Die Musik von Ulrich Stranz überfällt den
Hörer nicht und versucht nicht, ihn zu überreden. Sie
ist darauf angewiesen, daß er sich auf sie einläßt.
Obwohl fast obligatorisch mit unendlichen Mühen in Gang gebracht,
ist sie primär keine Verstandes-, sondern Seelenmusik. Ulrich
Stranz ist ein sympathischer, zum Mitfühlen und -empfinden
einladender Mensch, wahrlich keiner jener abgebrühten Zeitgenossen
mit einem festumrissenen Arsenal scheinbarer Gewißheiten und
geschäftstüchtig abgefederter Sicherheiten. Wie sein nächstes
Musikstück letztlich beschaffen sein soll, weiß er nie
von vornherein. Eigentlich bedeutete es eine Beleidigung für
seine künstlerische Haltung, daß man ihn lange Zeit als
Exponenten der sogenannten 'Neuen Einfachheit' einsortierte. Eher
zutreffend wäre 'Neue Faßlichkeit' gewesen. Das Faßliche
findet Stranz in der Tonalität, die keineswegs identisch ist
mit der herkömmlichen Idee tonaler Musik in der westlichen
Musik vor den Umbrüchen der Moderne. Tonalität bedeutet
bei ihm vielmehr in einem allumfassenden Sinn mitvollziehbare Beziehung
zwischen den Tönen, das zusammenhängende Erleben des Tonraums,
der Intervalle in melodischer (also unmittelbar horizontaler) wie
harmonischer (also vertikaler und mittelbar horizontaler) Hinsicht.
Tonalität ermöglicht erlebbaren Zusammenhang, ist ein
musikalisches Naturgesetz, das man nicht überwinden, sondern
höchstens mit sehr komplizierten, die Korrelationsfähigkeit
auch des geübten Hörers übersteigenden Ton- und Geräuschsukzessionen
hinter die Wahrnehmbarkeitsschwelle drängen kann. Die Tonalität
ist für Stranz kein System, wie er sich überhaupt als
Post-Serialist im systemfreien Raum mit all seinen Freiheiten und
Uferlosigkeiten bewegt, die für so viele andere in Beliebigkeit
münden: "Den untersten Boden, auf den ich mich beim Denken
in Musik abstütze, erkenne ich, weit entfernt vom dodekaphonischen
Zugang, in einer Ordnung der zwölf Tonorte, aufzufassen als
diatonisch bis enharmonisch hintergründet. Es bleibt damit
allerdings noch sehr viel offen, und tatsächlich bedeutet Kompnieren
für mich auch nicht das Ingebrauchnehmen einer außerhalb
des aktuellen Kompositionsvorgangs bereitliegenden Musiksprache.
Bemühe ich mich zu Beginn einer Arbeit um erste konkrete Formulierungen,
geht dies häufig Hand in Hand oder fällt manchmal geradezu
ineins mit der Suche nach einer konstruktiven Leitidee, von der
her sich auf für das jeweilige Stück möglichst charakteristische
Weise Fortsetzung und Zusammenhang gewinnen lassen. So sehr ich
mich in der Werkstatt vor der Einübung 'bewährter Kunstgriffe'
hüte, strebe ich als Ergebnis doch immer eine Musik an, die
stimmig, sinnfällig, organisch gerundet und in sich abgeschlossen
ist; und ein Experiment gilt mir dann als gelungen, wenn es vom
Hörer als solches nicht wahrgenommen wird."
Die künstlerische Lebenswelt, in der Stranz sich bewegt, ist
eine solche extremer Anspannung. Alles geschieht im Wirkungsfeld
polarer Zugkräfte. Von seiner natürlichen Veranlagung
her ist Stranz ein echter Musikant voll Spiellaune, tänzerischer
Eleganz, Sangesfreude und ausgelassener Experimentierlust. Diese
Eigenschaften ungehindert ausleben zu können, bedarf eines
sicheren Bodens, einer relativen Konvention der Detailordnungen.
