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Fartein Valen (1887-1952)

Freischwebendes Polymelos

Musikgeschichte wird, vor allem in unserem Jahrhundert der rastlosen Umwälzungen, meist in Trends, Strömungen und Kategorien geschrieben, die stets mit wenigen überragenden Persönlichkeiten in Zusammenhang gebracht werden. Dabei wird gerne übersehen, daß auch viele jener Komponisten, die üblicherweise nicht zu den "ganz Großen" gezählt werden, Persönlichkeiten sind, deren Werdegang und Werk in keine Schublade paßt, sondern eine eigene Kategorie begründet. Als Norweger brach er entschlossen aus der nationalromantischen Tradition aus und eroberte sich seine eigene zwölftönige Polyphonie jenseits aller modischen Glaubenskriege:
Fartein Valen (1887-1952)
Freischwebendes Polymelos
(Anspieltip: Le cimetière marin op. 20)
 
Als der junge Fartein Valen sich entschied, Komponist zu werden, stand die norwegische Musik ganz im Zeichen der von Svendsen, Grieg und Sinding etablierten Nationalromantik. Valen, geboren am 25. August 1887 in Stavanger und als Missionarssohn einige Jahre in Madagaskar aufgewachsen, gehört mit Harald Sæverud, Klaus Egge und Bjarne Brustad zu jener Ende des 19. Jahrhunderts geborenen Generation, die mit dieser vor allem von Deutschland gekommenen Tradition bewußt brach. In seinen frühen Werken wie beispielsweise der ersten Klaviersonate und der Violinsonate ist diese Einflußsphäre noch deutlich zu hören, wenngleich im besten Sinne kontrapunktisch-strukturellen Denkens in der Nachkommenschaft Brahms’. Doch spätestens in seinem 1921 entstandenen Ave Maria op. 4 für Sopran und Orchester und dem darauffolgenden Klaviertrio entfernte sich Valen in einer chromatisch erweiterten Tonalität, die weitgehend eindeutige Kadenzierung umging, unmißverständlich von den romantischen Vorbildern. Es folgten mehrere Orchestergesänge, in welchen er jene schwebende, scheinbar alleine aus der Linienführung resultierende dissonante Harmonik zur Reife entwickelte, die für sein weiteres Schaffen gültig blieb. Den letzten Schliff polyphoner Meisterung erzielte Valen, der wie wenige Komponisten seiner Zeit in Johann Sebastian Bachs Kontrapunkt und Fuge zu Hause war, in den zwei Streichquartetten op. 10 und 13, die eigentlich zur Kernliteratur der Gattung gehören sollten, jedoch bis heute in ihrem einmaligen Format unerkannt geblieben sind, sowie mit drei Zyklen a-cappella-Motetten. Er stieß auf erbitterten Widerstand aus dem konservativen Musik-Establishment, doch vermochte niemand, ihn auf der eingeschlagenen Bahn zu irritieren. Nunmehr widmete er sich überwiegend der Orchestermusik und bereicherte das Genre der nicht-programmatischen, rein atmosphärisch inspirierten Tondichtung zwischen 1929 und 1934 mit acht kristallklaren, aufs Feinste ziselierten Juwelen, die innige Poesie mit präzisem Strukturdenken zu etwas grundlegend Neuem verbinden – es fällt schwer, irgendein Werk hervorzuheben, doch sind 'Le cimetière marin' (inspiriert von Paul Valérys Gedicht und dem Friedhof der Choleraopfer bei Valens Heim in Valevåg) und 'La isla de las calmas' (eine mallorquinische Evokation) als die bekanntesten zu nennen. 1939 kam mit der geradezu autobiographisch betitelten 'Ode an die Einsamkeit' noch ein weiteres dieser herrlichen Tonpoeme hinzu. Valens Zwölftönigkeit hat zwar Berührungspunkte mit Schönberg, Berg und Webern, doch weicht er in entscheidender Weise von der Wiener Schule ab. Seine Expressivität entstammt nicht dem überhitzt komprimierenden Expressionismus, sondern atmet transzendente Leichtigkeit und läßt bei aller Strenge eine impressionistische Luzidität zu. Man hat Valens Dodekaphonie als introvertierte Variante zur zentraleuropäischen Hauptströmung bezeichnet, doch ist das Introvertierte nur ein Zug seines Charakters, der wohl als nordischer Wesenszug gelten muß. Dahinter verbergen sich eine Wildheit, Obsession und Verwegenheit, die sich vor allem in den vier Sinfonien, die zwischen 1937 und 1949 entstanden, unverstellter offenbaren sollten. Dabei blieb Valen in der Form immer diszipliniert, schuf stets aufs Neue Gebilde von klassischer Balance und natürlich anmutender, organischer Faktur. Dies hängt grundsätzlich damit zusammen, daß für ihn nicht eine abstrakte Tonreihe maßgeblich war, die beliebig transponiert, zerstückelt, umgekehrt und krebsgängig gemacht werden konnte. Vielmehr ist seine Musik geprägt von unzweifelhaft wiederkehrender, prägnanter Motivik, die so erst jene bezwingenden Steigerungs-, Reprise- und Schlußwirkungen, die seinen Werken unverwechselbare Einheitlichkeit in der Mannigfaltigkeit ermöglichen. Zudem arbeitete Valen ganz bewußt prozessual mit der Harmonik, die bei ihm keineswegs als Zufallsergebnis dissonanter Linienführung im Zwölftonkorsett eintritt. Was er hingegen aus der Zwölftönigkeit gewinnt, ist jener harmonische Schwebezustand, der durch die gegenseitige Neutralisierung der tonalen Gravitationsfelder eintritt. Das ist bei Valen aber nicht einfach Folge eines Systems, sondern immerzu frisch den Tonverbindungen abgelauscht, und so entstand infolge einer unausgesetzt hellwachen, nie sich auf systemischem Regelwerk ausruhenden Hörhaltung eine beziehungsreich vielstimmige Musik, die harmonisch in Luftregionen angesiedelt ist, ein freischwebendes Polymelos.

