Anfang von Ricardo Odriozola, 'Four
Dances': Nr. 1, 'Rinocerontito'. Ricardo Odriozola (Violine), Jane
Odriozola (Violoncello).Point CD 5116.
"Die Neugier abseits des Mainstream hat mich immer begleitet
und geleitet. In unserem kleinen Fischerstädtchen in Nordspanien
waren mein Bruder und ich die einzigen, die "Art-Rock"-Musik
hörten. Das rückte mich auch als Musiker aus meiner Umgebung
heraus. Dieses Gefühl, originell und einzigartig zu sein, Unbekanntes
zu entdecken, ist für einen jungen Menschen sehr stark. Die
anderen hörten jene Popgruppen, die gerade "in" waren,
und ich hörte neben den Klassikern, zu denen in intensiven
Phasen zum Beispiel Mahler, Strawinskij und Hindemith gehörten
Gruppen wie Henry Cow, Gentle Giant, Van der Graaf Generator
oder King Crimson. Wenn ich diese Musik meinen Freunden vorspielte,
so merkte ich, wie ihnen das Wesentliche daran entging. Manche spürten
schon, daß da etwas Besonderes war. Diese "Art-Rock"-Musik
interessierte mich auch so sehr, weil da Musik auf völlig andere
Weise angegangen wurde als in der klassischen Tradition.
Als ich später im letzten Jahr an der Eastman School of Rochester
genug hatte von der ganzen theoriebehafteten Musikausbildung, ging
ich gegen Ende in die Bibliothek und las alle die Interviews mit
meinen Jugendidolen in den einschlägigen Zeitschriften. Sie
sprachen darüber, wie sie hören, wie sie Musik mit ihren
Ohren machen. Ich bewundere diese Musiker nach wie vor. Sie versuchen
wirklich, den unmittelbar bewegenden Klang zu kreieren. Das führt
zurück zum Wesen des Musizierens, zur ursprünglichen Motivation.
Das primäre Feld der Musik ist Klang und Stille, und es findet
sicher nicht auf dem Papier statt. In der populären Musik ist
ein starker Antrieb, eine gute Zeit verleben zu wollen beim Musizieren.
Das ist für mich sehr wichtig und hat auch eine spirituelle
Energie. Eine gewisse Qualität im Klang und in der Konzeption
muß für mich natürlich schon da sein, was sicher
mit meinem klassischen Background zusammenhängt. Heute ist
es ein sehr breites Spektrum von Musik, die ich mag, von einfachen
Songs mit bescheidener Akkordik bis zu hochkomplizierten Symphonien.
Diese Dinge gehen nicht zusammen auf der gleichen Ebene, weswegen
die modische "Cross-Over"-Idee auch nur Verwässerung
zur Folge haben kann. Im Gegenteil: Allan Pettersson hätte
nie einen Peter Hammill-Song schreiben können. Und Peter Hammill
wäre nicht in der Lage, eine Symphonie zu komponieren. Und
doch gibt es eine Art sehr langer Untergrund-Verbindung zwischen
Hammill und Pettersson, ja auch Mahler, Schostakowitsch, Harald
Sæverud. Diese verschütteten Verbindungen interessieren
mich als Komponist."
Ausschnitt aus: Carl Nielsen, 4. Symphonie op. 29, 3. Satz 'Poco
adagio'.
City of Birmingham Symphony Orchestra, Simon Rattle.
EMI CD 764737-2.
Wie verschlägt es einen jungen, hochbegabten baskischen Musiker,
der in den USA eine elitäre Ausbildung genossen hat, in den
kühlen Norden, ins regnerische Bergen? Ist es die Magie der
nordischen Musik, das Aufeinanderprallen von Lyrischem und Existentiellem,
wie im 'Poco adagio' der Vierten Symphonie Carl Nielsens, einem
Werk, das Odriozola viel bedeutet?
Ricardo Odriozola wurde am 28. September 1965 in der Nähe von
Bilbao geboren und wuchs in dem Fischerort Bermeo auf. Seine Eltern
waren Musikliebhaber. Der älteste Bruder seiner Mutter hatte
es als Violinvirtuose zu beachtlichem Ruf gebracht, war aber sehr
früh verstorben. Als Ricardo sechs, sieben Jahre alt war, kaufte
der Vater ein Radio- und Tonbandgerät, und das erste, woran
sich Ricardo erinnert, war seine Begeisterung für Mozarts 'Don
Giovanni'. Bald folgten Beethoven-Symphonien und vieles weitere.
