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Immer wieder staunen

Anouar Brahem, Oudist

Anouar Brahem, geboren 1957 in Halfaouine, gilt als der bedeutendste Oud-Spieler seiner Generation in Tunesien. Die Oud ist eine Laute vermutlich persischen Ursprungs und diente einst als Vorbild der europäischen Laute. Sie wird in der arabischen Musik vornehmlich als Begleitinstrument eingesetzt. Doch brachten es einige Oud-Virtuosen zu beträchtlichem Ruhm als Improvisatoren von unverkennbar persönlichem Profil, so auch Ali Sriti, bei dem Anouar Brahem im Anschluß ans Konservatorium in Tunis mehrere Jahre lang Privatschüler war: "Er empfing mich praktisch jeden Tag. Die Stunden dauerten so von 3 Uhr nachmittags bis 8 Uhr abends und waren in die alltäglichen Verrichtungen integriert. Während er mich unterrichtete, überwachte Ali Sriti auch die Bauarbeiten an seinem Haus. Der direkte Kontakt mit diesem Meister war das Wichtigste für meine Entwicklung. Was ich bei ihm lernte, ist theoretisch nicht vermittelbar – wie im Jazz. Das war ein großes Privileg für mich. Natürlich gibt es theoretische Grundlagen im Melodischen, im Rhythmischen, in den Verzierungen. Aber die praktischen Feinheiten sind individuell geprägt. So ein Meister ist die beste Schule."
Tunesien ist ein Schmelztiegel mediterraner Einflüsse, in dem sich auch die arabischen Kulturen aus dem Nahen Osten und der andalusisch-marokkanischen Welt treffen. "Die Tradition türkischer Musik hat sich seit dem osmanischen Reich erhalten. In den 30er Jahren kamen viele armenische und türkische Exilmusiker. Ich entdeckte Reichtum und Vielseitigkeit der arabischen Traditionen, und Flamenco, Musik aus Griechenland, Italien, Malta… Und immer wieder gab es solche kreativen Schocks: Als ich erstmals Keith Jarrett hörte oder Paco de Lucia. Ich ging dann nach Frankreich, wo ich mit Musikern aus aller Welt in Kontakt kam und in alle Richtungen experimentieren konnte, um alles noch einmal neu beginnen zu lassen. Das Wichtigste ist, die Wurzeln immer aufs Neue zu ernähren. Aber: Findet keine Erneuerung statt, so sterben auch die Wurzeln ab. Museale Pflege und Festlegung sind der Tod. Ich glaube an das 'Laboratorium des Lebens'."

1990 begann Brahems Zusammenarbeit mit dem Münchner Label ECM, wo jetzt das fünfte Album erschienen ist. Ist auf den ersten zwei CDs, 'Barzakh' (1990, ECM 847540-2) und 'Conte de l’incroyable amour' (1991, ECM 511959-2, mit dem phänomenalen Klarinettisten Barbaros Erköse) noch das arabische Element dominierend, so kommt es auf den weiteren Aufnahmen durch die Zusammenarbeit mit europäischen Musikern zu abenteuerlichen Stilkreuzungen, wobei sich Brahems sensitiv-nobles Spiel immer seinen Raum erobert und in der interkulturellen Begegnung seine Authentizität erhält. 'Madar' (1992, ECM 519075-2) ist vom spannenden Dialog mit dem Saxophonisten Jan Garbarek geprägt, der Melodien seiner norwegischen Heimat einbringt. 'Khomsa' (1994, ECM 527093-2) enthält in vielseitiger Instrumentation (mit dem Akkordeonisten Richard Galliano) Stücke aus Film- und Theatermusiken Brahems und klingt recht französisch orientiert. Auf seinem neuen, mit den Jazzmusikern John Surman (Klarinetten, Saxophone) und Dave Holland (Baß) aufgenommenen Album 'Thimar' wollte Brahem "auf ganz einfache Dinge zurückgreifen, alles entkleiden bis zur nackten Substanz. Dabei gerieten Holland und Surman zum Glück keinen Moment in orientalische Klischees." Und er selbst? "Um Himmels Willen! Selbstimitation ist das Schlimmste. Mein Ziel ist, immer wieder zu dem ursprünglichen Staunen zurückzufinden, das der Grund für alles Musizieren ist."

Christoph Schlüren

(CDs bei ECM)

(Beitrag für Music Manual)