Die kann man heute entweder übernehmen oder versuchen, für
sich selbst eine zu schaffen. Ersteres bedeutet Assimilation, das
zweite setzte, um wirklich als Katalysator und Kommunikationsträger
des Ureigenen fungieren zu können, einen wirklichen Fund voraus,
der so etwas wie eine religiöse Gewißheit über dessen
fundamentale Qualität auslösen müsste. Beide Wege
beinhalten die Gefahr der Imitation (letzterer der Selbst-Imitation)
und der Eingrenzung von Gedanke, Mitteln und Ausdruck. Selbstverständlich
kann niemals ausgeschlossen werden, daß jemand einen solchen
Weg entdeckt und in der so sich auftuenden Welt die ganze Kraft
seines schöpferischen Subjekts freizusetzen vermag, doch dies
geschieht mit Blick über die gesamte zugängliche
Musikgeschichte höchst selten: "Wer sucht, findet
nicht. Nur wer findet, findet", sprach der Zenmeister. Wir
sind alle Suchende.
Fehlt also diese Minimalkonvention (die Tonalität ist Naturgesetz
korrelativen Hörens, also im Gegensatz zu manch landläufiger
musikwissenschaftlichen Auslegung ebensowenig Konvention wie die
Schwerkraft oder das Phänomen der Komplementärfarben),
so geht in der kompositorischen Arbeit der ungehinderte Fluß
verloren. Will er das, was er als echt und wert erlebt, kommunizieren
so gerät der Komponist ins stocken, zögern, zaudern, fackeln.
Stranz Denken "dreht sich heute primär um die Form,
immer noch im selben Zwiespalt zwischen dem Bedürfnis, mich
auszudrücken, den Menschen etwas mir wesentlich Erscheinendes
mitzuteilen, ihnen etwas zu geben, und andrerseits diesen tonsprachlichen
Problemen, die sich mir immer noch stellen. Ich muß den Stillstand
meiden. Also bin ich immer in dem gleichen Dilemma, daß ich
wahnsinnig viel Zeit brauche für wenig Musik. Eine Facette
meines Tuns sind die Schlieren und das auskomponierte Rubato. Da
liegt eine Stärke von mir, die aber auch auf einer Schwäche
basiert: Ich habe Probleme mit dem 'konkreten Rhythmus', also mit
dem Betonen der Takteins als etwas Selbstverständlichem. Darum
muß ich hart ringen! Es ist genauso schwer, wie einen einfachen
Dreiklang, eine Tonika hinzusetzen. Das Eindeutige ist so schwer.
Es will erkämpft sein und wartet auf den Moment, in dem es
darf. Was ist dieses Eindeutige eigentlich? Es ist so schnell banal.
Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Es kann nur weitergehen,
indem jeder Einzelne ehrliche Lösungen sucht, aber es wird
keine Regel geben, weder plötzlich die große neue Freiheit
noch die verbindliche Sprache der Zukunft. Natürlich habe ich
die Vorstellung von großen Verläufen, vom Ungehinderten,
aber der 'Alltag des Taktstrichs' läßt einen häufig
nicht dorthin kommen. Ich könnte zwei bis drei Tage damit zubringen,
zwei bis drei Töne ins rechte Verhältnis zueinander zu
bringen. Die 'große Geste' hingegen muß sich auf längst
Errungenes stützen. Nur die ganz großen Genies können
alles gleichzeitig. Jeder ist so, wie er ist. Und ich bin doch eher
ein Tüftler, kein Al-fresco-Mann. Ich glaube, daß ich
ein sehr guter Lehrer wäre, aber ich bin gewiß kein Prophet.
Ich will überall entdecken außer dort, wo ich nicht hinwill.
Je breitmaschiger man empfindet und arbeitet, desto mehr Hindernisse
muß man auf sich nehmen. Dadurch kommt man viel langsamer
vorwärts, wie ein Schiff mit Schleppnetzen rechts und links.