Mit achteinhalb Jahren begann er, Gitarre zu spielen. Er lernte
alles selbst, ohne Lehrer, mit Hilfe von Büchern und Aufnahmen.
Eineinhalb Jahre später fing er mit dem Geigenspiel an. Er
fand einen Lehrer, bei dem er sechs Jahre lernte. 1979 traf er auf
einem Kurs seinen nächsten Lehrer, Francisco Comesaña
aus Madrid, bei dem er nun parallel zum bisherigen Unterricht studierte.
Comesaña hatte in der goldenen Zeit der russischen Schule
in den sechziger Jahren in Moskau studiert, wo er auch Schostakowitsch
kennenlernte. Er brachte seinen jungen baskischen Schüler,
der alle zwei Wochen mit dem Nachtzug zu ihm nach Madrid kam und
dort unentgeltlich ausgedehnte Unterrichtsstunden genoß, auf
den Weg zur Beherrschung des Instruments.
Ausschnitt aus: Ludwig van Beethoven, 4. Symphonie, 1. Satz, Allegro
vivace.
Münchner Philharmoniker, Sergiu Celibidache.
EMI CD 556521-2.
1979 spielte der 13jährige erstmals in einem Orchester, denn
in seinem Heimatort gab es dazu keine Gelegenheit. Dort war er der
einzige Geiger weit und breit. Und er trat erstmals als Solist mit
Orchester auf, mit einem Bach-Konzert.
"Zwischen 13 und 16 entdeckte ich diese ganze avantgardistische
Rockmusik-Welt, den sogenannten "Art-Rock". Es begann
mit Emerson, Lake & Palmers 'Trilogy'. Dann kamen King
Crimson, Gentle Giant, Van der Graaf Generator dazu, und etwas später
Henry Cow und die Canterbury-Szene. Das ist Teil meines musikalischen
Gepäcks. Der kleine 'Bittern Storm Over Ulm' von Henry Cow
zum Beispiel ist ab dem zweiten Takt ein wildes Verwirrspiel mit
unseren Hörerwartungen. Ein normaler E-Dur-Akkord wird verzerrt.
Dann kommen diese Fagotte, und eine elektrische Gitarre hämmert
ihren Mißklang gegen das Metrum. Und wenn wir dann dasitzen
und zufrieden lächeln bei der letzten, recht zivilisierten
Kadenz, gehen sie ab und beenden das Stück mit einem hohen
Saxophon-Schnörkel. Wären Monty Python in der Musik und
nicht im Film tätig, so wäre so etwas ihr Job."
Henry Cow, aus dem Album 'Unrest' (1974): 'Bittern Storm Over Ulm'
(composed by Fred Frith).
Broadcast Records LP BC4.
1982 ging Ricardo Odriozola auf Anraten seines Lehrers Comesaña
in die USA, wo er in Boston sein letztes Highschool-Jahr absolvierte
und bei Roman Totenberg studierte. Er spielte als Konzertmeister
im Boston Youth Orchestra unter einem jungen Bernstein-Schüler
und lernte das große Repertoire im Orchester kennen. Nach
einem Jahr trat er in die Eastman School of Rochester ein, wo Zvi
Zeitlin, der legendäre Interpret von Arnold Schönbergs
Violinkonzert, der noch Kreisler und Huberman kannte, sein Lehrer
wurde.
"Geigerisch und musikalisch lernte ich in den vier Jahren bei
Zeitlin eine Menge. Wie spielst du einen Ton, eine Phrase? Ganz
fundamental hat er mich gelehrt, wie man einen Ton beendet. Darüber
bewußt zu sein und das zu verwirklichen ist wichtig für
die Entwicklung des ganzen Menschen. Den Ton beenden heißt
ihn vollenden, das Versprochene erfüllen. Und in gewisser Weise
ist der Raum zwischen den Tönen wichtiger als die Töne
selbst."
Mogens Christensen: Ausschnitt aus: 'Dreamless Fragments' (1994).
Ricardo Odriozola (Violine).
Point CD 5116.
Sie hörten Ricardo Odriozola mit einem Ausschnitt aus 'Dreamless
Fragments' von dem dänischen Komponisten Mogens Christensen.
