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Ulrich Stranz

Suche nach einer 'Neuen Faßlichkeit'

Die Musik von Ulrich Stranz überfällt den Hörer nicht und versucht nicht, ihn zu überreden. Sie ist darauf angewiesen, daß er sich auf sie einläßt. Obwohl fast obligatorisch mit unendlichen Mühen in Gang gebracht, ist sie primär keine Verstandes-, sondern Seelenmusik. Ulrich Stranz ist ein sympathischer, zum Mitfühlen und -empfinden einladender Mensch, wahrlich keiner jener abgebrühten Zeitgenossen mit einem festumrissenen Arsenal scheinbarer Gewißheiten und geschäftstüchtig abgefederter Sicherheiten. Wie sein nächstes Musikstück letztlich beschaffen sein soll, weiß er nie von vornherein. Eigentlich bedeutete es eine Beleidigung für seine künstlerische Haltung, daß man ihn lange Zeit als Exponenten der sogenannten 'Neuen Einfachheit' einsortierte. Eher zutreffend wäre 'Neue Faßlichkeit' gewesen. Das Faßliche findet Stranz in der Tonalität, die keineswegs identisch ist mit der herkömmlichen Idee tonaler Musik in der westlichen Musik vor den Umbrüchen der Moderne. Tonalität bedeutet bei ihm vielmehr in einem allumfassenden Sinn mitvollziehbare Beziehung zwischen den Tönen, das zusammenhängende Erleben des Tonraums, der Intervalle in melodischer (also unmittelbar horizontaler) wie harmonischer (also vertikaler und mittelbar horizontaler) Hinsicht. Tonalität ermöglicht erlebbaren Zusammenhang, ist ein musikalisches Naturgesetz, das man nicht überwinden, sondern höchstens mit sehr komplizierten, die Korrelationsfähigkeit auch des geübten Hörers übersteigenden Ton- und Geräuschsukzessionen hinter die Wahrnehmbarkeitsschwelle drängen kann. Die Tonalität ist für Stranz kein System, wie er sich überhaupt als Post-Serialist im systemfreien Raum mit all seinen Freiheiten und Uferlosigkeiten bewegt, die für so viele andere in Beliebigkeit münden: "Den untersten Boden, auf den ich mich beim Denken in Musik abstütze, erkenne ich, weit entfernt vom dodekaphonischen Zugang, in einer Ordnung der zwölf Tonorte, aufzufassen als diatonisch bis enharmonisch hintergründet. Es bleibt damit allerdings noch sehr viel offen, und tatsächlich bedeutet Kompnieren für mich auch nicht das Ingebrauchnehmen einer außerhalb des aktuellen Kompositionsvorgangs bereitliegenden Musiksprache. Bemühe ich mich zu Beginn einer Arbeit um erste konkrete Formulierungen, geht dies häufig Hand in Hand oder fällt manchmal geradezu ineins mit der Suche nach einer konstruktiven Leitidee, von der her sich auf für das jeweilige Stück möglichst charakteristische Weise Fortsetzung und Zusammenhang gewinnen lassen. So sehr ich mich in der Werkstatt vor der Einübung 'bewährter Kunstgriffe' hüte, strebe ich als Ergebnis doch immer eine Musik an, die stimmig, sinnfällig, organisch gerundet und in sich abgeschlossen ist; und ein Experiment gilt mir dann als gelungen, wenn es vom Hörer als solches nicht wahrgenommen wird."
Die künstlerische Lebenswelt, in der Stranz sich bewegt, ist eine solche extremer Anspannung. Alles geschieht im Wirkungsfeld polarer Zugkräfte. Von seiner natürlichen Veranlagung her ist Stranz ein echter Musikant voll Spiellaune, tänzerischer Eleganz, Sangesfreude und ausgelassener Experimentierlust. Diese Eigenschaften ungehindert ausleben zu können, bedarf eines sicheren Bodens, einer relativen Konvention der Detailordnungen. Die kann man heute entweder übernehmen oder versuchen, für sich selbst eine zu schaffen. Ersteres bedeutet Assimilation, das zweite setzte, um wirklich als Katalysator und Kommunikationsträger des Ureigenen fungieren zu können, einen wirklichen Fund voraus, der so etwas wie eine religiöse Gewißheit über dessen fundamentale Qualität auslösen müsste. Beide Wege beinhalten die Gefahr der Imitation (letzterer der Selbst-Imitation) und der Eingrenzung von Gedanke, Mitteln und Ausdruck. Selbstverständlich kann niemals ausgeschlossen werden, daß jemand einen solchen Weg entdeckt und in der so sich auftuenden Welt die ganze Kraft seines schöpferischen Subjekts freizusetzen vermag, doch dies geschieht – mit Blick über die gesamte zugängliche Musikgeschichte – höchst selten: "Wer sucht, findet nicht. Nur wer findet, findet", sprach der Zenmeister. Wir sind alle Suchende.