Aber man kann vieles auffangen, dessen Existenz man nicht einmal
ahnte, und wird überrascht angenehm oder unangenehm,
das weiß man nicht voraus." (im Gespräch mit dem
Autor, 1995)
Geigenduos, erstes Bier und Zwölftonschule
Ulrich Stranz wurde am 10. Mai 1946 im oberbayerischen Neumarkt
St. Veit unweit Landshut geboren. Sein Vater kam aus dem Arbeitermilieu
und interessierte sich für Musik und Anthroposophie. Schon
als Kind muß Ulrich leidenschaftlich gerne gepfiffen und gesungen
haben, und seiner Umgebung fiel die Intonationsreinheit auf. "Ich
hörte mit größter Freude Radio, egal welche Musik.
Irgendwann wurde mir dann bewußt, daß hinter all dieser
Musik Menschen stecken, die sie geschaffen haben. Das bewunderte
ich unendlich, daß einer etwas so Schönes und Vollendetes
machen kann." Der Zehnjährige wurde von seinem Geigenlehrer
ein halbes Jahr lang theoretisch auf den Musikunterricht vorbereitet,
bevor er zum ersten Mal die Geige in die Hand nehmen durfte. "Die
Geige ist bis heute mein Hauptinstrument geblieben. Fast gleichzeitig
begann ich, Noten zu schreiben, und nervte meinen Lehrer damit.
Der Wunsch zu komponieren wurde durch die Mehrstimmigkeit der Unterrichts-Duos
ausgelöst. Also schrieb ich auch solche Duos, dann Streichquartette.
Ein Klavier war nicht in Reichweite. Da kam ich zu einem Tonbandgerät,
einem TK 20, und nun multiplizierte ich mein eigenes Spiel per Band.
Das alles geschah ohne jegliche theoretische Kenntnisse, völlig
autodidaktisch. Ich bastelte instinktiv Konsonanzen aneinander.
Meine Eltern hielten nichts von meiner Komponiererei, da mein Lehrer
meinte, ich sollte mehr Geige üben statt der überflüssigen
Notensetzerei. Bei diesen Kinderwerken hatte ich keinen Gedanken
an Form im Sinne richtiger 'Werke', es waren allesamt kurze Stückchen.
Als Vierzehnjähriger war ich mit meinen Eltern in den Alpen,
in einem Gipfelrestaurant. Meine ganzen Gedanken kreisten zu jener
Zeit um die Entstehung eines meiner beiden Jugendstreichquartette
[Nr. 1 in A-Dur, Nr. 2 in g-moll]. Da hörte ich ein Gespräch
am Nachbartisch, aus dem ich entnahm, daß der von vielen Bewundererinnen
umgebene alte Herr nebenan ein leibhaftiger Komponist war. Ich nahm
meinen Mut zusammen, ging zu ihm hin und sagte ihm, daß auch
ich ein richtiger Komponist werden wollte. Er fragte mich: 'Hast
du denn eine Ahnung von Formenlehre?' Wer dieser Komponist war,
habe ich nie erfahren. Aber zum nächsten Weihnachtsfest schenkte
mir mein Vater die Formenlehre von Erwin Ratz, die lange eine Bibel
geblieben ist."
Zunächst entdeckte Ulrich Stranz an neuerer Musik heutige Klassiker
wie Béla Bartók, Paul Hindemith oder Igor Strawinskij,
"was ich zuerst ablehnte, doch dann schlug es in Sucht um.
Als erste Partituren besorgte ich mir die Bartók-Streichquartette
und versuchte, seinen Stil zu imitieren. Ich hatte keine Ahnung
von der technischen Seite, schrieb aber ein Streichtrio in dieser
spröden Harmonik, das wir in der Schule aufführten. Später
am Gymnasium, in der Unterprima, lernte ich Peter Michael Hamel
kennen. Bartók war unser erklärter Favorit. Mit Peter,
der ein ganz anderer Charakter ist als ich, war es ein fantastischer
gegenseitiger Ansporn."
