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Interview Jörg Widmann

München, 28.5.97

Die Seelen, die Bäume und die Zeit
Der 24jährige Münchner Klarinettist Jörg Widmann gilt nicht nur als einer der besten Musiker auf seinem Instrument, sondern auch als eine der größten Begabungen auf der deutschen Komponistenszene. Sei es im aphoristischen oder lyrisch-träumerischen Duktus, sei es ursprüngliche, wild heraussprühende Musizierfreude - Widmanns Ausdrucksspektrum ist höchst vielseitig, immer nobel und fern aller neoakademischen Trockenheit, auch wenn es sich um eine streng organisierte, elaborierte Konstruktion handelt wie in seinem großen, fast tückisch verzahnten Orgelwerk "La verrière lilas". Ein herrliches Werk zwischen ständigem inneren Aufbruch und beinahe Verwelken ist das letztes Jahr vollendete Klarinettenquintett "Trauergesang und Frühlingsmusik". In den letzten zwei Jahren entstand die Klaviersonate "Fleurs du mal" für Anna Gourari. Derzeit schreibt Widmann an seinem "Gesang der Sirenen" für Solo-Violine und 19 Streicher, einem Auftragswerk des Münchner Kammerorchesters, das mit der Geigerin Isabelle Faust beim diesjährigen Warschauer Herbst, einem der wichtigsten internationalen Festivals, zur Uraufführung kommen.
Schubert und Widmann
Doch vorher wird ein anderes Werk aus der Taufe gehoben, das ihn viel Herzblut gekostet hat: die "Sieben Abgesänge auf den Tod einer Linde" nach Gedichten von Diana Kempff bei den Holzhausener Musiktagen, gesungen von Juliane Banse und begleitet von Christoph Poppen (Violine), Wolfram Rieger (Klavier) und dem Komponisten mit der Klarinette. Drumherum gibt es Schubert-Lieder und die Violin-Phantasie, dazu die revidierte Fassung von Widmanns "Tränen der Musen" von 1993 für Geige, Klarinette und Klavier. Letztere hat Widmann "ausgedünnt, zerbrechlicher gemacht, aber auch zusätzliches heterophones Geflecht geschaffen. Am Schluß beschloß ich eine massive Raffung und Kürzung, um die Leere lapidarer wirken zu lassen. Die ganze Entwicklung verläuft nun konsequenter, indem die einzelnen Zustände charakteristischer

herauskommen. Das Stück verwirklicht ja einen allgemeinen Bedrohungszustand. Die Stille ist ebenso Musik wie das Klingende; sie ist Bestandteil der Struktur, dem Verhältnis Klang-Stille wird nachgehorcht. Dann bricht tatsächlich eine 'äußere Gewalt' über die zerbrechliche Welt herein: plötzlich, in wild umherspringendem Unisono und zerklüftetem Rhythmus, besessen und manisch. Die Stille dann, die am Schluß übrigbleibt, klingt anders - verletzt, ja entmaterialisiert."
Requiem für eine Linde
Und wie sind die "Sieben Abgesänge auf eine tote Linde" beschaffen, für jene 1000jährige Linde in Holzhausen, die während des letztjährigen Konzerts in einem heftigen Gewitter vom Blitz hinweggerafft wurde? "Noch ein extrem trauriges Stück! Dabei habe ich doch auch äußerst ausgelassene, heitere, orgiastische Musik geschrieben. Die Zusammenarbeit mit der Schriftstellerin Diana Kempff wurde sehr spannend und fruchtbar, ich konnte sogar mit Textfragmenten arbeiten wie dem anfänglichen "...trostlos wie Schweigen die Zeit zerklirrt...". Im ganzen Stück geht es ganz bewußt um das Empfinden von Zeit: zuerst Stillstand, dann Dehnungen, Stauchungen usw. Der dritte Abgesang, mein "Tanz der toten Seelen", wurde unversehens zu einem grotesk überdrehten Zwiefachen, in dem sich vielerlei Tanzelemente durchdringen und geradezu pervertierte Gestalt annehmen. Im letzten Stück steht die Zeit wieder still, aber verändert: Die Linde wird mit Glockengeläut des Klaviers in eine andere Welt begleitet, mit einem permanent dissonant schwebenden Akkord und einem Text über unsere Seelen, die Bäume und die Zeit."

Christoph Schlüren

(Beitrag für das Münchner Kulturmagazin 'Applaus')