Fehlt also diese Minimalkonvention (die Tonalität ist Naturgesetz korrelativen Hörens, also im Gegensatz zu manch landläufiger musikwissenschaftlichen Auslegung ebensowenig Konvention wie die Schwerkraft oder das Phänomen der Komplementärfarben), so geht in der kompositorischen Arbeit der ungehinderte Fluß verloren. Will er das, was er als echt und wert erlebt, kommunizieren so gerät der Komponist ins stocken, zögern, zaudern, fackeln. Stranz’ Denken "dreht sich heute primär um die Form, immer noch im selben Zwiespalt zwischen dem Bedürfnis, mich auszudrücken, den Menschen etwas mir wesentlich Erscheinendes mitzuteilen, ihnen etwas zu geben, und andrerseits diesen tonsprachlichen Problemen, die sich mir immer noch stellen. Ich muß den Stillstand meiden. Also bin ich immer in dem gleichen Dilemma, daß ich wahnsinnig viel Zeit brauche für wenig Musik. Eine Facette meines Tuns sind die Schlieren und das auskomponierte Rubato. Da liegt eine Stärke von mir, die aber auch auf einer Schwäche basiert: Ich habe Probleme mit dem 'konkreten Rhythmus', also mit dem Betonen der Takteins als etwas Selbstverständlichem. Darum muß ich hart ringen! Es ist genauso schwer, wie einen einfachen Dreiklang, eine Tonika hinzusetzen. Das Eindeutige ist so schwer. Es will erkämpft sein und wartet auf den Moment, in dem es darf. Was ist dieses Eindeutige eigentlich? Es ist so schnell banal.
Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Es kann nur weitergehen, indem jeder Einzelne ehrliche Lösungen sucht, aber es wird keine Regel geben, weder plötzlich die große neue Freiheit noch die verbindliche Sprache der Zukunft. Natürlich habe ich die Vorstellung von großen Verläufen, vom Ungehinderten, aber der 'Alltag des Taktstrichs' läßt einen häufig nicht dorthin kommen. Ich könnte zwei bis drei Tage damit zubringen, zwei bis drei Töne ins rechte Verhältnis zueinander zu bringen. Die 'große Geste' hingegen muß sich auf längst Errungenes stützen. Nur die ganz großen Genies können alles gleichzeitig. Jeder ist so, wie er ist. Und ich bin doch eher ein Tüftler, kein Al-fresco-Mann. Ich glaube, daß ich ein sehr guter Lehrer wäre, aber ich bin gewiß kein Prophet. Ich will überall entdecken außer dort, wo ich nicht hinwill. Je breitmaschiger man empfindet und arbeitet, desto mehr Hindernisse muß man auf sich nehmen. Dadurch kommt man viel langsamer vorwärts, wie ein Schiff mit Schleppnetzen rechts und links. Aber man kann vieles auffangen, dessen Existenz man nicht einmal ahnte, und wird überrascht – angenehm oder unangenehm, das weiß man nicht voraus." (im Gespräch mit dem Autor, 1995)
 
Geigenduos, erstes Bier und Zwölftonschule
Ulrich Stranz wurde am 10. Mai 1946 im oberbayerischen Neumarkt St. Veit unweit Landshut geboren. Sein Vater kam aus dem Arbeitermilieu und interessierte sich für Musik und Anthroposophie. Schon als Kind muß Ulrich leidenschaftlich gerne gepfiffen und gesungen haben, und seiner Umgebung fiel die Intonationsreinheit auf. "Ich hörte mit größter Freude Radio, egal welche Musik. Irgendwann wurde mir dann bewußt, daß hinter all dieser Musik Menschen stecken, die sie geschaffen haben. Das bewunderte ich unendlich, daß einer etwas so Schönes und Vollendetes machen kann." Der Zehnjährige wurde von seinem Geigenlehrer ein halbes Jahr lang theoretisch auf den Musikunterricht vorbereitet, bevor er zum ersten Mal die Geige in die Hand nehmen durfte. "Die Geige ist bis heute mein Hauptinstrument geblieben. Fast gleichzeitig begann ich, Noten zu schreiben, und nervte meinen Lehrer damit. Der Wunsch zu komponieren wurde durch die Mehrstimmigkeit der Unterrichts-Duos ausgelöst. Also schrieb ich auch solche Duos, dann Streichquartette. Ein Klavier war nicht in Reichweite. Da kam ich zu einem Tonbandgerät, einem TK 20, und nun multiplizierte ich mein eigenes Spiel per Band. Das alles geschah ohne jegliche theoretische Kenntnisse, völlig autodidaktisch. Ich bastelte instinktiv Konsonanzen aneinander. Meine Eltern hielten nichts von meiner Komponiererei, da mein Lehrer meinte, ich sollte mehr Geige üben statt der überflüssigen Notensetzerei. Bei diesen Kinderwerken hatte ich keinen Gedanken an Form im Sinne richtiger 'Werke', es waren allesamt kurze Stückchen.