Peter Michael Hamel berichtet rückblickend: "Unser erstes
Bier tranken wir im Stehausschank beim Deutschen Museum, an der
Isarbrücke kurz nach Schuljahresbeginn im Herbst 1964. Stranz
war damals neu in die zwölfte Parallelklasse des Musischen
Gymnasiums gekommen und wurde als qualifizierter Geigenschüler
von Erich Keller ein wertvoller Zuwachs des Schulorchesters, so
wie der ebenfalls komponierende Joachim Krist als Dritter im Bunde.
Stranz, ein knappes Jahr älter als ich und zeitweilig mein
Nachbar im mehrklassigen Physikunterricht, war stets modisch geschmackvoll
gekleidet; in Sachen Popmusik auf dem neuesten Beatles-Stand schwang
er gerne das Tanzbein, war bei den Mädchen beliebt, und mit
seiner Geige improvisierte er höchst witzig und einfallsreich
in allen Stilen. Ihm verdanke ich vor allem das Selbstverständnis,
schon damals in erster Linie Komponist zu sein. Er nahm mich auch
zu Fritz Büchtger mit, bei dem wir während der letzten
beiden Schuljahre und der achtzehnmonatigen gemeinsamen Neubiberger
Wehrpflicht-Zeit er im Musikkorps, ich in der Küche
meist Mittwoch nachmittags umfassenden Theorie- und Kompositionsunterricht
genossen."
Stranz erzählt, schon bevor er zu Büchtger kam, habe er
"für mich ganz alleine das Zwölftonsystem entdeckt
und in dieser Richtung experimentiert. Durch über die Formenlehre
von Ratz weiterführende Lektüre war ich auf Zwölftontheoretiker
wie Hanns Jelinek und Ernst Krenek gestoßen. Bei Büchtger
ging es dann richtig in die Dodekaphonie hinein. Für ihn war
diese Sprache eine Selbstverständlichkeit, der einzige mögliche
Weg in die Zukunft darüber mußte man nicht einmal
sprechen. Büchtger war ein sehr freundlicher Mensch, der aber
die Frustration, nicht ganz durchgedrungen zu sein mit seinem Schaffen,
nicht völlig verbergen konnte. Aber sein Ethos und seine Strenge
prägten uns. Auch war sein Kontrapunktunterricht wertvoll
da ging es weniger um die Regeln Ton gegen Ton, sondern vor allem
darum, unabhängige Charaktere in der Gleichzeitigkeit gegeneinander
zu setzen."
Laut Hamel "zwang Büchtger uns seine eigene, von Hauer
geprägte, esoterisch-anthroposophisch verankerte Dodekaphonie
nicht auf, sondern bereitete uns schließlich auf die Aufnahmeprüfung
an der Münchner Staatlichen Musikhochschule vor, damit wir
bei Professor Günter Bialas studieren konnten.
Dort sind wir 1968 in eine lebendige
Kompositionsklasse geraten, die durch Eigeninitiativen wie 'Musik
unserer Zeit' von Wilfried Hiller auch erste Aufführungen ermöglichte.
Noch in der Schulzeit und in den Jahren danach betrieben wir ein
reges Experimentieren, Tonbandbasteleien, musique concrète,
Geräuschmusik und elektronische Modulation.
Ulrich Stranz hat sich damals neben seinem professionellen Geigenstudium
mit all den experimentellen und improvisatorischen Möglichkeiten
seiner Streichinstrumente, vor allem Viola mit Kontaktmikrophon,
befaßt und war Gründungsmitglied unserer anfangs radikal
improvisierfreudigen Gruppe 'Between'."
Bialas scheint nicht nur für die beiden ein fast idealer Lehrer
gewesen zu sein und war, so Hamel, "in der Lage, jedes gänzlich
verschieden gelagerte Talent bloßzulegen und hat oft auch
gegen die Neigung des Einzelnen gearbeitet, fand bei Uli Stranz
Struktur im Vordergrund, bei mir den Klang zu dominant. Gegenläufig
war darum auch seine Anregung, Stranz mehr klanglich und mich mehr
strukturell arbeiten zu lassen. Den Geiger ließ er ein Klavierstück
schreiben, den Pianisten ein Violinstück probieren. Es galt,
sich selbst durch Andersartiges kennenzulernen, Vorbild und Imitation
zu überwinden."