Odriozola hatte sich in den Jahren an der Eastman School of Rochester
unter Zvi Zeitlins Anleitung zu einem herausragenden Geiger entwickelt.
Zeitlins Angebot, sein Assistent zu werden und das Masters
Degree zu machen, schlug er aber aus, denn mittlerweile hatte er
eine andere Liebschaft gefunden. Es zog ihn nach dem Studienabschluß
1987 nach Bergen. Im Sommer des Vorjahres war er einer Einladung
eines Studienkollegen, des norwegischen Pianisten Einar Røttingen,
nach Bergen gefolgt. Er fühlte sich sofort heimisch in der
herrlichen Landschaft und mochte die Mentalität. Røttingen
machte ihn mit der Musik von Harald Sæverud, dem wohl eigentümlichsten
norwegischen Komponisten dieses Jahrhunderts, bekannt. Gemeinsam
besuchten sie Sæverud, der schon ein sehr alter Mann war.
In Bergen besorgte sich Odriozola außerdem eine Platte mit
der Achten Symphonie von Allan Pettersson.
"Pettersson war ein "Big Bang" für mich. Er
überwältigte mich, traf mich ins Mark. Und dann hörte
ich seine 1970 entstandene Neunte Symphonie. Dieser erste Anlauf,
diese Obsession: Das ist die unerträglichste Musik, die ich
mir vorstellen kann. Es ist wirklich physische Qual."
Allan Pettersson: Ausschnitt aus: Symphonie Nr. 9 (1970).
Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Alun Francis.
cpo/jpc CD 999231-2.
"Petterssons Musik beschreibt das weiteste Ausmaß an
möglichem Ausdruck. Seine Sprache ist schmerzerfüllt und
tief menschlich. Sie hat mich nachhaltig beeinflußt, zum Beispiel
in 'Agony and Ecstasy' für Cello und Klavier, wo Elemente von
Allan Pettersson und Peter Hammill eingewoben sind. Petterssons
Lied 'Herren går på ängen' (Der Herr geht über
die Wiesen) kommt aus einer anderen Welt. Es ist eine unendliche,
zeitlose Musik. Trotz der Kürze und entwaffnenden Einfachheit
hat dieses Lied mir nach all den Jahren noch immer nicht den
Grund seiner musikalischen Lebenskraft enthüllt."
Allan Pettersson: 'Herren går på ängen'.
Margot Rödin (Sopran), Arnold Östman (Klavier).
Swedish Society Discofil CD 1033.
Aus seiner spanischen Heimat ist es vor allem der Katalane Federico
Mompou, dessen klingende Stille und Einsamkeit Odriozola anzieht.
"Mompous Musik ist essentiell katalanisch. Er hat ein äußerst
verfeinertes Gehör für harmonische Farbwerte, und seine
Musik schafft oft eine magische Atmosphäre, als wäre sie
vor der Außenwelt geschützt. Seine 'Música callada'
ist die Krönung seines Werks. Sie ist essentielle Musik, bar
überflüssiger Gesten."
Hören Sie das 3. Stück aus dem 4. Buch von Federico Mompous
'Música callada', 'Moderato'. Es spielt Herbert Henck.
Federico Mompou, aus 'Música callada', 4. Buch: 3. Satz,
Moderato.
Herbert Henck, Klavier.
ECM/Universal CD 445699-2.
Mehr und mehr faszinierte Odriozola in den letzten Jahren die im
ursprünglichen Wortsinne fantastische Tonsprache des britischen
Symphonikers Havergal Brian, von dessen 32 Symphonien die überwiegende
Zahl im Alter von mehr als siebzig Jahren entstand.
"Brian ist extrem persönlich, er geht eigensinnige, unbegangene
Wege. Das Großartige ist, daß die Musik geradezu aus
ihm herauszubrechen scheint. Vor allem beherrscht er eine Kunst
des Unerwarteten. Es ist bei ihm nahezu unmöglich, den Gang
der Musik für mehr als einige wenige Takte vorauszuahnen. Dann
nimmt es wieder eine Richtung, die nur seiner Eigenart unterworfen
ist."
Havergal Brian: Anfang der Symphonie Nr. 1 'The Gothic' (1919-27),
1. Satz, Allegro assai.
Slowakische Philharmonie, Ondrej Lenard.
