Wenn Peteris Vasks, der wahrscheinlich wichtigste Komponist, den Lettland je
hatte, über jene Zeiten spricht, die nun - und man kann nur
hoffen: auch weiterhin - überwunden sind; wenn er mit jeder
Faser seines Gemüts zu übermitteln sucht, was es bedeutete,
ein nichtiger Lette zu sein im russifizierten Sowjetstaat - "du
bist kein Sowjetmensch"; wenn er von jener allerletzten Zeit
vor dem Zerfall spricht, mit jenem charakteristischen Zittern in
der Stimme, jener bebenden Gebärde, die man auch in seiner
Musik zu vernehmen vermeint - "alles war in Alkohol versunken,
so tief, es war gar nicht möglich, daß das noch weiterging..."
Und wenn wir von alledem nichts wüßten, erführen
wir davon aus seiner tönenden Klage? Die Letten, die mit mehr
Mut der Verzweiflung als die übrigen Balten um ihre Identität
ringen mußten, die noch kaum Raum in ihren Gehirnen haben
für die kommenden Probleme der Integration, ohne deren sanfte
Bewältigung das kleine Land keine Überlebenschancen haben
wird, sie empfinden Vasks' Stimme als ihre tönende Not - seine
"Botschaft", so auch der Titel einer Conifer-Veröffentlichung,
ist nun weltweit widerhallender Hilferuf. Musica dolorosa von 1983,
seine intensivste Komposition, ist persönliche Klage um die
verstorbene Schwester und - nicht intendierte - Trauermusik der
hilflos ausgelieferten lettischen Nation, deren Hohelied das großorchestrale
"Lauda" besingt, ebenso wie das Englischhorn-Konzert erstmals
auf CD erhältlich. Vasks' Ausdruckswelt zeichnet sich aus durch
Unmittelbarkeit, schutzlose Einfachheit - seine Wehrhaftigkeit gegenüber
der Kritik der westlichen Welt gleicht derjenigen amerikanischer
Ballonfahrer im Visier weißrussischer Abfangjäger...
- und echte, uneitle Aufrichtigkeit. Es ist eine Kunst, die jedem
etwas sagen kann außer dem, der Doppelbödigkeit, Raffinesse
und intellektuelle Vergnügungsreisen sucht - Volkskunst, wenn
man's recht versteht. Problematisch ist dabei sicher die nationalistische
Ausdeutung im eigenen Land. Problematisch könnte auch noch
eins werden: wohin soll's weitergehen mit der Vasksschen Klangwelt?
"Lutoslawski ist mein Lieblingskomponist" - auch hier
keine Schönung der Aussage. Aber, lieber Peteris, es ist höchste
Zeit, Dich von dieser Liebe loszusagen! Denn diese Liebe bindet
an Gewesenes. Wohin, Vasks? Wohin, Lettland? Die Einspielung der
Rigaer Philharmoniker hätte übrigens eine professionellere
Leitung verdient.
Das wird schlagend deutlich, wenn man das frühe Cantabile per
archi mit dem Ostbottnischen Kammerorchester unter Juha Kangas anhört
- hier gewinnt das Stück erst die tatsächliche Schlichtheit
und entfaltet zugleich eine sehr persönliche Aura der Empfindungen.
Die Symphonie "Stimmen" ist Vasks' reichstes Tönerevier,
ein Werk auch mit viel Licht, zumal im Mittelsatz "Stimmen
des Lebens" - was ihm, wie auch anderswo, vor allem Vogelgesang
ist. Grund und Rahmen für die heißblütigen Zwitscherer
bilden die "Stimmen der Stille" und die "Stimme des
Gewissens", die die Schlußworte intoniert. Ein gewinnenderes
Plädoyer als durch Kangas kann Vasks wohl nirgends bekommen
- um so bedauerlicher, daß die Einspielung der Musica dolorosa
Kangas' Ansprüchen nicht genügte, was Vasks sehr traurig
stimmte. Erschienen ist's jedenfalls nicht, so daß hierfür
weiter auf die Wergo-CD verwiesen sei. Peteris Vasks' Stimme ist
erfüllt von Schmerz und Trauer, und das kann sehr suggestiv
sein.
Die litauischen Kompositionen auf den zwei Baltikum-CDs der Ostbottnier
sind ein Fadenkreuzbeleg: hier Russland, dort Polen. Hochinteressant
Gewebtes steht neben blassem Tonsatzdunst. Bronius Kutavicius neigt
in "Northern Gates" zum alle Sentimentalität bannenden
Ritual aus Scheinglocken, stimmlosem Sprechrhythmus und austrocknenden
Kontrapunkten. Jurgis Juozapaitis' "Perpetuum mobile"
ist eine bewegungsbeflissene Wenigkeit, wogegen die "Litauische
Volksmusik" von Mindaugas Urbaitis sich endlos wabernd in sich
selbst verliert - auch einen Pärt gibt's nur einmal... Die
"Ostrobothnian Symphony" von Osvaldas Balakauskas redet
von Sprachlosigkeit, weist zur Ratlosigkeit, ist tönende Trostlosigkeit
- es gibt keine Antwort, weil es keine Frage mehr gibt. Zur Depressionsförderung
empfohlen, aber nicht zu hoch zu dosieren... Die 1956 geborene Onute
Narbutaite hat mit "Opus lugubre" ein schattenhaft flirrendes
Gebilde entworfen, das stets Skizze zu bleiben ihr gelungen ist.
