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Märchengesichter

Rodion Schtschedrins
dritte Symphonie

München. Als Auftragswerk zum 50-jährigen Bestehen des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks komponierte der seit 1992 in München ansässige Rodion Schtschedrin (die deutsche Schreibweise ist irreführend, das 't' wird nicht gesprochen) seine dritte Symphonie, eine Sinfonia concertante mit dem Titel "Gesichter russischer Märchen". Schtschedrin, geboren 1932 in Moskau, gehörte zu den führenden Komponisten der ehemaligen Sowjetunion, war jedoch nie Mitglied der kommunistischen Partei. Stilistisch ist er, bei aller Flexibilität, am französischen Impressionismus geschulten Raffinesse und Weltläufigkeit, tief in der russischen Tradition verwurzelt. So auch das neue Werk, welches unter Chefdirigent Lorin Maazel eine bravouröse, wenngleich nicht überall tiefgehende und einfühlsame Aufführung erfuhr, was vielleicht zum Teil mit der Länge von über einer Stunde zusammenhängt. Aber mehr erkennbare Struktur im wüsten Streicher-Fortissimo hätte man wenigstens erwarten dürfen! Assoziationen zu Schostakowitsch (im grotesk humoristischen "Auf fernen Pfaden marschieren Soldaten"), Prokofjev oder frühem Strawinskij ( in "Die unsichtbare Kathedrale") sind hörbar, jedoch dem eigenen Idiom und vor allem der Dramaturgie des Werks überzeugend anverwandelt. Die Gliederung der Form hat wenig mit symphonischer Überlieferung zu tun, orientiert sich vielmehr am russischen Modell der ritornellartig artikulierten symphonischen Suite, wie sie mit Mussorgskijs Promenaden in den Bildern einer Ausstellung (zumal in der kongenialen Orchestration Ravels) oder in den Soli der um ihr Überleben erzählenden Rimskij-Korssakovschen Schéhérazade vorgegeben ist. In Schtschedrins dritter Symphonie wird diese Ritornellrolle – motivisch freilich viel freier und melodisch weniger einprägsam als bei den berühmten Vorbildern – von den "Gänseschwänen" bestritten, die den Hörer zu Beginn, am Ende und dreimal zwischendurch mit auf die Reise nehmen.

Die überwiegende Stimmung ist von Anfang an wehmütig. Schtschedrin wollte keine konkrete Programmmusik schreiben, sondern Charakter und Atmosphäre der Volksmärchen einfangen, eben die "Gesichter" der Märchen aufscheinen lassen. So ist folgerichtig das Geheimnisvolle mit dem Lapidaren, das Raffinierte mit dem Simplen, das Unschuldige mit dem Ruppigen in tableauartiger Weise verwoben, der bildhafte Zauber ist wie ein ferner Widerhall einer Zeit, als russische Ballette wie Strawinskijs "Feuervogel" oder Prokofjevs "Romeo und Julia" entstanden. Für die originellsten und fesselndsten Abschnitte halte ich die grausige Legende vom "Zigeunerpferd" mit dem Englischhorn als Protagonisten, wo wirklich das Makabre, Verwunschene, Verruchte Gestalt anzunehmen scheint, und "Schwesterchen Aljonuschka, Brüderchen Iwanuschka", ein farbenreich bewegtes Poem mit höllisch schwerem, hier fantastisch ausgeführtem Oboensolo. Auch sonst beschäftigt Schtschedrin ausgiebig die Spitzensolisten des BR-Orchesters und mutet ihnen übermütig allerlei zwar in der obersten Liga Spielbares, aber doch sehr Wagemutiges zu: schwindelerregende Flöten- und Hornensembles, spukhaft, bizarr, mit skurrilem Humor und wie von leichter Hand entworfen. Und da Schtschedrin, der hier seine Einfälle sehr ökonomisch streut, die orchestralen Mittel glänzend beherrscht und große Klangpracht auch in den fahl gefärbten Regionen bereitstellt, haben die Musiker einigen Spaß, den sie auf jene Hörer, die bereitwillig russischen Barden lauschen, übertragen können.
Christoph Schlüren im Juni 2000