Marco Polo/Naxos CD 8.223280.
Sie hörten den Anfang von Havergal Brians 1927 vollendeter, monumentaler
'Gothic Symphony', die als "largest symphony" Eingang
ins Guinness Book of Records fand. Doch nicht nur die Erfahrung
entlegener symphonischer Welten prägte Ricardo Odriozolas eigenen
Zugang zum kompositorischen Schaffen. In vielfältiger Weise
tauchen in seinen Werken Elemente jenes "Art-Rock" auf,
der seinem Drang nach Befreiung des Ausdrucks immer wieder ein atmosphärisches
Refugium wurde. Wichtig war die kreative Verspieltheit und stilistische
Flexibilität, der Sinn fürs Idyllische und Versponnene,
den die Gruppen der Canterbury-Szene wie Hatfield & The North,
National Health, Gilgamesh, Soft Machine, Matching Mole, Caravan
oder Gong voller Enthusiasmus pflegten. Selbst die pure Musizierfreude
der Incredible String Band, deren "professioneller Dilettantismus"
haben ihn tief berührt. Am wichtigsten aber dürften für
Odriozola bis heute zwei grundverschiedene Persönlichkeiten
dieser illustren Szene sein: Peter Hammill, der die Geschicke der
Band Van der Graaf Generator bestimmte, und Robert Fripp, Kopf und
Herz der Gruppe King Crimson in ihren wechselhaften Geschicken.
"Die live aufgenommene Einleitung zu 'The Night Watch' ist
von einer Klanglichkeit, die mir zu Herzen geht. Majestät und
Naivität sind auf bewegende Weise kombiniert. Für einen
Augenblick durchflutet hier wirkliche Musik durch die Luft."
King Crimson, aus dem Album 'Starless and Bible Black (1974): 'The
Night Watch'
(written by Robert Fripp, John Wetton, Richard Palmer-James).
EG/Virgin CD 12.
Im Sommer 1988 nahm Odriozola an einem sechstägigen Kurs von
Robert Fripp und dessen League of Crafty Guitarists teil. Dieses
Erlebnis war von einschneidender Bedeutung.
"Wir kamen mit Gitarre und Plektrum. Es ging um systematische
Meisterung der Technik von den Grundlagen an: Back to the beginning.
Fripp sprach über die vier Stadien: Lehrling, Meister, Künstler
und Genie; über die Unmöglichkeit, eine Stufe zu überspringen;
über die Wahl, die man treffen muß: ªMusik oder Leben
´
ªWillst Du nach Deiner Gewohnheit leben, oder möchtest
Du Dich selbst erkennen im Dienst an der Musik?´ Das Wichtigste
war ihm: Allen alten Ballast abwerfen, und alles, was dann bleibt,
in den Dienst an der Musik geben. Die Idee der Stille war zentral:
ªKein guter Klang ohne die rechte Stille.´ Er übertrug
höchste Disziplin, in jeder Hinsicht. Und wenn er umherging,
schien es, als hätte er kein Gewicht. Das Ganze war ein extrem
subtiler Erziehungsprozeß, und mit dem Loswerden des Gepäcks
stieg die Sensibilität für alles extrem an wirklich
für alles, für die Umgebung, für das Dasein im Raum,
für die ganze Wahrnehmung."
Das folgende Stück von King Crimson, 'Providence', ist eine
Gruppenimprovisation, die suggestiv bezeugt, zu welcher spontanen
musikalischen Korrelation unterschiedlichster KLanggesten solche
Disziplin und Sensibilität in glücklichen Momenten führen
kann. Derart gestisch korreliertes Musizieren hat in Odriozolas
Werk intensiven Niederschlag gefunden.
King Crimson, aus dem Album 'Red' (1974): Anfang von 'Providence'.
(David Cross, Violine; Robert Fripp, Gitarre; John Wetton, Baß;
Bill Bruford, Schlagzeug)
EG/Virgin CD 15.
Neben der kühlen Magie Robert Fripps ist auch der Einfluß
des Sängers und Songwriters Peter Hammill auf Odriozola von
grundlegender Dimension.
