Mit der Veröffentlichung von zwei neuen, ausschließlich seinen Werken
vorbehaltenen CDs ist nunmehr praktisch das gesamte uvre Peter
Ruzickas auf Tonträger dokumentiert. Ruzicka, 1948 in Düsseldorf
geboren und seit seiner Schulzeit Hamburger, erhielt entscheidende
kompositorische Impulse während kurzzeitiger Studien bei Hans
Werner Henze und Hans Otte. Seine frühen Vorbilder waren vor
allem Webern, außerdem Henze und Boulez. Anfang der siebziger
Jahre gelang ihm die schrittweise Ablösung von diesen Einflüssen
und er fand zu eigener Aussage, aber "es ist schwer, ein gültig
bleibendes Koordinatensystem zu bestimmen. Man wandelt sich, hört
etwas Eigenes nach langer Zeit wieder und hat Schwierigkeiten, sich
selbst darin wiederzufinden. Und doch gibt es Fixierungspunkte,
die immer existent bleiben. Diese sind für mich vor allen anderen
Gustav Mahler, Allan Pettersson und Paul Celan, letzterer
ein Musiker mit seiner Sprache, der sich bewußt war, welch
wichtige Funktion das Schweigen der Ort, wo Klangereignisse
'Schatten werfen' haben kann. In diesem Terrain, welches
ich mit den drei Namen abgesteckt habe, kommt meine Musik vor. Celan
steht da sozusagen auch für Webern stellvertretend vielleicht,
weil er mich noch mehr geprägt hat mit der musikalischen Dimension
seiner Poetik. Ich finde diesen Umwertungs-Gesichtspunkt so wichtig:
daß nicht nur musikalische Ereignisse auf weißem Grund
stehen, sondern, umgekehrt, daß man aus einem Klangkontinuum
alles rausbricht, bis nur noch Spuren davon auf weißem Hintergrund
stehen bleiben."
Erstaunen mag viele in diesem Zusammenhang nicht nur der Name Celan
Ruzicka besuchte den Dichter kurz vor seinem Freitod in Paris
, sondern auch derjenige des Schweden Allan Pettersson, in
den letzten Jahren hierzulande vielfach als 'der letzte große
Symphoniker' gepriesen. Wie war Ruzickas schöpferische Reaktion
auf die Begegnung mit dessen Musik, die er inzwischen auch häufig
als Dirigent aufführt? "Abschiednehmen vom dialektischen
Denken! Das Aufgeben des Fortschrittsbegriffs wurde leichter mit
der Erkenntnis, daß auch monistische Strukturen tragen können.
Es ist nicht das Handwerkliche, das mich zur Übernahme reizte.
Aber diese brennende Emotionalisierung der Musik, überwältigt
zu sein von Symphonik das war ja noch tabuisiert Ende der
siebziger Jahre. Der repetitive Exzeß, das ständige Anrennen
mit dem Kopf gegen die Wand wie in der Neunten Symphonie, und das
Umkippen in solchen wirklichen ästhetischen Grenzmomenten.
Wirklich ein Tanz auf dem Abgrund, wo das Publikum zu atmen aufhört.
Das Überwältigende ist das ganzheitliche Erlebnis, die
Art, wie die Musik in einem selbst fortwirkt. Nie hatte ich als
Programmgestalter soviel Feedback vom Publikum wie nach Aufführungen
Petterssonscher Werke, wo eine Flut von Zuschriften eintraf. Das
muß Gründe haben, gerade wenn ein Abonnentenpublikum
so erschüttert wird. Man mißt die Musik, die man danach
hört, an diesem Hörerlebnis." Das Pettersson-Erlebnis
half Ruzicka Ende der siebziger Jahre, ein vierjähriges Verstummen
zu beenden. Und wie er Pettersson attestiert, die Musik "strömte
nur so aus ihm heraus", förderte es auch in seinem Komponieren
das strömende Element.