Auch in den späteren Jahren blieb Fartein Valen fruchtbringenden Einflüssen gegenüber offen. Seine erste Sinfonie (1937-39) läßt, besonders im Scherzo und Finale, die Affinität zu Bruckner erkennen, freilich der Zwölftönigkeit anverwandelt. Insofern könnte man Valen ebenso leichthin als dodekaphonen Abkömmling Bruckners apostrophieren, wie die Schönberg-Exegeten dessen Mahler-Erbe betonen. Wie Schönberg oder Berg liebte auch Valen manche herkömmlichen Satztypen, schrieb gerne behende Scherzi, wiegende Siciliani und Pastoralen. Als zutiefst gläubiger Christ bezog er viel Inspiration aus christlichen Motiven, so aus bildlichen Darstellungen des Erlösers wie in der isorhythmischen Textur des Adagios aus der ersten Sinfonie, die entscheidend vom Erlebnis von El Grecos 'Christus am Ölberge' geprägt wurde, oder am Schluß seines Violinkonzerts von 1940, welches wie dasjenige Alban Bergs dem Andenken eines nahestehenden Menschen huldigt und zum Ende in einen in Bachs Vertonung Allgemeingut gewordenen Choral ('Jesu meine Zuversicht') mündet.
Zwischen der Periode der Tonpoeme und derjenigen der vier Sinfonien widmete sich Valen nochmals intensiv kleineren Formaten und schrieb 3 weitere Motetten und bedeutende Klavierwerke, darunter die Variationen op. 23. Sein letztes Klavierwerk, die zweite Sonate (1940-41), spielte Glenn Gould ein und äußerte sich wenig zimperlich: "Eine Verschwörung des Stillschweigens hat sich über seine bemerkenswerten musikalischen Meisterwerke gelegt." Ja, man kann anhand der musikalischen Qualität nicht verstehen, warum Valen bis heute außerhalb Norwegens nur wenigen Kennern ein Begriff ist. Als Klassiker der Moderne müßte er wenigstens all jenen präsent sein, denen "Schönberg und die Folgen" etwas bedeuten. In seiner Heimat jedenfalls konnte sich der einstige Berliner Student von Max Bruch ab 1935 dank staatlicher Absicherung fast ausschließlich aufs Komponieren konzentrieren und die Stelle als Inspekteur der Musiksammlung der Osloer Universität aufgeben. 1938 zog er nach Valevåg an der Westküste, wo er die Schrecken des Krieges künstlerisch sublimierte und bis zu seinem Tod am 14. Dezember 1952 in Abgeschiedenheit wirkte. Seine letzten vollendeten Werke waren die äußerst stringente, fast asketische Vierte Sinfonie, eine Serenade für Bläserquintett und ein Klavierkonzert.

Christoph Schlüren

(Längere Fassung eines 'Kleinen Lauschangriffs'
für Klassik Heute, November 2001)

Diskographie

Sinfonien Nr. 1-4;
Bergen Philharmonic, Aldo Ceccato
Simax PSC 3101 (Vertrieb: Klassik-Center)
Tondichtungen: Pastorale, Le cimetière marin, La isla de las calmas, Sonetto di Michelangelo, Nenia, Cantico di ringraziamento, Ode to Solitude; Orchestergesänge: Ave Maria, 2 Chinesische Gedichte, Darest Thou Now, Die dunkle Nacht der Seele
Dorothy Dorow (Sopran), Oslo Philharmonic, Miltiades Caridis
Simax PSC 3115
Violinkonzert, Klavierkonzert; Tondichtungen: An die Hoffnung, Epithalamion; Serenade für Bläserquintett, Klaviertrio op. 5
diverse Interpreten
Simax PSC 3116
Violinkonzert (+ Werke von Sibelius, Stenhammar)
Arve Tellefsen (Violine), Trondheim Symphony Orchestra, Ole Kristian Ruud
Simax PSC 1173
2. Streichquartett (+ Quartette von Egge, Kvandal, A. Janson)
Oslo Streichquartett
Naxos 8.554384
2. Klaviersonate (+ Werke von O. Morawetz, Anhalt, Hétu, Pentland)
Glenn Gould
Sony SMK 52677
Variationen für Klavier (+ Werke von Grieg, Sæverud, Tveitt, Johansen)
Leif Ove Andsnes
EMI 556541-2
Komplette Klavierwerke mit Opusnummern (+ Werke von Sæverud)
Robert Riefling
BIS 173/174 (Vertrieb: Klassik-Center)
Sonate für Violine und Klavier op. 3 (+ Werke von Mortensen, Nordheim, Hegdal, Asheim)
F. Veselka (Violine), M. Dratvová (Klavier)
Aurora ACD 4972 (Vertrieb: Liebermann)

(Stand: September 2001)