Monolog über "ein rechtes Glatteis"
Stranz meint, Büchtger habe damals "richtig begriffen,
wohin unser weiterer Weg führen sollte. Und das war gewiß
nicht der akademische Neoklassizismus, der in München auch
vertreten war. Noch während der Zeit bei ihm streckte ich meine
Fühler in Richtung Heterophonie aus was mich immer sehr
interessierte, ist der Klang: nicht im Einzelton, sondern als 'Klangsatz'.
Solche Dinge probierte ich in meinem 'nullten' Streichquartett erstmals
aus, welches dann im 'Studio für Neue Musik' uraufgeführt
wurde. Bialas half mir dann sehr auf diesem Weg. Er war ja ein echter
'Heterophoniker'. Er nahm uns sofort diesen zweifelhaften Rettungsring
der Zwölftonreihe weg, damit wir endlich schwimmen lernten,
und forderte uns auf, den freien Raum zu erkunden. Die Tonalität
als 'Kitt' war fern, und auch er brachte sie uns nicht nahe. Bald
aber faszinierte mich diese Tabuzone 'Tonalität'. Das wurde
es unaufhaltsam konkreter, und heute kann ich keine zwei Noten denken,
ohne sie in einem tonalen Zusammenhang zu erleben. Dieser wesentliche
Impuls kam wohl von zwei Seiten: einerseits ab 1969 durch durch
das Improvisieren in der Gruppe 'Between', denn im Moment des unwillkürlichen
Musizierens kommt man von selbst in die Tonalität hinein und
merkt: das ist in dir drin, es gibt gar nichts anderes, es ist Natur;
andererseits, auf intellektueller Ebene, durch die ästhetische
Diskussion und das Vorbild seiner Werke der 'kargen Phase', von
Wilhelm Killmayer. Die 'Re-Tonalisierung' war hierzulande sein Verdienst,
das sich auf fast alle auswirkte. Ich halte diese Phase für
seine stärkste und anregendste. Er beherrschte auch das lange
Durchhalten einer Sache, das Intensivieren eines einzigen Gedankens.
Bialas verdanke ich als Wesentlichstes das Ethos: die Verpflichtung
zur Ehrlichkeit, sich keine Halbheiten und Scheinlösungen zu
gestatten, die selbstkritische Haltung, und: Musik für Menschen
zu machen, also der humane Aspekt. Gemeinsam ist uns die Angst vor
der Banalität. Ich bin auch sehr empfindlich gegenüber
dem Banalen und gehe gleichzeitig immer wieder auf diese Grenze
zu. Ich bewege mich bewußt auf diesem Grat, denn ich weiß
genau, daß dort immer etwas zu gewinnen ist. Dabei kostet
es immer seelische Kräfte, dem Banalen zu entrinnen. Doch je
näher ich mich daran heranwage, ohne ihm zu verfallen, desto
wertvoller kann das Ergebnis werden im Gegensatz zur anderen,
'sicheren' Seite: In einem bestimmten Stil kann man ja gar nicht
'falsch' komponieren! Doch mit der Tonalität bekennt man Farbe,
und damit sind auch alle Risiken des Entgleitens verbunden, sie
ist ein rechtes Glatteis. Natürlich lauert diese Gefahr auch
in jeder persönlichen Äußerung, die sich hinter
nichts versteckt. Und dann sind da natürlich die verführerischen