Schöpferische Hingabe ist kein Leichtes in einer Zeit des Fortschritt-Bankrotts,
der retrospektiven Zusammenschau, zumal für einen Komponisten
von solcher Tätigkeits- und Bildungsbreite wie Ruzicka. Er
war erfolgreich als Intendant großer Häuser in Berlin
und Hamburg tätig, ist heute künstlerischer Leiter der
Münchner Musiktheater-Biennale und künstlerischer Berater
am Amsterdamer Concertgebouw, überdies gewiefter Jurist in
Sachen Urheberrecht, als Dirigent und Autor Vorkämpfer für
Pettersson, Pfitzner, Schreker usw. (unlängst erschienen ist
eine Sammlung seiner Schriften 'Erfundene und gefundene Musik',
publiziert bei Wolke, Hofheim , die gerade in den aus der
musikalischen Sache sympathisierenden Würdigungen der zu Unrecht
Vernachlässigten höchst Wissenswertes enthält). Man
muß also nicht nur fragen, wo da noch Zeit zum Komponieren
bleibt (das Werkverzeichnis ist nicht allzu umfangreich), sondern
vor allem, wie die vergleichende Selbstbeobachtung zu kanalisieren
sei, die den Schaffensfluß bricht. Die heutigen Komponisten
gleichen oft Archäologen in den Ruinen des an seiner eigenen
Beschleunigung kollabierten Fortschrittsbegriffs, dessen Preis ein
nie dagewesenes Auseinanderscheren von Intellekt und Emotion ist.
Die Anziehungskraft des Fragmentarischen, die Verwerfung des Narrativ-Verbindlichen
sind hier nur allzu verständlich und auch im Schaffen Ruzickas
gespiegelt. In seiner Musik tritt der Gegensatz der zerklüftenden
und der verschmelzenden Tendenzen besonders charakteristisch zutage.
In einem seiner jüngsten Werke, nunmehr bei Thorofon in einer
hervorragenden Aufnahme zugänglich, nimmt die Unvereinbarkeit
von geradezu romantischem Sehnen und verweigerndem Verharren ergreifende
Gestalt an: in der Musik für Violine, Kammerchor und Orchester
von 1994/95 mit dem paradoxen Titel '
Inseln, randlos
'.
Anfänglich plante Ruzicka eine "siebenteilige Brückenform,
die aber schon sehr bald in 'Klangsäulen' durchbrochen wurde,
wo das Orchester sich ausweitet und wieder zusammenfällt, die
Streicher stark geteilt sind: Das sollte ein Zentrum sein und so
eine Mechanik des Auffächerns und wieder sich-Schließens
ergeben, und damit das ganze Stück bestimmen. Aber just aus
dieser Phase entwickeln sich neue Klangmomente, Einheiten, Keime
für ein Fortschreiten. Dieses Bild von den 'randlosen Inseln'
war nicht von Anfang an da, sondern entstand erst im Kompositionsprozeß.
Zuerst waren das abgeschlossene, 'beränderte Inseln', die dann
offen wurden und sich verschränkten, überlappende Teilmengen
ergaben. Der 'Canto', der dann kommt, ist der Durchbruch. Plötzlich
steht die Musik still. Und der Schluß ist ein Om-mani-padme-hum,
ein Kreisen um eine Klangsäule, welches auch noch zehn Minuten
länger, auch kürzer gehen könnte falls das
Stück insgesamt von anderer Länge wäre. Die Streicher
spielen da eigentlich unentwegt dasselbe, aber dynamisch ständig
anders strukturiert, Vorder- und Hintergrund changieren
"
|
Dieser Schluß wirkt wie eine auskomponierte Schrecksekunde
über das Erscheinen des Cantos, des unerwartet eindringenden
atmenden Lebens. Das andere neue Werk auf der Thorofon-CD, 'Vorgefühle',
ist eine Vorstudie zu Ruzickas in Arbeit befindlichem magnum opus,
seiner für den 20. April 2001 in Dresden zur Uraufführung
vorgesehenen Celan-Oper. Jedoch: "Diese Komposition war noch
nicht 'belastet' durch ein Text-Treatment oder durch einen linearen
Verlauf, wie überhaupt diese Oper keinen linearen Verlauf hat.
Es gibt natürlich Zuständlichkeiten, eine Fülle kleinerer
Szenen, es ist ein sehr filmisch angelegtes Stück, das immer
übergangslos springt in die nächste Szene. Es wird voraussichtlich
auch mehrere szenische Ebenen haben, wo das möglich ist. Auch
bei den 'Vorgefühlen', die in ganz anderer Relation
Momente der Oper antizipieren, gibt es diese Schnitte von
einem Materialzustand in den nächsten kaum verblendet,
sehr hart aufeinandertreffend. Das habe ich hier mal erprobt, diese
Verfahrensweise ist ja nicht gerade typisch für meine Musik."
