechanischem Dahinschnurren tendieren.
Der Eller-Schüler Arvo Pärt (geb. 1935) war in den sechziger Jahren ein passionierter, experimentierlustiger Avantgardist, der mit glänzenden Collagen und technischer Radikalität auch in Polen Aufsehen erregte. Doch Pärt suchte etwas anderes. Mit seiner 1971 entstandenen dritten Symphonie schuf er ein Monument von modern aufbereitetem Neo-Archaismus in effektiv-feierlichem Orchestergewand. Seine Suche ging in der Stille weiter, und Mitte der siebziger Jahre hatte er den seither gültigen Tintinnabuli-Stil gefunden. 'Tintinnabuli' heißt Glöckchen-Klingeln. Ein Dreiklang ist das Reinheits-Referenzsystem für eine ganze Komposition oder wenigstens einen Abschnitt derselben, und so ist die Idee einer harmonischen Entwicklung hinfällig: Töne dieses Dreiklangs sind ständig präsent und vergegenwärtigen das Unvergängliche, aufgrund dessen alles Veränderliche stattfindet. Ein ganz neues Spiel von Kon- und Dissonanz entsteht, die Zusammenstöße finden nicht auf der gleichen Ebene statt. Das Tintinnabuli gleicht einer getönten Brille, und jede andere Farbe wird nur in ihrer Durchdringung mit der Grundtönung sichtbar. Tintinnabuli garantiert die Schönheit der Dissonanz, hat die Funktion prästabilierter Harmonie, schließt in seiner Unablenkbarkeit emotionalen Exzeß aus. Zu Pärts berühmtesten Werken gehören die geistlichen Kompositionen 'Stabat Mater', 'Johannes-Passion', 'Miserere' und der in mystischem alt-kirchenslawisch gehaltene 'Kanon Pokajanen', aber auch Instrumentales wie die unzähligen Fassungen von 'Fratres', der 'Cantus in memory of Benjamin Britten', 'Festina lente' und das Violindoppelkonzert 'Tabula Rasa'.
Kuldar Sink (1942-95), der auf tragische Weise in den Flammen seines Hauses umkam, eignete sich die avantgardistischen Mittel an, um sie in gewählter Weise mit folkloristischen Charakteristika, die er teils in der zentralasiatischen Sowjetunion kennengelernt hatte, zu einer höheren Einheit zu verbinden. Der 1950 geborene Lepo Sumera war der letzte Schüler Heino Ellers und ist heute mit bisher fünf Symphonien Estlands führender Symphoniker. Souverän in technischer Detailarbeit und kühner Formdisposition, und unerhört fantasievoll in der Anwendung orchestraler Mittel, hat er der symphonischen Idee ein neues Expansionsfeld eröffnet. In seinen letzten Werken arbeitet er zunehmend mit exakt umrissener Aleatorik im Grenzbereich improvisatorischer und streng kalkulierter Wirkung. Sumera durchdringt die changierenden Klangfelder mit machtvoller Emotion, die auf tonalen Prinzipien beruht, und schafft so im Hörer - nicht unähnlich dem Georgier Giya Kancheli - suggestiv sich verändernde und umbrechende Zustände voller Spannung und Magie. In seinen Werken manifestiert sich der estnische Geist, der alle sowjetischen Verdrängungsmechanismen überstanden hat, in ähnlich unverstellter Form wie der überbordende Leidensdruck und Freiheitswille der Letten in den Kompositionen von Peteris Vasks. Sumera hat auch politische Verantwortung wahrgenommen und nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit die kulturelle Verfassung des kleinen Landes als Minister in neue Bahnen gelenkt.
Der 1949 geborene Raimo Kangro und der 1959 geborene Erkki-Sven Tüür haben beide Erfahrungen als ambitioniert kunstfertige Rockmusiker gesammelt. In Kangros originellem Werk tut eine in wohldosierte Verrücktheit überdrehte Folklore erfrischende Wirkung, alles quillt über vor Lebendigkeit. Tüür ist Schüler Sumeras und war zunächst Kopf der von King Crimson inspirierten Art-Rock-Band 'In Spe'. In seinen sieben Architectonics sind die virtuosen Rock-Roots unüberhörbar. Doch unablässig weitet sich das stilistische Spektrum von Tüürs technisch versiertem Schaffen, und sehr Unterschiedliches wie das ätherische Requiem, in satten Farben gesetzte Streicherwerke, eher experimentell angelegte Orchestermusik haben Platz darin. Den Gipfel von Tüürs bisherigem Schaffen markieren ein lyrisches Cellokonzert und die kraftvoll geformte Dritte Symphonie, mit welcher er an die Seite seines Lehrers Sumera tritt. René Eespere (geb. 1953) ist der Anführer des sogenannten estnischen Minimalismus und hat mit 'Trivium' Kammermusik von betörender Schönheit geschrieben. Urmas Sisask (geb. 1960) hat nicht nur Estlands erstes Planetarium gebaut, sondern folgerichtig auch einen einstündigen 'Sternenhimmel-Zyklus' für Klavier geschrieben. Seine umfangreiche Chormusik, darunter die 24 'Gloria Patri'-Hymnen und das Weihnachtsoratorium, wandelt auf den Bahnen Arvo Pärts weiter und stößt auf große Publikumsresonanz.
Estland konnte als kleine Nation einen authentischen Tonfall ausbilden, der einzigartig dasteht und überall auf der Welt Komponisten und Interpreten suggestiv anzieht. Auch die hochemotionale lettische Musik erobert sich, angeführt von Peteris Vasks' botschaftsgetränkten Bekenntnissen, mehr und mehr eine überall wahrnehmbare Position. Noch sind in Litauen solche Tendenzen nicht zu vernehmen, aber auch von der Invasion lettischer Klänge hat man vor einigen Jahren nichts geahnt. Das Baltikum nimmt, unter dem Eindruck durchaus drängender materieller Nöte, aber auch mit der unverbrauchten Motivation der der Unterdrückung Entwichenen, heute eine geistige Mittlerrolle zwischen Ost und West ein, indem es nicht mehr nur ein melting pot unterschiedlichster kultureller Strömungen ist, sondern mit seiner schwer errungenen Eigenständigkeit prunken darf. Das Joch ist abgeworfen, die Welt steht offen - mehr noch: Sie schaut auf diese unbeugsamen Kleinstaaten. Daß nach wie vor der bedrohliche Schatten des großen Bruders im Osten lauert, ist nicht nur ein Unglück, sondern hält wach und die drohende Lethargie westlicher Übersättigung in Schach, bremst die zunehmende Amerikanisierung. Denn der innere Widerstand existiert weiter, in drei deutlich voneinander unterschiedenen musikalischen Welten, und schenkt seine Impulse der weiten, großen restlichen Welt.