Als Vierzehnjähriger war ich mit meinen Eltern in den Alpen, in einem Gipfelrestaurant. Meine ganzen Gedanken kreisten zu jener Zeit um die Entstehung eines meiner beiden Jugendstreichquartette [Nr. 1 in A-Dur, Nr. 2 in g-moll]. Da hörte ich ein Gespräch am Nachbartisch, aus dem ich entnahm, daß der von vielen Bewundererinnen umgebene alte Herr nebenan ein leibhaftiger Komponist war. Ich nahm meinen Mut zusammen, ging zu ihm hin und sagte ihm, daß auch ich ein richtiger Komponist werden wollte. Er fragte mich: 'Hast du denn eine Ahnung von Formenlehre?' Wer dieser Komponist war, habe ich nie erfahren. Aber zum nächsten Weihnachtsfest schenkte mir mein Vater die Formenlehre von Erwin Ratz, die lange eine Bibel geblieben ist."
Zunächst entdeckte Ulrich Stranz an neuerer Musik heutige Klassiker wie Béla Bartók, Paul Hindemith oder Igor Strawinskij, "was ich zuerst ablehnte, doch dann schlug es in Sucht um. Als erste Partituren besorgte ich mir die Bartók-Streichquartette und versuchte, seinen Stil zu imitieren. Ich hatte keine Ahnung von der technischen Seite, schrieb aber ein Streichtrio in dieser spröden Harmonik, das wir in der Schule aufführten. Später am Gymnasium, in der Unterprima, lernte ich Peter Michael Hamel kennen. Bartók war unser erklärter Favorit. Mit Peter, der ein ganz anderer Charakter ist als ich, war es ein fantastischer gegenseitiger Ansporn."
Peter Michael Hamel berichtet rückblickend: "Unser erstes Bier tranken wir im Stehausschank beim Deutschen Museum, an der Isarbrücke kurz nach Schuljahresbeginn im Herbst 1964. Stranz war damals neu in die zwölfte Parallelklasse des Musischen Gymnasiums gekommen und wurde als qualifizierter Geigenschüler von Erich Keller ein wertvoller Zuwachs des Schulorchesters, so wie der ebenfalls komponierende Joachim Krist als Dritter im Bunde. Stranz, ein knappes Jahr älter als ich und zeitweilig mein Nachbar im mehrklassigen Physikunterricht, war stets modisch geschmackvoll gekleidet; in Sachen Popmusik auf dem neuesten Beatles-Stand schwang er gerne das Tanzbein, war bei den Mädchen beliebt, und mit seiner Geige improvisierte er höchst witzig und einfallsreich in allen Stilen. Ihm verdanke ich vor allem das Selbstverständnis, schon damals in erster Linie Komponist zu sein. Er nahm mich auch zu Fritz Büchtger mit, bei dem wir während der letzten beiden Schuljahre und der achtzehnmonatigen gemeinsamen Neubiberger Wehrpflicht-Zeit – er im Musikkorps, ich in der Küche – meist Mittwoch nachmittags umfassenden Theorie- und Kompositionsunterricht genossen."
Stranz erzählt, schon bevor er zu Büchtger kam, habe er "für mich ganz alleine das Zwölftonsystem entdeckt und in dieser Richtung experimentiert. Durch über die Formenlehre von Ratz weiterführende Lektüre war ich auf Zwölftontheoretiker wie Hanns Jelinek und Ernst Krenek gestoßen. Bei Büchtger ging es dann richtig in die Dodekaphonie hinein. Für ihn war diese Sprache eine Selbstverständlichkeit, der einzige mögliche Weg in die Zukunft – darüber mußte man nicht einmal sprechen. Büchtger war ein sehr freundlicher Mensch, der aber die Frustration, nicht ganz durchgedrungen zu sein mit seinem Schaffen, nicht völlig verbergen konnte. Aber sein Ethos und seine Strenge prägten uns. Auch war sein Kontrapunktunterricht wertvoll – da ging es weniger um die Regeln Ton gegen Ton, sondern vor allem darum, unabhängige Charaktere in der Gleichzeitigkeit gegeneinander zu setzen."
