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Portrait GIORA FEIDMAN 

"Ich wußte und weiß, daß die Gesellschaft geistige Nahrung benötigt. Ich denke, daß ich dieses Leben erhalten habe, um dem Publikum diese Nahrung zu geben."
Giora Feidman ist heute in Deutschland einer der populärsten Musiker überhaupt. Er wurde am 25. März 1936 in Buenos Aires in eine aus Moldawien eingewanderte jüdische Musikerfamilie hineingeboren. Der Vater war Klarinettist, der Großvater Posaunist. Giora wuchs mit einer unerhörten Vielfalt lebendiger Musizierweisen auf: Tango, Klezmer, klassische Musik usw. Er kokettiert gerne damit, ein "verrückter Tangoist mit jüdischen Wurzeln" zu sein. Bereits17jährig wurde er Klarinettist im Orchester des ehrwürdigen Teatro Colón und "lernte dort auch die große deutsche Operntradition kennen: Wagners 'Ring', 'Tristan' und 'Parsifal', Strauß' 'Rosenkavalier' und vieles mehr". 1957 wurde er vom Israel Philharmonic Orchestra engagiert, wo er zusammen mit dem legendären Yona Ettlinger und Peter Szimanow "die beste Klarinettengruppe der Welt bildete, die 'three tigers'". Er spielte unter fast allen ganz großen Dirigenten der Zeit wie Barbirolli, Bernstein, Celibidache, Kletzki, Kubelik, Markevitch, Mitropoulos, Munch oder Barenboim und mit Solisten wie Heifetz, Casals, Rubinstein, Stern oder Serkin. Mitte der sechziger Jahre kam in Israel die Klezmer-Bewegung auf, zu deren Hauptakteuren Giora Feidman zählte. Chefdirigent Zubin Mehta gewährte seinem Starsolisten alle notwendigen Privilegien, um die doppelte Aufgabe bewältigen zu können, doch nach etwa zehn weiteren Jahren trat Giora "aus sozialen Gründen" aus dem Orchester aus, das er "als großartige Einrichtung, eine Art Kooperative" in Erinnerung hat. Von da an widmete er sich mit vollem Einsatz der Klezmer-Musik in einem umfassenderen Sinn: Klezmer ist für ihn nicht nur die osteuropäisch-jiddische Tradition:
"Das ist der einzige Punkt, worauf ich hierzulande im Sinne einer Veränderung Wert lege: die Klassik-Leute ein bißchen mehr in Richtung Folklore, Jazz usw. orientieren. Musik ist Freiheit. Da reicht keine Form von Sprache hin. Bist du gegen etwas, gegen dich, so bist du gegen die Musik - weil du nicht frei bist. Ich habe einen klassischen Hintergrund, ich praktizierte und praktiziere das, und das wird bis zum letzten Tag meines Lebens so sein - und ich liebe alles andere genauso! Ich liebe Jazz, ich folge diesen Leuten. Aber da ist nicht nur Giora! Artur Rubinstein spielte Tango wie ein Tangomusiker aus Buenos Aires; hör dir Jascha Heifetz' Broadway-Musik an - unter anderem Namen übrigens... sie alle waren Klezmorim, in jeder Musik zuhause."
Giora ist natürlich in jenem Bereich der klassischen Musik am meisten in seinem Element, der mit "seinen" jüdischen Melodien verknüpft ist, so der "Ouverture über jüdische Themen" von Sergej Prokofjew, die er hier zusammen mit dem Juilliard Quartet und Yefim Bronfman musiziert.
"Ouverture sur des thèmes juifs" (S. Prokofjew); Giora Feidman (Klarinette), Juilliard Quartet, Yefim Bronfman (Klavier), 1994; (Dauer: 10'26")
(Sony Classical CD SK 58966)
 
Giora Feidman ist nicht nur ein Volksmusikant im tiefsten und besten Sinne, bei dem Kraft und Direktheit immer mit Sensibilität und Entrückung einhergehen. Seine Auftritte sind auch Botschaftsübermittlung für jeden seiner Zuhörer, Ermutigung zu einer aktiven Musikalität.
"Sagt das Neugeborene zu seiner Mutter: 'Willst du dich mit mir unterhalten'? Die einzig mögliche Sprache ist die des Gesangs, 'sing mir was!', und die Mutter singt. Dafür nehmen sie keine elektrische Gitarre, keinen Verstärker her. Sie singen, weil Musik die natürliche Sprache ist. Um das auszudrücken, brauchst du kein Instrument: das Instrument des Gesangs hast du. Jeder Mensch ist ein Musiker, weil jeder ein Sänger ist."
Überall sucht Giora Feidman das Gemeinsame, das Verbindende herauszustellen, in der Überzeugung, daß "Zusammensein die natürliche Kraft ist, Aggression und Töten hingegen unnatürliche Ausprägungen" sind. Er sei "ein Jude als Medium und nicht geboren, um Jude zu sein", sagt Feidman.
"Soweit ich unsere jüdische Religion verstanden habe, man sie mir gelehrt hat, weiß ich: Religion ist ein Mittel und kein Zweck. Du bist nicht geboren, um einer bestimmten Religion zuzugehören. Du bist geboren, um ein Mensch als Teil der Schöpfung zu sein. Jede Religion ist - von meinem Blickwinkel, einem jüdischen Blickwinkel aus - dazu da, um die Menschen über diese Religion hinauszubringen. Das ist der Zweck von Religion als Mittel."
The Old Klezmer Band (Trad., arr. O. Sher und M. Katz); Feidman & Band (Dauer: 2'50")
(Pläne CD 88712)
 
