Yefim Bronfman wurde am 10. April
1958 im uzbekischen Taschkent als Sohn des Konzertmeisters im Opernorchester
und einer Pianistin geboren. Er wuchs in der Oper auf: "Als
ich 7-8 Jahre alt war, konnte ich alle Partien mitsingen. Wir hatten
keinen Babysitter." Emil Gilels und David Oistrakh gehörten
zum Freundeskreis seines Vaters. Yefim wurde zum Pianisten ausgebildet,
spielte zwölfjährig das erste Rachmaninow-Konzert und
emigrierte mit vierzehn Jahren mit seinen Eltern nach Israel, wo
er überragende neue Eindrücke von Bernstein, Fischer-Dieskau
usw. empfing und bei Arie Vardi studierte. Er setzte seine Studien
in den USA bei Rudolf Serkin und Leon Fleisher fort. Daniel Barenboim
ist in der Folge ein entscheidender Mentor. Heute ist Yefim Bronfman
einer der bedeutendsten Pianisten.
CS: Sie sitzen wie ein Fels am Klavier. Haben Sie das bewußt
erlernt?
YB: Ich habe immer geglaubt, daß der Körper nicht die
Musik ausdrücken sollte. Manchmal, wenn ich im Konzert Leute
höre, die sich so viel bewegen, nehme ich nicht mehr wahr,
was sie spielen. Ich war immer sehr bewußt über dieses
Problem. Auch meine Eindrücke von großen Pianisten wie
Gilels oder Horowitz, die mich stark berührten, waren so: Nur
Musik kam 'raus. Ihre persönliche, körperliche Gegenwart
war völlig unwichtig. Michelangeli bewegte nicht einen Muskel
zuviel. Aber wenn er einmal seine Augenbrauen bewegte, bedeutete
das eine Menge. Und das ist nicht anders, was die Dynamik betrifft
- wenn Pablo Casals forte spielte, erschien es so viel lauter als
bei den anderen. Aber es war nicht lauter, es war die Art, wie er
es umgab - woher es kam, wohin es ging.
CS: Es ist also nicht eine Frage physikalischer Intensität.
YB: Die körperliche Intensität ist Ergebnis des musikalischen
Denkens, nicht umgekehrt. Ich reagiere körperlich auf das,
was von innen kommt.
CS: War Ihr Interesse anfangs mehr rein pianistischer Art, oder
war es ein allgemeines musikalisches Interesse, unabhängig
vom Instrument?
YB: Das Klavier hat mich nie wirklich interessiert als einziges
Ausdrucksmedium. Das Klavier ist maximal unpersönlich. Sie
drücken die Taste nieder und produzieren den Klang, und danach
können Sie's nicht mehr beeinflussen - der Klang stirbt in
dem Moment, wo sie ihn hören; ganz im Gegensatz zur menschlichen
Stimme, zu Streich- und Blasinstrumenten, wo jeder Moment gestaltbar
ist. Klavierspiel kann doch nicht aufs Klavierspielen limitiert
sein! Es ist die Umsetzung der Illusion einer Stimme, mehrerer Stimmen.
Es geht immer darum, die melodische und überhaupt klangliche
Kontinuität zu schaffen, wie man sie von Sängern lernen
kann. Wie kann man den langsamen Satz des ersten Brahms-Konzerts
spielen, ohne diese Illusion zu verfolgen? Zugleich ist das Klavier
das polyphonste Instrument: Sie müssen alle Stimmen gleichzeitig
wahrnehmen, verfolgen. Und da spielt der Grad der Bedeutung die
entscheidende Rolle, die Hierarchie der Stimmen: dieses hier mehr,
jenes dort weniger charakteristisch herauskommen zu lassen, je nachdem,
wo wir gerade sind in der Musik. Der dritte und vielleicht wichtigste
Aspekt des Klavierspiels ist die orchestrale Qualität - das
Klavier ist das orchestralste Instrument, es hat alles. Ich vergesse
nie Michelangelis Recital vor etwa fünfzehn Jahren - die Farben,
die aus dem Klavier kamen! Das war etwas, wie ich es nie vorher
oder nachher gehört habe. Was für ein Eindruck! Und Gilels:
Sein früher Beethoven klang sehr 'klassisch', aber zum Beispiel
im fünften Klavierkonzert ging das weit über diese Dimension
hinaus. Da klang der Flügel unter ihm wie ein ganzes Orchester.
Manche Beethoven-Sonaten, zum Beispiel die 'Hammerklavier'-Sonate,
hat er so phantastisch gespielt, wie ich sie nie wieder hörte
- es war absolut gigantisch, klang wie drei Orchester zusammen.
Das war der stärkste Eindruck meiner Jugend.