Laut Hamel "zwang Büchtger uns seine eigene, von Hauer geprägte, esoterisch-anthroposophisch verankerte Dodekaphonie nicht auf, sondern bereitete uns schließlich auf die Aufnahmeprüfung an der Münchner Staatlichen Musikhochschule vor, damit wir bei Professor Günter Bialas studieren konnten.
 

Dort sind wir 1968 in eine lebendige Kompositionsklasse geraten, die durch Eigeninitiativen wie 'Musik unserer Zeit' von Wilfried Hiller auch erste Aufführungen ermöglichte. Noch in der Schulzeit und in den Jahren danach betrieben wir ein reges Experimentieren, Tonbandbasteleien, musique concrète, Geräuschmusik und elektronische Modulation.
Ulrich Stranz hat sich damals neben seinem professionellen Geigenstudium mit all den experimentellen und improvisatorischen Möglichkeiten seiner Streichinstrumente, vor allem Viola mit Kontaktmikrophon, befaßt und war Gründungsmitglied unserer anfangs radikal improvisierfreudigen Gruppe 'Between'."
Bialas scheint nicht nur für die beiden ein fast idealer Lehrer gewesen zu sein und war, so Hamel, "in der Lage, jedes gänzlich verschieden gelagerte Talent bloßzulegen und hat oft auch gegen die Neigung des Einzelnen gearbeitet, fand bei Uli Stranz Struktur im Vordergrund, bei mir den Klang zu dominant. Gegenläufig war darum auch seine Anregung, Stranz mehr klanglich und mich mehr strukturell arbeiten zu lassen. Den Geiger ließ er ein Klavierstück schreiben, den Pianisten ein Violinstück probieren. Es galt, sich selbst durch Andersartiges kennenzulernen, Vorbild und Imitation zu überwinden."
Monolog über "ein rechtes Glatteis"
Stranz meint, Büchtger habe damals "richtig begriffen, wohin unser weiterer Weg führen sollte. Und das war gewiß nicht der akademische Neoklassizismus, der in München auch vertreten war. Noch während der Zeit bei ihm streckte ich meine Fühler in Richtung Heterophonie aus – was mich immer sehr interessierte, ist der Klang: nicht im Einzelton, sondern als 'Klangsatz'. Solche Dinge probierte ich in meinem 'nullten' Streichquartett erstmals aus, welches dann im 'Studio für Neue Musik' uraufgeführt wurde. Bialas half mir dann sehr auf diesem Weg. Er war ja ein echter 'Heterophoniker'. Er nahm uns sofort diesen zweifelhaften Rettungsring der Zwölftonreihe weg, damit wir endlich schwimmen lernten, und forderte uns auf, den freien Raum zu erkunden. Die Tonalität als 'Kitt' war fern, und auch er brachte sie uns nicht nahe. Bald aber faszinierte mich diese Tabuzone 'Tonalität'. Das wurde es unaufhaltsam konkreter, und heute kann ich keine zwei Noten denken, ohne sie in einem tonalen Zusammenhang zu erleben. Dieser wesentliche Impuls kam wohl von zwei Seiten: einerseits ab 1969 durch durch das Improvisieren in der Gruppe 'Between', denn im Moment des unwillkürlichen Musizierens kommt man von selbst in die Tonalität hinein und merkt: das ist in dir drin, es gibt gar nichts anderes, es ist Natur; andererseits, auf intellektueller Ebene, durch die ästhetische Diskussion und das Vorbild seiner Werke der 'kargen Phase', von Wilhelm Killmayer. Die 'Re-Tonalisierung' war hierzulande sein Verdienst, das sich auf fast alle auswirkte. Ich halte diese Phase für seine stärkste und anregendste. Er beherrschte auch das lange Durchhalten einer Sache, das Intensivieren eines einzigen Gedankens. Bialas verdanke ich als Wesentlichstes das Ethos: die Verpflichtung zur Ehrlichkeit, sich keine Halbheiten und Scheinlösungen zu gestatten, die selbstkritische Haltung, und: Musik für Menschen zu machen, also der humane Aspekt. Gemeinsam ist uns die Angst vor der Banalität. Ich bin auch sehr empfindlich gegenüber dem Banalen und gehe gleichzeitig immer wieder auf diese Grenze zu. Ich bewege mich bewußt auf diesem Grat, denn ich weiß genau, daß dort immer etwas zu gewinnen ist. Dabei kostet es immer seelische Kräfte, dem Banalen zu entrinnen. Doch je näher ich mich daran heranwage, ohne ihm zu verfallen, desto wertvoller kann das Ergebnis werden – im Gegensatz zur anderen, 'sicheren' Seite: In einem bestimmten Stil kann man ja gar nicht 'falsch' komponieren! Doch mit der Tonalität bekennt man Farbe, und damit sind auch alle Risiken des Entgleitens verbunden, sie ist ein rechtes Glatteis. Natürlich lauert diese Gefahr auch in jeder persönlichen Äußerung, die sich hinter nichts versteckt. Und dann sind da natürlich die verführerischen Mittel avancierten Klangdenkens, vor allem im Zusammenhang mit György Ligeti, die etwas anrührten, was bereits in mir lag und mit dem Hang zur Heterophonie zu tun hatten: Die Heterophonie bewirkt ja eine Wolkigkeit und das Verwischen von Konturen, und gleichzeitig schafft sie Klang, Raum, Geheimnisvolles… Das beherrschte ich ziemlich gut, indem es wohl meinem Wesen entspricht. Aber irgendwann genügte mir das nicht mehr und das Bedürfnis nach der Konkretion wurde stärker: nach der eindeutigen, unverschleierten, unbemalten Aussage, dem offenen Bekenntnis. Das ging nicht nur mit meiner Erforschung der Tonalität zusammen, sondern hatte auch mit dem Bedürfnis nach der weitschwingenden Linie, dem Melos zu tun. Eigentlich stellte sich für mich früh heraus, daß ich ein Kontinuum, eine durchtragende, bruchlose Melodik erreichen wollte. Und wenn man das erweitert, nicht nur auf die Melodik beschränkt, sondern allgemeiner auf den erlebbaren Zusammenhang in einem Stück, ist das auch heute noch so: Das bin ich, durch und durch. Ich sehe darin auch Schwächen: Ich kann sehr schwer Dinge abbrechen lassen und unmittelbar daneben etwas völlig anderes stellen, was oft genug hilft, aus dem Kontrast heraus eine klare Form zu bauen. Ich habe das Gefühl, daß alles immer irgendwie weitergehen muß, immer in direkter Fortsetzung und nicht aus disparatem Denken. Andererseits ist mir das konzentrierte am-Material- und am-Motiv-Bleiben, im Sinne eines beethovenischen Erbes, eine innere Verpflichtung, was nicht zur Reprise führen muß und mit der Sonatenform nichts zu tun hat, aber als Leitlinie fungiert, an der ich mich unterschwellig orientiere."
 
Jenseits von Abnutzung und Avantgarde
Doch zurück zur Historie: Gemeinsam besuchten Stranz und Hamel 1970 die Darmstädter Ferienkurse und setzten sich mit Karlheinz Stockhausen auseinander, was, so Hamel, "einzig Stranz mit musikalischen Mitteln tat: An Stockhausens 'Klavierstück X' galt es sich zu messen, und es entstand ein erstes Meisterwerk: 'Anabasis' für Klavier. Die insistierende Tonwiederholung am Schluß dieses Stückes geht nahtlos über in den Beginn eines weiteren Schlüsselwerkes von Stranz: 'Nicht mehr – noch nicht' für Kammerensemble, darin enthalten die Erfahrungen mit der Gruppenimprovisation, dem Wagnis der unverhüllten Melodie. Schon hier ist der verantwortungsbewußte Umgang des Komponisten mit dem Tonmaterial zu erkennen. Ich erinnere mich an riesige Listen neben Uli Stranz’ eigentlichem Notenblatt, an seinen Blick für den Mikrokosmos eines einzigen Taktes, an das Ringen um den adäquaten Ausdruck.