Das Eindringen ökonomischer Denkungsart in die musikalische Welt ist eine Dekadenzerscheinung, dergegenüber Giora Feidman das lebt und zu vermitteln versucht, was im Menschen grundlegend den Bedarf nach Musik entstehen läßt, indem er der Routine vergleichenden Wettbewerbs die völlige Hingabe an die jeweils einmalige Situation vorzieht.
"Heute, denke ich, ist der Jazzmusiker eher der musikalischere: ein hervorragender Instrumentalist und ein ständiger Komponist in einem. Er muß wirklich ganz bewußt dabei sein - ich meine einen, der echten Jazz macht! Er bringt die Farben, das Gesicht der Seele zum Klingen. Generell gibt es keinen Unterschied. Denn die musikalische Quelle ist immer Improvisation. Mozart war ein Improvisator.
"Musikmachen" ist eine Illusion - alles ist eine Improvisation. Wenn da geschriebene Noten vor dir stehen - das ist es, was sie uns beibringen, die "Klezmer-Konzeption" - sind das die Symbole der Stimme eines Menschen. Warum kannst du mit diesen Symbolen, diesen Zeichen umgehen? Weil du auch eine Stimme hast. Jedes Stück ist ein Lied. Jede Tonfolge ist gesungen. Das ist die Idee. Und nicht nur für mich ist Musik Improvisation. Wenn du nicht weißt, was Improvisation ist, weißt du auch nicht, was Musik ist. Da ist die klassische Musik hingeraten: wie soll man lehren können, wie Bach zu spielen sei, wie Brahms, Debussy, Ravel? Wie kann man das lehren? Es ist die Stimme eines Menschen, die aufgeschrieben ist. Die Meister würden sagen: "Warum willst du der Beste sein, wenn du einmalig bist?" Ich habe das nicht von einem Pädagogen erfahren, sondern von einem Guru: "Am besten sein" ist Limitierung. Ich bin nicht der Beste. Ich bin einmalig. Ich bin bewußt."
Giora Feidman vollbringt keine einsamen Spitzenleistungen, er nimmt sein Publikum mit auf die Höhe seiner Kunst, er kommuniziert ständig, und es gibt kein Feidman-Konzert, aus dem das Publikum herauskäme, ohne daß es ein, zwei Lieder von ihm gelernt, mit ihm gesungen hätte. Mancher starke Intellektuelle hält soviel Volksnähe nicht aus, und schnell ist die Rede vom 'Rattenfänger' - dabei soll der ja auch nicht schlecht gewesen sein!
Makh tsu die Eygelekh - Shalom Aleichem - Halaka; Feidman & Band, live in Köln, 6.11.85 (Dauer: 7'14")
(World Network-WDR/2001 CD 55.836)
 
Alle Musik ist für jedermann da - dies ist Giora Feidmans unumstößliche Überzeugung, auch wenn er gesteht, daß ihm selbst manches fremd ist:
"Was heißt 'modern'? Auch Schubert ist modern. Nein, ich verstehe nicht 'modern', ich verstehe lediglich 'Musik'. Ich verstehe erst recht nicht 'Avantgarde'. Ich kenne und erlebe Musik als geistige Nahrung, die wir ebenso benötigen wie Vitamin C. Ohne diese Nahrung können wir nicht leben. Schluß.
Die wirkliche Forderung ist, den jungen Musiker dahin zu bringen, daß er die Musik versteht, die heute geschrieben wird. Darauf sind wir nicht vorbereitet. Weil unsere Lehrer diese neue Art von Freiheit nicht erfahren haben. Alles ist Freiheit. Die Musik, die uns heute zufließt - mag man sie nun oder nicht - entsteht nicht willkürlich. Ich habe keine Zuneigung zu Rockmusik, aber ich muß einsehen: da sind Millionen von Menschen, die sich dafür interessieren. Und ich will natürlich herauskriegen, warum das so ist. Was fasziniert die Leute, und woher kommt das? Ich habe viele Gründe für diesen Zuspruch entdeckt: Klangeffekte, die darin versteckte Melodik, die man nicht hört (und man kann daraus lernen, daß es sich um eine Illusion handelt) und so fort. Wir sind nicht vorbereitet für all diese Dinge.
 

