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Oper als zuständliche Evokation

Roderick Watkins' "The Juniper Tree" als Abschluß
der Münchner Musiktheater-Biennale

Roderick Watkins' Märchen-Oper The Juniper Tree, abschließender Hauptbaustein der Münchner Musiktheater-Biennale '96/97, lebt hauptsächlich durch ihre rein musikalischen Qualitäten, obwohl der musikalische Ausdruck durchgehend widerspruchsfrei in den Dienst der psychologistisch modifizierten, archaisch gewaltigen Geschichte gestellt wird. Grundlage von Patricia Debneys schlicht und geradeheraus intendiertem Text ist ein besonders schauriges Grimm-Märchen, die pommersche, plattdeutsch überlieferte Geschichte Von dem Machandelboom (Wacholderbaum), wo die Mutter stirbt, die Stiefmutter dem kleinen Jungen den Kopf abhackt, die Schuld auf ihr geliebtes Töchterlein abwälzt und die Leichenteile ihrem Gatten unwiderstehlich schmackhaft zubereitet: "Ach, Fru, wat smeckt my dat Aeten schöön! gif my mehr!" Dem Mädchen schmeckt's weniger. Es vergräbt die abgenagten Knöchlein unter dem Machandelboom, dem der Ermordete in Gestalt eines mächtigen Vogels entsteigt, der ein Mühlrad anschleppt und über der Stiefmutter abwirft. Ihr Tod bedeutet die Rückkehr des Jungen unter die Lebenden. Librettistin Patricia Debney, Ehefrau des Komponisten, hat versucht, die Geschichte so abzuändern, daß sie heutigen Gemütern einleuchtender erscheint, die Personenkonstellation gängigen Standards entgegenkommt. So ist die Tochter keine gemeinsame mehr, sondern eine ältere, aus erster Ehe. Das Resultat ist nur scheinbar vermittelbarer, die Ebene des Kultischen und des Wunders wirkt umso isolierter im Lichte neuzeitlicher Auffassungen. Dieselbe Zweischneidigkeit überträgt sich auf die Inszenierung. Sklavische Textabbildung im Westentaschenformat - das hat auch unbestreitbare Vorzüge, die vom unbeweglich kreisenden Bühnenbild gestützt werden: Die Enge der familiären Verstrickungen und Verhaftungen, der Blutsbande und emotionalen Vergiftung wird hochgetrieben durch den immergleichen Ritus der sich drehenden Holzstube - da drin, zwischen den Balken, kann das Böse und Bittere nisten, welkt der Schmerz, haust die intellektuelle Ohnmacht des Ungeistes. Lichter Gegensatz ist der Machandelboom, Kontaktort zur Realität hinter der erscheinenden Welt, durch Zauber offene Tür zwischen Tod und Leben. Das ist uns heute fremd und verlangt nun doch nach einer abstrakteren Inszenierung, gäbe doch die Musik den Anstoß dafür, indem sie die im Jenseits befindlichen Gestalten - und nur diese - mit elektronischen Klängen kodifiziert. Eher unglücklich ist, daß der Vater drei Nebenrollen mitübernimmt, was den unmittelbaren Effekt eintrübt. Und szenisch lächerlich wirkt die Umgehung der Vogelgestalt - ein (Styropor-)Mühlrad in voller Größe soll's schon sein, doch wer soll das halten? Also ersetzen Flaschenzüge den Vogel, an denen die Gaben - die guten wie die todbringende - Geräuchertem gleich hängen.
Zu eindimensional sind - wenigstens in der zweiten Hälfte des 85minütigen Verlaufs - alle Ersichtlichkeiten, nicht jedoch das, was wir hören. Mag sein, daß Watkins' Musik auch zu einer ganz anderen Geschichte mit ähnlichen emotionalen Aufwallungen ebenso passen könnte.

Mehr noch: Das eigentliche Drama spielt sich viel überzeugender musikalisch ab - dies weniger im Sinne einer Vertonung als paralleler zuständlicher Evokation. Diese Oper ist Melodrama im engeren Wortsinn, anscheinend ein lyrisches Kammerspiel, in Wirklichkeit die Rettung der Handlungskohärenz mit Mitteln der Musik, nicht zuletzt dank der ungeheuer präsenten, klangbewußten Aufführung der London Sinfonietta-Dutzendschaft unter Markus Stenz. Dem 1964 geborenen Henze-Schüler Roderick Watkins ist es gelungen, dem kleinen Apparat einen ungeheuren Farben- und Ausdrucksreichtum abzugewinnen, eine Kontinuität von engmaschigem Melos und intensiven, zugleich weit aufgefächerten Timbres zu schaffen, die von höchster Begabung zeugt. Alle Energie nimmt dabei ihren Ausgang im Leisen, Verhaltenen, das immer wieder, vom magischen Einstieg der Baßklarinette bis zum knappen letzten Flötenecho, sich als Grundgestimmtheit durchsetzt und im rituellen Englischhorn-Lamento am greifbarsten wird (denk ich an Tristan...). Eine knappe Stunde wohl trug der Spannungsbogen, dann verdunstete er, aber vielleicht ist es ja auch möglich, daß er das ganze Stück durchzieht. Die Singstimmen sind mit den Instrumenten verwoben zu einer einheitlichen, sich ergänzenden Textur, in der das eines ohne das andere nicht auskommen würde, ohne daß sie jemals verdeckt würden. Die Sänger leisteten Erfreuliches: Grandios und nicht zufällig sehr instrumental im aggressiven Spektrum Penelope Warmsley-Clark als Stiefmutter, eine tönende Seele Robert Poulton in der Rolle des Vaters, angsterfüllt unschuldig der Knabe David Wigram, in schütteren Tiefen klagend Louise Mott als (vom Plot manipulierte) Tochter, aus dem Totenreich leuchtend Alison Kettlewell, Mutter, Fee und halber Vogel in einem.
Heterophon umschlingen die Tonfolgen in The Juniper Tree den Text, der so etwas wie die außermusikalische Hauptstimme ist, winden sich an ihm entlang, verleihen ihm dezidierten Charakter durch die Katarakte der Grausamkeit bis zum wunderlichen Ende. Der musikalisch überzeugendste Beitrag dieser Biennale ist nicht notwendigerweise effektives Theater. The Juniper Tree ist schließlich ein Märchen mit Mitteln der Musik, nichts weiter, nichts weniger. Ein (symphonisch) klingender Kern umgibt eine wohlfeil erdachte Schale.

Christoph Schlüren

(Rezension für Frankfurter Rundschau, April 1997)