ECM veröffentlicht, rechtzeitig zur Siemens-Musikpreis-Verleihung
für die vier renommierten Anwälte der Avantgarde, mit
dem Arditti-Quartett sämtliche Beiträge Ruzickas zur Gattung
Streichquartett. Gegensätzliche Welten am Rande des gangbaren
Musik-Sprachschatzes tun sich auf, am offenkundigsten in der Gegenüberstellung
des fünfteilig schroff kontrastierenden, knappen zweiten Quartetts
'
fragment
' und des weit hinausdriftenden dritten Quartetts
'
über ein Verschwinden'. Die ersten drei Quartette finden
an cruzialen Punkten innere Einkehr im Zitat, seis später
Beethoven, Webern, Pfitzners cis-moll-Quartett oder die Neunte Mahler
fremdartig aufleuchtende Visionen unerfüllbarer Sehnsucht
Im vierten Quartett '
sich verlierend', komponiert 1996, treten
zu der oft ins der Stille angenähertem Bogengeräusch gewendeten
Klangwelt Celan-Textfragmente hinzu. Auf dieser Aufnahme sind sie
mit pathetischem Überdruck von prominenter Seite
gesprochen, doch "eigentlich wäre eine andere Form der
Präsentation adäquater einlösbar auf CD-ROM,
wo man diese kommentierte Schicht nicht hören müßte,
sondern lesen könnte. Es sollte eine nicht akustisch eingreifende
Substruktur sein, ein Untertitel. Die utopische Vorstellung wäre,
daß jeder in den betreffenden Momenten den Text im unterbewußten
Selbst rekapituliert, zu sich selbst sagt, möglichst mit der
eigenen Stimme."
Christoph Schlüren
(Beitrag für Klassik Heute)
Auswahldiskographie des Komponisten Peter Ruzicka
"
Inseln, randlos
" für Violine, Kammerchor
und Orchester, "Die Sonne sinkt" (6 Gesänge nach
Nietzsche-Fragmenten), "
Vorgefühle
" für
Orchester, "Gestalt und Abbruch" (7 Fragmente für
Stimmen); A. Schmidt (Bariton), C. Tetzlaff (Violine), NDR-Chor,
DSO Berlin, RSO Frankfurt, Schleswig-Holstein Festival-Orch., V.
Ashkenazy, P. Ruzicka, W. Hagen; Thorofon/Disco-Center CTH 2402
Streichquartette Nr. 1-4, Klangschatten; Arditti-Quartett, D. Fischer-Dieskau
(Sprecher); ECM/Polygram 465139-2
Tallis, "
das Gesegnete, das Verfluchte", "Annäherung
und Stille" (4 Fragmente über Schumann für Klavier
und 42 Streicher), Etym, Torso; J. Frantz (Klavier), diverse Orchester,
P. Ruzicka, S. Bychkov, G. Herbig, L. Vis; Thorofon/Disco-Center
CTH 2220
Metamorphosen über ein Klangfeld von Joseph Haydn, "
den
Impuls zum Weitersprechen erst empfinge" (Bratschenkonzert),
Abbrüche, Emanazione für Flöte und 4 Orchestergruppen;
W. Christ (Viola), K.-B. Sebon (Flöte), RSO Berlin, R. Chailly,
P. Ruzicka, C. Halffter; Wergo/Schott 286518-2
5 Bruchstücke, Satyagraha, "Annäherung und Stille",
6 Préludes für Klavier; D. Levine (Klavier), RSO Berlin,
P. Ruzicka; Koch-Schwann 311082
Sinfonia, Befragung, Feedback, Metamorphosen über ein Klangfeld
von Joseph Haydn; diverse Orchester, E. Bour, M. Gielen, M. Atzmon,
G. Albrecht; cpo/jpc 999053-2
Metastrofe, In processo di tempo, Streß für 8 Schlagzeuggruppen,
Bewegung für Tonband, 2. Streichquartett; Westphal-Quartett,
Perkussionsensemble S. Fink, RSO Berlin, P. Ruzicka, M. Gielen;
Wergo/Schott 286071-2
Sonata und Stille für Cello Solo, 3 Nocturnes und 6 Préludes
für Klavier, 1. Streichquartett; M. Lorenz (Cello), C. Tainton
(Klavier), Hamburger Streichquartett; MDG/Naxos CD 6250549-2
(Stand 1999)
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