Für mich sind Computer, Fernsehen usw. zum Schreien. Wenn ich Kinder mit Computerspielen hantieren sehe, kann ich nur sagen: 'Ciao, in diesem Leben ist das nichts mehr für mich - nächstes Mal können wir nochmal darüber reden' - alles klar?
Was wir "Moderne Musik" nennen, muß für uns nicht etwas anderes sein, es ist dasselbe. Doch, wie bei den computerverliebten Kindern von heute, jetzt sind wir davon weit entfernt..."
Der israelische Komponist Ofer Ben-Amots hat für Giora Feidman eine halbstündige Suite geschrieben: 'Celestial Dialogues', woraus Feidman und das Leipziger Kammerorchester unter Heinz Rögner einen Satz vortragen: 'The Celestial Freylach'.
The Celestial Freylach; Giora Feidman (Klarinette), Leipziger Kammerorchester, Heinz Rögner, 1995 (Dauer: 5'30")
(Pläne CD 88785)

Der Verlust der musikalischen Sensibilität, die Abstumpfung der Reaktion des Menschen auf den Klang ist eine gefährliche Begleiterscheinung unserer konsumfreudigen Gesellschaft.
"Der Einfluß des Rock'n'Roll ist immens. Man hat uns erzählt, daß alles eigentlich aus Afrika stammt und nicht wirklich neu ist. Was aber ist neu daran? Neu ist, daß es so laut ist! Und da kommen wir in Bedrängnis. Wenn du mit solcher Lautstärke konfrontiert wirst, verlierst du die Verbindung zu deiner inneren Stimme. Du verlierst es, oder du konntest es nie bekommen, und man hat dich nicht sensibilisiert, auf das zu hören, was von innen kommt. Du verlierst die Verbindung zwischen der äußeren Welt und deiner Seele. Wenn du die stetige innere Stimme nicht wahrnimmst, suchst du die Lautstärke. Du wirst nie eine befriedigende Grenze erreichen.
Im Holocaust haben die Menschen die äußere Seite aufgeben müssen. Doch die SS konnte nicht an ihre Seelen ran.
Die Inder sprechen nicht von der inneren Stimme - sie sind in Verbindung. Nie hat mir ein Guru gesagt: "Höre auf deine innere Stimme!" Nie. Du hörst in die Stille. Sie bleibt unberührbar. Die Musik brachte die Stille zum Selbst. Es läßt sich nicht fassen. Die Rock'n'Roll-Generation weiß nicht darum. Die Chance ist da, immer... - es ist ein Desaster."
Giora läßt seine Hörer "in die Stille hören", nimmt sie mit "in eine andere Welt", so im ewigen Rätsel Maurice Ravels.
L'énigme éternelle (M. Ravel); Giora Feidman (Klarinette), Jerusalem Symphony Orchestra, David Shallon, 1994 (Dauer: 1'27")
(Pläne CD 88768)
 
"Ich spiele nicht Klarinette. Ich bin ein Sänger. Ich singe durch mein Instrument. Ich sage manchmal, daß das Instrument das Mikrophon meines Selbst ist. Dann stelle ich meine Schüler vor einen Spiegel: "Siehst du dich? Siehst du das Instrument? Es hat mit Musik nichts zu tun." Musik siehst du nicht. Luft siehst du nicht. In die Seele kannst du nicht sehen. Geruch zum Beispiel siehst du nicht, aber du machst Gebrauch von ihm, von einem bestimmten Aroma usw.... Die Leute benutzen mobile Telefone im Freien. Aber sie verstehen nicht, daß ich über mein Gehirn, meinen Verstand mit meiner Tochter in Jerusalem kommunizieren kann, daß von da das Telefon kommt. Telefon ja, aber kein Versuch, Autokommunikation mit einer anderen lebenden Person oder Seele aufzunehmen. Wenn du mich mit meiner Klarinette auf die Bühne gehen siehst, so gehe ich zu einem Fest, einer Zusammenkunft von Seelen. Was du physikalisch begreifen kannst, ebenso was nicht so erklärbar ist - es ist alles da. Die einen haben Karten gekauft, die anderen nicht, aber sie sind da. Manchmal muß ich vorsichtig sein mit dieser Art Konversation... Oft kam ich nach einem Konzert noch einmal zurück in den Saal und spielte. Der Raum ist leer. Aber das ist nicht wahr, er ist nicht leer, er ist voll von Seelen. Letztlich sind die Stühle meine besten Freunde. Das Publikum geht nach Hause, aber die Stühle bleiben. Ich kann dann noch für die Stühle spielen. Aber, gut, es ist nicht für die Stühle..."
Für wen dann? Auch für Bilder kann man spielen. Der Komponist Wilfried Hiller erzählt gerne von einer für ihn folgenreichen illegalen Szenerie:
Hiller-Zitat
Aus Wilfried Hillers Chagall-Zyklus spielen Giora Feidman und das Philharmonische Kammerorchester München unter Michael Helmrath den Schlußsatz 'Shulamiths Traum', der mit Zitaten aus Bachs Matthäus-Passion durchsetzt ist. Hiller dazu: "Dieser Versuch einer Synthese jüdischen und christlichen Gedankenguts ist auch ein großes Anliegen Giora Feidmans."
Shulamiths Traum (W. Hiller); Giora Feidman (Klarinette), Philharmonisches Kammerorchester München, Michael Helmrath, 1993 (Dauer: 4'27")
(Pläne CD 88757)
 