Mittel avancierten Klangdenkens, vor allem im Zusammenhang mit György
Ligeti, die etwas anrührten, was bereits in mir lag und mit
dem Hang zur Heterophonie zu tun hatten: Die Heterophonie bewirkt
ja eine Wolkigkeit und das Verwischen von Konturen, und gleichzeitig
schafft sie Klang, Raum, Geheimnisvolles
Das beherrschte ich
ziemlich gut, indem es wohl meinem Wesen entspricht. Aber irgendwann
genügte mir das nicht mehr und das Bedürfnis nach der
Konkretion wurde stärker: nach der eindeutigen, unverschleierten,
unbemalten Aussage, dem offenen Bekenntnis. Das ging nicht nur mit
meiner Erforschung der Tonalität zusammen, sondern hatte auch
mit dem Bedürfnis nach der weitschwingenden Linie, dem Melos
zu tun. Eigentlich stellte sich für mich früh heraus,
daß ich ein Kontinuum, eine durchtragende, bruchlose Melodik
erreichen wollte. Und wenn man das erweitert, nicht nur auf die
Melodik beschränkt, sondern allgemeiner auf den erlebbaren
Zusammenhang in einem Stück, ist das auch heute noch so: Das
bin ich, durch und durch. Ich sehe darin auch Schwächen: Ich
kann sehr schwer Dinge abbrechen lassen und unmittelbar daneben
etwas völlig anderes stellen, was oft genug hilft, aus dem
Kontrast heraus eine klare Form zu bauen. Ich habe das Gefühl,
daß alles immer irgendwie weitergehen muß, immer in
direkter Fortsetzung und nicht aus disparatem Denken. Andererseits
ist mir das konzentrierte am-Material- und am-Motiv-Bleiben, im
Sinne eines beethovenischen Erbes, eine innere Verpflichtung, was
nicht zur Reprise führen muß und mit der Sonatenform
nichts zu tun hat, aber als Leitlinie fungiert, an der ich mich
unterschwellig orientiere."
Jenseits von Abnutzung und Avantgarde
Doch zurück zur Historie: Gemeinsam besuchten Stranz und Hamel
1970 die Darmstädter Ferienkurse und setzten sich mit Karlheinz
Stockhausen auseinander, was, so Hamel, "einzig Stranz mit
musikalischen Mitteln tat: An Stockhausens 'Klavierstück X'
galt es sich zu messen, und es entstand ein erstes Meisterwerk:
'Anabasis' für Klavier. Die insistierende Tonwiederholung am
Schluß dieses Stückes geht nahtlos über in den Beginn
eines weiteren Schlüsselwerkes von Stranz: 'Nicht mehr
noch nicht' für Kammerensemble, darin enthalten die Erfahrungen
mit der Gruppenimprovisation, dem Wagnis der unverhüllten Melodie.
Schon hier ist der verantwortungsbewußte Umgang des Komponisten
mit dem Tonmaterial zu erkennen. Ich erinnere mich an riesige Listen
neben Uli Stranz eigentlichem Notenblatt, an seinen Blick
für den Mikrokosmos eines einzigen Taktes, an das Ringen um
den adäquaten Ausdruck.
In den folgenden Werken für große Besetzung selten
sind es flott hingeschriebene Partituren, meistens lang erwogene,
durchgearbeitete Manuskripte arbeitet der Komponist an klingenden
Zeiträumen, Resonanzfeldern von vorsichtig repetitiver Ausdruckskraft.