Melodisches Fluidum an allen Windungen, aber selten zur Linie sich
sammelnd, dann im Auf- und Abtauchen der Komponenten einer Dreitonballung
verharrend. Immer wieder Fragezeichen unterschiedlicher Herkunft,
alles dichte Skizze in weithin schillerndem Gewand - eine herrliche
Klangstudie auch für das fantastische Ensemble. Die "Musik
für Streicher" schließlich von Antanas Rekasius
ist ein Effektstück par excellence, Nyman-Konsonanz und -Quadratrhythmik
stößt kalkuliert wild auf böseste polnische Dissonanzwerfer
- spotlight on collision course, und es macht immer wieder barbarisch
Eindruck. Der estnische Beitrag kommt von Erkki-Sven Tüür:
"Insula deserta", ein in unterschiedlichsten Stadien sehr
klangbewußtes, formal wohlbalanciertes Stück, rhythmisch
von wohltuend abwechslungsreicher Zugänglichkeit - nichts Neues,
gewiß, aber reizvoll und geeignet, sich einen Platz im Repertoire
vieler Streicherensembles zu erobern. Kaum allerdings wird es woanders
so klingen wie hier.
Die Musik Estlands hat die reichste Vergangenheit
und Gegenwart unter den Balten. Arvo Pärt, den vor allem die
ECM-Platten dem hießigen Hörer bekannt machten, ist insofern
zwar eine einmalige, jedoch keine Ausnahme-Erscheinung. Er war Schüler
des "Vaters der neuen estnischen Musik", Heino Eller (1887-1970).
Eller blieb immer ein sensitiver Romantiker mit impressionistischem
Farbsinn, und unter dem 1993 tragisch früh verstorbenen Peeter
Lilje - den übrigens eine intensive Freundschaft mit Juha Kangas
verband - ist eine CD mit symphonischen Stücken erschienen
- die von der traumhaften Arglosigkeit der frühen kleinen Tongedichte
"Morgen-" und "Abendrot" über die dramatischen
Wellen der "Geister"-Dichtung zur Schwere der Elegie und
der unprätentiösen Anmut der fünf Streicherstücke
hinführt. Mit mehr Wärme und beflügelter als unter
Liljes Händen ist's wohl nicht möglich - ein wahres Kleinod
großen Musizierglücks!
Auch Estlands wichtigster Symphoniker Eduard Tubin war Eller-Schüler
und floh 1944 nach Schweden, desgleichen Kaljo Raid, der den vollendeten
ersten Satz der elften Tubin-Symphonie stilecht orchestrierte -
echte, kompakte Symphonik, gespeist aus dem Gegensatz zwischen unerbittlichem
Rhythmus und schwelgerischem Melos. Raids zweite Symphonie ist das
Hauptwerk der Einspielung - was auf dem Cover schmählich unterschlagen
wird - und gegenüber seiner am frühen Scriabin orientierten,
unermüdlich tragisch-pathetischen ersten Symphonie ist die
zweite ungeheuer originell - man mag Schostakowitschs Einfluß
feststellen, aber die instrumentale Eingebung ist eigenartig und
überzeugend. Das fünfsätzige Werk des Wahlkanadiers
möchte man öfter hören.
Auch Lepo Sumera war Eller-Schüler, außerdem estnischer
Kulturminister 1988-92. In seinen vier Symphonien ist ein Weg vom
unversöhnlich offenen Kontrast - an Kanchelis Symphonien gemahnend
- zum Verschmelzen der opponierenden Thesen festzustellen. Die Aufnahmen
mit Paavo Järvi sind vorzüglich, auch wurde der originale
dynamische Umfang beibehalten, was ein gutes Equipment fordert.
Wer Pärt und Kancheli mag, wird Sumera lieben!
Zum Schluß sei noch auf die grandiosen Männerchöre
von Veljo Tormis verwiesen - Estland hat in ihm nicht nur einen
der großartigsten Chorkomponisten, sondern weitere wie Pärt,
Sisask oder auch den romantischen Klassizisten Rudolf Tobias (Forte
FD 0013/2). Alles ist herrlich gesungen.
Baltische Werke für Streichorchester: Vol. 1: Balakauskas,
Ostrobothnian Symphony, Vasks, Symphonie "Stimmen", Narbutaite,
Opus Lugubre;
Vol. 2: Kutavicius, Northern Gates, Vasks, Cantabile, Tüür,
Insula Deserta, Rekasius, Music for strings, Werke von Urbaitis
und Juozapaitis;
Ostrobothnian Chamber Orchestra, Dirigent: Juha Kangas; Finlandia/east-west
CDs 4509-97892-2 und 4509-97893-2
Vasks: Cantabile, Englischhorn-Konzert, Botschaft, Musica dolorosa,
Lauda; Riga Philharmonic Orchestra, Dirigent: Kriss Rusmanis; Conifer/BMG
75605-51236-2
Eller: Morgenrot, Abendrot, 5 Stücke für Streicher, Geister,
Im Schatten und im Sonnenlicht, Elegia; Estonian Symphony Orchestra,
Dirigent: Peeter Lilje; Forte FD 0020/2
Tubin, 11. Symphonie, Elegie für Streicher, Raid, 2. Symphonie;
Estnisches Staatliches Symphonieorchester, Dirigent: Arvo Volmer;
Koch 3-7291-2 H1
Sumera, Symphonien 1 - 3; Malmö Symphony Orchestra, Dirigent:
Paavo Järvi; BIS/Disco-Center 660
Sumera, Klavierkonzert, 4. Symphonie, Musica tenera; Malmö
Symphony Orchestra, Paavo Järvi; BIS/Disco-Center 690
Tormis, Werke für Männerchor; Estnischer Nationaler Männerchor,
Dirigent: Olev Oja; Forte-CDs FD 0011/2 und
FD 0019/2
Forte-CDs erhältlich bei: Eres Edition, Postfach 1220, 28865
Lilienthal
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