Mit einigen Komponisten kooperiert Giora Feidman regelmäßig, so mit seinem Landsmann Osvaldo Golijov, dessen 'Seven Prayers of Isaac the Blind' er mit dem Cleveland Quartet und dem Kronos Quartet spielte. Eine CD-Veröffentlichung dieses originellen, unfangreichen Klezmer-goes-Classic-Werks ist geplant. Auch Kompositionen von Andre Hajdu und Ofer Ben-Amots spielt Giora häufig, zudem viele Arrangements von Gesängen seiner Frau Ora und Tangos von dem Bandoneonisten Roberto Pansera. Zu den Komponisten, die seit Jahren mit Giora Feidman in Verbindung gebracht werden, zählt Wilfried Hiller, in dessen Rattenfänger-Oper auf ein Libretto von Michael Ende Feidman die Hauptrolle übernahm.
Zitat Hiller
'Der Rattenfänger', aus dem 4. Bild (W. Hiller); Giora Feidman (Klarinette), Philharmonisches Orchester Dortmund, Laurent Wagner, live in Dortmund 24. 9. 93 (Dauer: ca 3'00")
(Pläne CD 88762)
 
Giora Feidman fährt fort, für ihn komponierte neue Werke zu spielen, legt seinen ganzen Elan in diese Aufgabe:
"Neue Musik zu bringen ist ein hoher Wert, - eine neue Symphonie, ein neues Lied. Es ist eine neue Botschaft. Nicht die alte Botschaft, die du mit der Zeit mehr und mehr dir zu eigen machen kannst. Und darin üben sich die Leute, die in Konzerte mit "Moderner Musik" gehen. Viele sind sehr skeptisch gegenüber dieser Musik. Ich denke, daß das nicht unberechtigt ist, weil die Musiker nicht wirkliche Fachleute in der Ausführung dieser Art Musik sind. Andererseits ist es das gleiche wie in einem neuen Film - ohne die visuelle Gebundenheit der Musik - wenn wir ein neues Stück im Konzertsaal hören: wir müssen diese neue Botschaft kennenlernen, wir brauchen sie wie eine neue Medizin oder eine technische Neuerung - es ist eine neue geistige Sendung. Es ist eine Frage der Gelegenheit, ihnen zu zeigen, daß Musik eine Botschaft ist. Jeder Tag, jede Sekunde ist eine geistige Botschaft. Es ist nicht eine Nachricht, die mir sagt, welche Kombination nächsten Freitag im Lotto gewinnt, oder, ob ich über die Straße gehen soll oder nicht - es ist eine geistige Botschaft. Wir müssen sie zum Hören erziehen. Dann werden sie jede neue Botschaft aufsaugen. Jede Uraufführung wird ausverkauft sein, weil du wissen willst: "Was ist neu, was bringen sie heraus?" Es ist sehr einfach - es muß in der Schule stattfinden, an der Universität, überall muß man das spielen für die Leute."
Die Wurzeln von Giora Feidmans unstillbarer Neugier liegen in der Musik seiner Heimatstadt Buenos Aires, die kaum einer mit solch subtiler Natürlichkeit zu spielen versteht - Spiel, Klezmer, spiel!
A media luz (E. Donato); Feidman & Band (Dauer: 3'24")
(Pläne CD 88706)
 
Sendemanuskript für BR4 (Redaktion: Wilfried Hiller);
Produktion: 7.6.96;
Erstsendung: 6.7.96, 23:oo-24:oo, 'Musik der Welt';– Christoph Schlüren, im Juni 1996 –
Sunrise Sunset' (J. Block); Feidman & Band, 1981 (Dauer: 2'24");
(Pläne CD 88725).