Mit sich selbst sehr oft im Widerstreit, ist der Musik der Wunsch
eigen, etwas Organisches sprechen und fließen zu lassen, eine
durchaus nicht modische, berührende Liebenswürdigkeit
und Zärtlichkeit scheint zu tönen, manchmal verträumt
und weich, bereit, eine innere Lichtung zu betreten. Als Gegenkraft
zu solchen Innenbildern existiert bei Ulrich Stranz das entscheidende
gedankliche Nachvollziehen komplexer Zusammenhänge, eine imaginative
Vorstellbarkeit von Unvorstellbarem. So fesselt ihn jahrelang anspruchsvolle
Science-fiction-Literatur, ist er ein begeisterter Schachspieler
gewesen." (1987, aus einem Vortrag in der Bayerischen Akademie
der Schönen Künste)
Der Durchbruch zu internationaler Bekanntheit kam für Stranz
1974 in Stuttgart mit der Uraufführung seines Orchesterstücks
'Tachys'. Im gleichen Jahr ergab es sich fast zufällig, daß
er, nach wie vor begeisterter Geiger, anläßlich einer
Aufführung seines Werks 'Diversono' für 14 Solostreicher
durch die Camerata Zürich nicht nur enge Kontakte zur Schweiz
knüpfte und dort bald in verschiedenen Orchestern mitspielte
(was er nach wie vor tut): Kurz darauf zog er mit seiner Frau, einer
gebürtigen Zürcherin, nach Zürich, wo er bis heute
lebt. Am 4. Februar 1993 schreibt der Komponist Rolf Urs Ringger
in einem sehr einfühlsamen Portrait in der 'Neuen Zürcher
Zeitung', Stranz "fühle sich in Zürich 'absolut assimiliert',
wisse aber nicht, ob die Schweizer ihn auch so sähen. Manchmal
bange er um seine bayrische Identität und fühle sich aus
Europa ausgeschlossen. Doch der Abstand gebe ihm die Gelegenheit,
Deutschland aus der Distanz zu sehen
Er ist nicht der Künstler
im Elfenbeinturm, sondern umgänglich, leutselig, direkt
offenbar all das, was man sich unter einer bayrischen Frohnatur
gern vorstellt. Diese Haltung zeigt sich auch in seiner Produktion.
Stranz komponiert nicht für der kleinen Zirkel, sondern freut
sich am Erfolg, an einer gewissen Breitenwirkung
Der Weg sei
bei jeder neuen Komposition wieder neu. Trotzdem gebe es für
ihn einige mehr oder weniger objektive Kriterien, über das
einzelne Werk hinaus verbindliche Konstanten, gewissermaßen
Topoi: im Harmonischen, in der Arbeitsweise, mit Tonzellen, Intervallkonstellationen
Für ihn gebe es kein Material, das grundsätzlich abgenützt
sei; es komme drauf an, wie man es einsetze."
Im Januar 2001 bekannte Ulrich Stranz in einem Interview: "Der
Wunsch, den Hörer aufzurütteln, führt heutzutage
so manchen Komponisten dazu, ihn zu verstören, wenn nicht gar
zu verletzen. Ohne die dunkle Seite und den Schmerz ganz auszublenden,
bemühe ich mich vordringlich um das Helle, das Aufbauende und
mit Hoffnung Verbundene. Eine solche Maxime glaubwürdig umzusetzen
ist nicht einfach. Die kompositorischen Mittel, die ich mir täglich
neu erkämpfen muß, sind weder die der klassisch-romantischen
Musik mit ihrer von Dreiklang und Terzschichtung geprägten
harmonischen Basis noch die derjenigen jüngeren Musik, die
Töne nach arithmetischen oder stochastischen Gesichtspunkten
oder lediglich im Hinblick auf ihren Geräuschwert handhabt.
In meiner Musik fällt dem Linearen und dem Harmonischen gleichermaßen
eine tragende Rolle zu: die tonalen Kraftfelder, die sich in jeder
Tonkonstellation einstellen, versuche ich aufzuspüren beziehungsweise
zu steuern. Im Rhythmischen finde ich selten zu einfachen Bildungen,
was die Interpreten manchmal äußerst herausfordert. Klangzauber
schließlich ist das, was mir am wenigsten schwerfällt.
Einen Avantgardisten im Sinne des Wortes, wie es heute allgemein
gebraucht wird, könnte man mich wohl nicht nennen, aber als
durch und durch zeitgenössisch fühle ich mich nichtsdestotrotz.
Ohne die Experimente und neuen Erfahrungen, die das zwanzigste Jahrhundert
gebracht hat, könnte meine Musik nicht so sein, wie sie ist."
Christoph Schlüren
(aus dem Booklettext für Telos CD mit Stranz Streichquartetten,
2002)
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