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Nachrichten vom Jazzgitarristen John Abercrombie

Welcome to Open Land!

"Es gibt keine strikte Grenze zwischen Komposition und Improvisation, und immer wieder entsteht die Zone, wo es durcheinander geht: Wenn Du ein geschriebenes Stück erklingen lassen kannst, als wäre es improvisiert, kannst Du vielleicht auch eine Improvisation gestalten, als wäre sie komplett durchkomponiert. Je mehr ich so etwas anstrebe, desto bewußter werde ich über die Form. Man fängt ja tatsächlich mit nichts an, setzt das Fragment einer Idee frei und muß dieses nun entwickeln, ausfalten in der Zeit, zu einem schlüssigen Ende bringen. Man muß intuitiv sein und zugleich wie ein Komponist denken. Das ist nicht so, wenn Du in einem gegebenen, traditionellen Stil – z. B. Bebop – quasi 'gesichert' improvisierst. Aber wenn ich versuche, mit Akkorden und Melodien etwas Neues, ein komplettes Stück hervorzubringen, ist das viel härter: Man muß dann mit allen Aspekten zurecht kommen, eine Gesamtform etablieren. Es sollte natürlich und fließend wirken, auch wenn es kompliziert ist, und das geht nur, wenn man sich über die Struktur bewußt ist. Der gute Improvisator hört genau, was er gerade tut, und reagiert darauf, auch in der Gruppe, besonders da! Nimm Keith Jarrett: Er ist sehr frei, und es klingt sehr komponiert, wenn ihm alles gelingt, und zugleich so spontan und unbegrenzt. Frei sein heißt eigentlich: frei in den Entscheidungen sein. Es bedeutet keineswegs Chaos, sondern Bewegungsfreiheit innerhalb des Systems, Hingabe an die Möglichkeiten. Die wahre Freiheit entsteht durchs Hören, nicht durch die motorische Fertigkeit. Es ist die Kunst des zugleich bewußten und intuitiven, fortwährenden Antwortens."
John Abercrombie (geb. 1944) weiß, wovon er spricht. Als einer der kreativsten und erfahrensten Jazz-Gitarristen ist er seit seinem 1974 entstandenen ersten Album "Timeless" (im Trio mit Schlagzeuger-Legende Jack de Johnette und Fusion-Keyboarder Jan Hammer) kontinuierlich mit dem Münchner Label ECM verbunden. Er bevorzugt seit jeher kleine Besetzungen, denn "da kann man sich besser ausdrücken, hat mehr Freiheit in der Erfindung und Phrasierung, muß sich nicht so ans Arrangement halten und kann spontaner reagieren. Und das spontane Spiel liegt mir am meisten." So hat er viele Platten in Triobesetzung gemacht, darunter die kultigen "Gateway"-Projekte mit Bassist Dave Holland und Jack de Johnette. Und die Duo-Arbeit mit dem Gitarristen und Pianisten Ralph Towner von Oregon, der ihn "kompositorisch vielleicht stärker als irgendein anderer beeinflußt hat, ist auch bestens bei ECM dokumentiert: "Ralph kommt als Gitarrist von der Klassik, als Pianist hingegen ganz klar vom Jazz, von Bill Evans, her. Ich dagegen bin ursprünglich im Standard-Jazz verwurzelt. Unser Zusammenspiel erschloß neue, stilistisch sehr freie Horizonte mit viel folkloristischem Feeling. Das Risiko macht es erst reizvoll für Musiker und Hörer. Wer nichts riskiert, weiß nie, was dahinter liegt. Es ist wie im Leben. Und ich mag viele Arten von Musik, auch risikolose."
Wenn Abercrombie nun auf seiner neuen CD "Open Land" mit fünf Mitstreitern auftritt, so "spielen wir nicht alle gleichzeitig, es sind maximal fünf Musiker auf einmal, was für mich eine Menge ist. Das meiste von mir ist mehr improvisiert als komponiert, es ist dann oft ein einfacher Song als Grundlage, aber diesmal beschäftigte ich mich viel mit der Komposition, und ich habe intensiver darauf geachtet, daß die Dinge zueinander passen. Natürlich ist es auch hier sehr spontan – ich möchte sagen: so spontan wie möglich –, und doch mehr organisiert, denn ich mußte die Geige und das Saxophon integrieren, Entscheidungen treffen."

Den Geiger Mark Feldman, der einen herausragenden Eindruck hinterläßt, hatte Abercrombie "vor einigen Jahren zum ersten Mal gehört und wollte die ganze Zeit etwas mit ihm machen. Mein erster Gedanke war diese 'perverse Kuriosität': Geige, Orgel, Gitarre und Drums – an Saxophon und Flügelhorn dachte ich da noch gar nicht. Aber auch der Sound von Geige, Sax und Gitarre hatte sich mir eingeprägt, von einer Platte Jerry Hahns aus den 70ern. Diese Kombinationen haben mich nie mehr losgelassen, und jetzt konnte ich sie endlich verwirklichen." Am schönsten übrigens bezeichnenderweise in der hellwachen, bizarren Sechser-Improvisation "Free Piece Suite" – Welcome to Open Land! Daneben sollte man Abercrombies einfühlende Qualitäten als relaxed schöpferischer Sideman nicht übersehen, so auf der jüngsten CD im Quartett mit dem Tenorsaxophonisten Charles Lloyd. "Ich bin grundsätzlich ein Electric-Guitar-Player. Das hat mich schon als Kind am meisten fasziniert. Heute leben wir in einer Zeit, wo die E-Gitarre endlich ihre eigene Identität im Jazz hat. Sie hat sich eigenständig entwickelt in der Improvisation, weg von der Saxophon-Imitation. Und das Interessante bei der Gitarre ist, daß es so unerschöpflich viele verschiedene Arten und Wege gibt."

Christoph Schlüren (1999)

(Beitrag für Music Manual, 2000)

Auswahl-Diskographie
John Abercrombie

"Timeless", mit Jan Hammer (Keyboards) und Jack de Johnette (Schlagzeug);
•ECM 829114-2
"Sargasso Sea", mit Ralph Towner (Gitarren, Klavier);
•ECM 835015-2
"Gateway", mit Dave Holland und Jack de Johnette;
•ECM 829192-2
"Gateway – In the Moment", mit Dave Holland und Jack de Johnette;
•ECM 529346-2
"Speak of the Devil", mit Dan Wall und Adam Nussbaum;
•ECM 849648-2
"Open Land", mit Mark Feldman (Violine), Kenny Wheeler (Trompete, Flügelhorn), Joe Lovano (Tenorsax), Dan Wall (Orgel) und Adam Nussbaum (Schlagzeug);
•ECM 557652-2
Charles Lloyd: "Voice in the Night", mit John Abercrombie (Gitarre), Dave Holland (Kontrabass) und Billy Higgins (Schlagzeug);
•ECM 559445-2
Vertrieb: Universal (Deutschland), Lotus (Schüsselland)