Hans Schmidt-Isserstedt |
Der Dirigent Hans Schmidt-Isserstedt, der heute einhundert Jahre
alt geworden wäre, stand in überzeugender Weise ein für
die inzwischen weitgehend verlorenen Tugenden deutschen Kapellmeistertums.
Seine Gestik war funktionell ohne überflüssige Schnörkel,
und er strahlte auf seine Muiker Wachheit, Gelassenheit und Souveränität
aus. Die großen Meisterwerke aus Klassik und Romantik waren
bei ihm "in besten Händen". Sein Beethoven erstand
mit frappierender struktureller Bewußtheit und ließ
dabei keineswegs Biß und Feuer vermissen was in dem
kompletten, mit den Wiener Philharmonikern für die Platte eingespielten
Symphonien-Zyklus aus den sechziger Jahren trefflich dokumentiert
ist. Schmidt-Isserstedt ließ impulsiv, drängend musizieren,
doch geriet ihm dabei nicht die formale Balance außer Kontrolle,
und eine urmusikantische Grundhaltung ließ alles erfrischend
natürlich erscheinen. Er war ein hinreißender Gestalter
bei Brahms und vor allem Dvorák, und die sehr erfolgreiche
Decca-Aufnahme von Dvoráks siebenter Symphonie soll
er selbst als seine gelungenste geschätzt haben. Erstaunlich
auch das stilistische Feingefühl, mit dem Schmidt-Isserstedt
Mozart aufführen ließ: die pastellene Grazie, die stimmführerische
Bestimmtheit, die kultivierte Akzentuierung. Und dann ist da seine
Affinität zur zeitgenössischen Musik, deren Wachsen er
mit zahlreichen unüberfrefflich einstudierten Aufführungen
begleitete. Übrigens verstand er seine Proben so effektiv mit
amüsanten Überraschungen aufzulockern, daß die Musiker
auch härteste Detailarbeit meist als kurzweilig empfanden.
Es ist ungerecht, daß man heute vor allem die legendären
Aufnahmen mit Schmidt-Isserstedt als Begleiter kennt, mit den Geigern
Georg Kulenkampf (in Vorkriegsaufnahmen der Konzerte von Beethoven
und Schumann) und natürlich Ginette Neveu (im Brahms-Konzert
von 1948), den Dirigenten symphonischer Musik hingegen kaum. Den
großen Erfolgen der späten Jahre war ein zäher,
stetiger Aufstieg vorangegangen. Orchestervereinigung der Berliner Universität nahm er im März 1922 an der Schweden-Tournee unter Heinz Tiessen teil, wo er auch als Solist in dessen "Totentanz-Melodie" und einem Mozart-Konzert auftrat. 1923 promovierte er über "Die Einflüsse der Italiener auf die Instrumentation der Mozartschen Jugendopern". Ein Konzerterlebnis unter Leitung Arthur Nikischs führte zu der Entscheidung, Dirigent zu werden. Er durchlief die harte Schule der Opernhäuser, zunächst von 1923 bis 1928 als Korrepetitor in Wuppertal-Elberfeld, wo 1928 seine komische Oper "Hassan gewinnt" uraufgeführt wurde. Dann wirkte er in Rostock, Darmstadt, wurde 1935 erster Dirigent der Hamburgischen Staatsoper und 1942 Operndirektor an der Deutschen Oper in Berlin. Da er nicht der NSDAP beigetreten war und auch sonst eine "weiße Weste" hatte, beauftragte ihn nach Kriegsende Hugh Carlton Greene von der britischen Verwaltung mit Gründung und Aufbau des Sinfonieorchesters des Norddeutschen Rundfunks in Hamburg. Vorbild war das BBC Symphony Orchestra. Schmidt-Isserstedt leitete die NDR-Sinfoniker dann 26 Jahre lang bis 1971 und war bis zu seinem Tod am 28. Mai 1973 Ehrendirigent des Orchesters. Außerdem war er von 1955 bis 1964 zusätzlich Chefdirigent der Stockholmer Philharmoniker. In relativ kurzer Zeit gelang es ihm, das NDR-Sinfonieorchester zu einem der besten deutschen Klangkörper zu formen. Sie gingen auf Tournee nach Frankreich, England, in die Sowjetunion und zweimal nach Nordamerika. Als Gastdirigent leitete Schmidt-Isserstedt, zumal in seinen späten Jahren, mehr als 110 Orchester in aller Welt. Immer wieder wurde Schmidt-Isserstedts apollinisches, "schlackenloses" Musizieren von den Kommentatoren gelobt. Da ist es kein Wunder, wenn ihm Mozart besonders lag, wenn ihm "Till Eulenspiegels lustige Streiche" von Richard Strauss auffallend leicht und schwungvoll von der Hand gingen. Und natürlich griff er in Max Regers monumental überschwellendem "100. Psalm" noch in seinem Todesjahr zu der lange Zeit für "besser" erachteten, konturschärferen und im Rahmen des Möglichen sachlicheren Bearbeitung Paul Hindemiths. Das Ergebnis ist jedenfalls von bestechender Klarheit und Dichte. Christoph Schlüren (Manuskript für BR4 zu einer Sendung am 5. Mai 2000) |