In den folgenden Werken für große Besetzung – selten sind es flott hingeschriebene Partituren, meistens lang erwogene, durchgearbeitete Manuskripte – arbeitet der Komponist an klingenden Zeiträumen, Resonanzfeldern von vorsichtig repetitiver Ausdruckskraft. Mit sich selbst sehr oft im Widerstreit, ist der Musik der Wunsch eigen, etwas Organisches sprechen und fließen zu lassen, eine durchaus nicht modische, berührende Liebenswürdigkeit und Zärtlichkeit scheint zu tönen, manchmal verträumt und weich, bereit, eine innere Lichtung zu betreten. Als Gegenkraft zu solchen Innenbildern existiert bei Ulrich Stranz das entscheidende gedankliche Nachvollziehen komplexer Zusammenhänge, eine imaginative Vorstellbarkeit von Unvorstellbarem. So fesselt ihn jahrelang anspruchsvolle Science-fiction-Literatur, ist er ein begeisterter Schachspieler gewesen." (1987, aus einem Vortrag in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste)
Der Durchbruch zu internationaler Bekanntheit kam für Stranz 1974 in Stuttgart mit der Uraufführung seines Orchesterstücks 'Tachys'. Im gleichen Jahr ergab es sich fast zufällig, daß er, nach wie vor begeisterter Geiger, anläßlich einer Aufführung seines Werks 'Diversono' für 14 Solostreicher durch die Camerata Zürich nicht nur enge Kontakte zur Schweiz knüpfte und dort bald in verschiedenen Orchestern mitspielte (was er nach wie vor tut): Kurz darauf zog er mit seiner Frau, einer gebürtigen Zürcherin, nach Zürich, wo er bis heute lebt. Am 4. Februar 1993 schreibt der Komponist Rolf Urs Ringger in einem sehr einfühlsamen Portrait in der 'Neuen Zürcher Zeitung', Stranz "fühle sich in Zürich 'absolut assimiliert', wisse aber nicht, ob die Schweizer ihn auch so sähen. Manchmal bange er um seine bayrische Identität und fühle sich aus Europa ausgeschlossen. Doch der Abstand gebe ihm die Gelegenheit, Deutschland aus der Distanz zu sehen… Er ist nicht der Künstler im Elfenbeinturm, sondern umgänglich, leutselig, direkt – offenbar all das, was man sich unter einer bayrischen Frohnatur gern vorstellt. Diese Haltung zeigt sich auch in seiner Produktion. Stranz komponiert nicht für der kleinen Zirkel, sondern freut sich am Erfolg, an einer gewissen Breitenwirkung… Der Weg sei bei jeder neuen Komposition wieder neu. Trotzdem gebe es für ihn einige mehr oder weniger objektive Kriterien, über das einzelne Werk hinaus verbindliche Konstanten, gewissermaßen Topoi: im Harmonischen, in der Arbeitsweise, mit Tonzellen, Intervallkonstellationen… Für ihn gebe es kein Material, das grundsätzlich abgenützt sei; es komme drauf an, wie man es einsetze."
Im Januar 2001 bekannte Ulrich Stranz in einem Interview: "Der Wunsch, den Hörer aufzurütteln, führt heutzutage so manchen Komponisten dazu, ihn zu verstören, wenn nicht gar zu verletzen. Ohne die dunkle Seite und den Schmerz ganz auszublenden, bemühe ich mich vordringlich um das Helle, das Aufbauende und mit Hoffnung Verbundene. Eine solche Maxime glaubwürdig umzusetzen ist nicht einfach. Die kompositorischen Mittel, die ich mir täglich neu erkämpfen muß, sind weder die der klassisch-romantischen Musik mit ihrer von Dreiklang und Terzschichtung geprägten harmonischen Basis noch die derjenigen jüngeren Musik, die Töne nach arithmetischen oder stochastischen Gesichtspunkten oder lediglich im Hinblick auf ihren Geräuschwert handhabt. In meiner Musik fällt dem Linearen und dem Harmonischen gleichermaßen eine tragende Rolle zu: die tonalen Kraftfelder, die sich in jeder Tonkonstellation einstellen, versuche ich aufzuspüren beziehungsweise zu steuern. Im Rhythmischen finde ich selten zu einfachen Bildungen, was die Interpreten manchmal äußerst herausfordert. Klangzauber schließlich ist das, was mir am wenigsten schwerfällt. Einen Avantgardisten im Sinne des Wortes, wie es heute allgemein gebraucht wird, könnte man mich wohl nicht nennen, aber als durch und durch zeitgenössisch fühle ich mich nichtsdestotrotz. Ohne die Experimente und neuen Erfahrungen, die das zwanzigste Jahrhundert gebracht hat, könnte meine Musik nicht so sein, wie sie ist."

Christoph Schlüren

(aus dem Booklettext für Telos CD mit Stranz’ Streichquartetten, 2002)