"Ich kenne Hammills Werke wie meine Westentasche. Er ist ein
ungeschliffener, rauher Musiker, ohne die geringste Glätte,
ganz auf dem Boden. Er ist aufrichtig und nicht an den hübschen
Annehmlichkeiten des Lebens interessiert. Die Art, wie er seine
Stimme benutzt, einen Akzent macht, einen Ton hervorhebt
das kommt ganz aus dem Bauch. Als professioneller Musiker hat Peter
Hammill auch deutliche Schwächen. Aber er hat eine musikalische
Kultur, weiß viel über Musik. Es gibt ganz objektiv sehr
interessante Stücke von ihm. Und er ist stets unverwechselbar.
Ich denke, er will, daß seine Musik ganz nackt ist, direkt,
schutz- und schonungslos. Und auf dieser existentiellen, körperhaften
Seite finde ich Verbindungslinien zwischen ihm und Harald Sæverud,
und gelegentlich zu Allan Pettersson. Hammills Ausdrucksbreite ist
äußerst nuanciert."
Über den folgenden Song von Peter Hammills Gruppe Van der Graaf
Generator, mit dem Titel 'Pilgrims', sagt Odriozola, er vereine
Würde, Erwartung, Hoffnung und Mysterium.
Van der Graaf Generator, aus dem Album 'Still Life' (1976): Anfang
von 'Pilgrims'
(written by Peter Hammill and David Jackson).
Charisma/Virgin CD 1116.
Ricardo Odriozola komponierte 1993 'Ashen Hours' für Blockflöte,
Violine, Cello und Cembalo für das Euterpe Ensemble, in dem
er selbst mitwirkt. Er hat dem Stück folgenden Kommentar beigegeben:
"Die Banalität, die die Massenmedien als akzeptierten
Lebensstandard verkaufen man möchte meinen, als ein
Muster des Bösen schlechthin , ist dabei, die Seele des
heutigen Menschen zu zerstören. Einige beginnen vielleicht,
zu glauben, daß ihnen das Leben auf diese Art gefällt,
und sie identifizieren sich mit den Sachzwängen der Gesellschaft
und des Marktes. Sie tauchen ab in eine Art Künstlichkeit,
aber nur, um so noch stärker die Leere und grenzenlose Langeweile
zu fühlen, wenn sie mit ihrem eigenen Selbst in der Einsamkeit
ihrer eigenen Behausung konfrontiert werden. Dies sind die 'Ashen
hours', die Peter Hammill in seinem Lied 'Modern' von 1973 beschreibt:
"No one really knows what to do / and the city is a cage. /
It traps in ashen hours and concrete towers, / imprisons in the
social order." Doch mitten in alle Langeweile fliegt eine alte,
unschuldige Fantasie der Kinderzeit herein. Die wenigen, die sich
ihrer unmenschlichen Lebensbedingungen bewußt sind, werden
diese fast vergessene Vision im Fluge fangen und voller Hoffnung
ihren Weg zurück in die Fülle des wirklichen Lebens finden."
Ricardo Odriozola: 'Ashen Hours' (1993).
Euterpe Ensemble.
Horizon/Klassik-Center CD 9301.
Das Euterpe-Ensemble spielte die 1993 komponierten 'Ashen Hours'
von Ricardo Odriozola. Kaum war Odriozola 1987 nach Bergen übergesiedelt,
wo er eine Stellung als Geigenprofessor am Konservatorium annahm,
da kam er auch schon in intensiven Kontakt mit Harald Sæverud,
dem großen alten Komponisten von neun Symphonien und einer
Vielzahl hinreißender Klavierminiaturen. Dieser Kontakt, der
bis zu Sæveruds Tod 1992 im Alter von 95 Jahren andauern sollte,
erwies sich als die intensivste und wichtigste musikalische Inspiration
in Odriozolas Leben.
"Sæverud war ein Mensch von hundertprozentiger Präsenz.
Sie konnten seine Anwesenheit im Raum fühlen, auch wenn Sie
ihn nicht sahen. Sein Gesicht offenbarte alles: die Melancholie,
den wachen Humor, die Ernsthaftigkeit. Dieses Gesicht erzählte
unglaublich viel, und es konnte in einer Sekunde vom Weinen zum
Lachen übergehen. Wesentlich war sein unmittelbarer Kontakt
mit der Natur, ihrer Rauheit im Großen, ihrer Schönheit
im Kleinen. Da war viel Fels, Stein. Seine Gestik war sehr ruckartig
und plötzlich. Er konnte Dinge sehen und hören, die andere
nicht wahrnehmen. Er bestärkte mich in dem Gefühl, daß
die Fantasie in gewisser Weise nicht weniger wirklich ist als die
Realität. Er sprach mit Mäusen, und die Mäuse schauten
ihm dabei in die Augen und blieben ganz ruhig da.