CS: Wenn Sie nun mit Maazel das dritte Beethoven-Konzert
spielen: Fühlen Sie sich heute von Gilels' Spiel geprägt
bei Beethoven?
YB: Ich kann nicht sagen, daß ich irgendjemandem nacheifern
würde. Jeder, den ich hörte, hat mich in einer bestimmten
Weise, zu einem gewissen Grade berührt und damit auch beeinflußt,
indem ich damit umging. Und Gilels war ein herausragender Einfluß
bei Beethoven für mich, zweifellos. Aber was ich tue, ist wahrscheinlich
völlig irrelevant in dieser Hinsicht. Ich kann nicht beschreiben,
wie ich spiele, denn es ist viel einfacher, zum Klavier zu gehen
und es zu tun. Und fruchtbarer. Aber gut: Beethoven ist auch für
mich der schwierigste Komponist. Aus strukturellen Gründen,
hinsichtlich des Ausdrucks...
CS: Inwiefern hinsichtlich des Ausdrucks? Höchst ausdrucksvoll,
aber noch ohne die rhythmische Aufweichung der Romantik?
YB: Ich verstehe, daß wir nicht die richtigen Worte haben.
Romantik ist nicht immer von dieser Art. Mozart war ein Romantiker.
Bach war ein Romantiker. Es gibt die Tradition, bestimmte Dinge
in einer bestimmten Art zu spielen. Aber: Wenn ich etwas Neues höre,
etwas, das ich nie zuvor gehört habe, beeindruckt mich das
immer besonders. Auch, wenn es seltsam, mir fremd ist. Deswegen
glaube ich nicht an Tradition. Ich halte Tradition vielmehr für
die sehr dicke Kruste, die wir an unseren Schuhsohlen mitschleppen.
Darüber wird vergessen, auf was es wirklich ankommt, was die
Substanz ist. Ich versuche, es anders zu spielen - nicht, um es
anders zu machen, als Selbstzweck! - so, wie ich es fühle.
Und das wechselt von Aufführung zu Aufführung. Ich spiele
völlig unterschiedlich von Nacht zu Nacht, und das geschieht
ganz natürlich - selbstverständlich in einem bestimmten
Rahmen des Annehmbaren, dem Stück Angemessenen.
CS: Wovon hängt dieser stetige Wechsel ab?
YB: Von so vielem: von der Umgebung, wo Sie hinkommen...
CS: Es ist also von Anfang an: Sie kommen 'rein und es fängt
an: anders.
YB: Ja. Es ist ein Prozeß, der am besten verläuft, wenn
Sie ihn nicht planen. Beeinflußt vom Saal, vom Klavier, vom
Publikum. Es ist nicht so abhängig davon, wie Sie sich fühlen.
Das ist sekundär. Ich entdeckte nach Jahren, die ich mich damit
geplagt hatte, daß man wirklich nicht unbedingt dann am besten
spielt, wenn man gut ausgeruht ist: Manchmal spielen Sie besonders
gut, wenn Sie wirklich müde sind - weil Sie entspannter sind.
Oder wenn Sie krank sind. Wie Sie sich fühlen, hat überhaupt
nichts zu sagen! Sie können sich fühlen wie ein Millionär,
und grauenhaft spielen.
CS: Das heißt: Sie müssen offen sein, spontan.
YB: Sie müssen sich selbst sein! Sie können nicht spontan
sein auf Aufforderung. Sie müssen ehrlich sein! Ich denke,
daß Ehrlichkeit das Essentielle ist. Sie können vor dem
Publikum überhaupt nichts verstecken. Wenn Sie die Bühne
betreten, ist das der Augenblick der Wahrheit. Wenn dann irgendetwas
nicht so gut funktioniert, sollte man darüber nicht beschämt
sein. Sie müssen es zulassen! Das ist der beste Weg.
Interview: Christoph Schlüren (München, 20.6.96)
(veröffentlicht im Münchner
Kulturmagazin 'Applaus', 1996)
Das Klavier ein Orchester
CD-Tips: Als exklusiver Sony Classical-Künstler hat Yefim Bronfman
7 CDs eingespielt, von denen folgende 5 derzeit erhältlich
sind: Bartók, Klavierkonzerte Nr. 1-3 (Los Angeles Philh.,
Salonen; SK 66718); Prokofjew, Klavierkonzerte Nr. 1, 3 und 5 (Israel
Philh., Mehta; SK 52483); Prokofjew, Klavierkonzerte Nr. 2 und 4,
Ouverture über jüdische Themen (Giora Feidman, Klarinette,
Juilliard Quartet, Israel Philh., Mehta, SK 58966); Prokofjew, Klaviersonaten
Nr. 1, 4 und 6 (SK 52484); Prokofjew, Klaviersonaten Nr. 2, 3, 5
und 9 (SK 53273).
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