Sæveruds musikalische Quelle waren eigentlich Beethoven, Mozart,
Haydn die klassische Ästhetik. Seine Symphonik mag zunächst
sehr komplex und schwierig scheinen. Aber Sæverud befaßte
sich intensiv mit dem einzelnen Ton. Musik wuchs für ihn wie
in der Natur aus einem Samenkorn. Alles ist bereits potentiell enthalten
in dem kleinen Organismus. Der Ausgangspunkt entscheidet, wie das
Stück sich selbst formt."
Der folgende kurze Ausschnitt aus Harald Sæveruds Siebenter
Symphonie, 'Salme', ist für Odriozola ein "bleibendes
Ideal echter, heiterer Schönheit".
Harald Sæverud, Ausschnitt aus 7. Symphonie op. 27 'Salme'
(1944-45).
Philharmonisches Orchester Bergen, Dmitrij Kitajenko.
Simax/Klassik-Center CD 3124.
Die andere, steinige, obsessive und abrupte Seite in Sæveruds
Schaffen hören wir im dritten Satz, 'Allegro molto e ben marcato',
aus dem 1975 vollendeten 2. Streichquartett op. 52. Es spielt das
Hansa-Quartett, dessen Primarius Ricardo Odriozola ist.
Harald Sæverud, aus dem 2. Streichquartett op. 52 (1972-75):
2. Satz, Allegro molto e ben marcato.
Hansa-Quartett.
Simax/Klassik-Center CD 1141.
Von Sæveruds Musikdenken nachhaltig geprägt, behaupten
die Werke von Ricardo Odriozola ihre relative Eigenständigkeit
im Kreuzfeuer der äußerst vielfältigen, verschiedenartigen
Einflüsse, denen er sich öffnet, inklusive der heimischen
spanisch-baskischen Idiomatik, die im folgenden Stück, dem
ersten der vier Tänze für Violine und Violoncello, groteske
Züge annimmt.
"Es hat mich immer gereizt, musikalisches Material mit Instrumenten
zu präsentieren, für die es nicht idiomatisch ist. Insbesondere
der Pasodoble ist nicht eine Art Tanz, die man mit einem Duo aus
Geige und Cello in Verbindung bringen würde. Ich hatte 1988
das große Verlangen, etwas zu schreiben, das im Grunde den
Pasodoble-Stil ad absurdum führt. So durchsetzte ich eine große
Anzahl von Pasodoble-Klischees mit einer breiten Palette von Seltsamkeiten:
freie Ausbrüche, eine Pseudo-Webern-Passage, kuhartige Glissandi,
Pfeifen, ein Baßgang, der sich seinen Weg aus blauem Himmel
bahnt, Fripp-artige Gitarrenfiguren. Wenn das Hauptthema wiederkehrt,
stelle ich mir das Publikum eines Jazzkonzerts vor, das hysterisch
applaudiert. Die Sympathie überträgt sich, ohne Vorbehalt,
auf den Stier. Ganz zum Schluß kann man seine Seele
hören, wie sie den Körper verläßt und in den
Stier-Himmel aufsteigt."
Besagtes absurde kleine Stück von Ricardo Odriozola, das sprunghaft
divergierende musikalische Welten durcheilt und leichthin miteinander
in Kollision bringt, ist die erste Nummer aus den 1987-89 entstandenen
'Four Dances' für Violine und Cello. Es heißt 'Rinocerontito
Pasodoble'. Zum Abschluß spielen Ricardo und Jane Odriozola.
Ricardo Odriozola, aus 'Four Dances' für Violine und Cello
(1987-89): Tanz Nr. 1, 'Rinocerontito Pasodoble'.Ricardo
Odriozola (Violine),
Jane Odriozola (Cello).
Point CD 5116.
Sendemanuskript für BR2 (Redaktion: Wolf Loeckle);
Sprecher der Zitate: Gerd Udo Feller;
Produktion: 12.12.1997;
Erstsendung: 19.2.1997, 20:o521:oo;
Christoph Schlüren, im Dezember 1997
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