Musikgeschichte wird, vor allem in unserem Jahrhundert der rastlosen Umwälzungen,
meist in Trends, Strömungen und Kategorien geschrieben, die
stets mit wenigen überragenden Persönlichkeiten in Zusammenhang
gebracht werden. Dabei wird gerne übersehen, daß auch
viele jener Komponisten, die üblicherweise nicht zu den "ganz
Großen" gezählt werden, Persönlichkeiten sind,
deren Werdegang und Werk in keine Schublade paßt, sondern
eine eigene Kategorie begründet. Er ging als einer der eigenwilligsten
und fruchtbarsten englischen Symphoniker unerschlossene Wege abseits
jeglicher Moden und Trends:
Edmund Rubbra (1901-1986)"Kontrapunkt und Improvisation"
(Anspieltip: Sinfonie Nr. 10)
Wahrscheinlich werden es selbst in England Wenige sein, die sich
anläßlich des 100. Geburtstags von Rubbra am 23. Mai
mit treffsicherem Urteil zu seinem Schaffen äußern können.
Rubbra kümmerte sich ebenso wenig um die Forderungen der Kritik
nach "fortschrittlichem Idiom" wie um das Verlangen des
breiten Publikums nach unmittelbarer Eingängigkeit und sinnlichem
Glanz. Er war einer der eminentesten Kontrapunktiker des 20. Jahrhunderts,
und die Form eines Werkes ergab sich bei ihm stets auf unvorhersehbare
Weise aus dem motivischen bzw. intervallischen Keim, der als Kraftquelle
am Beginn steht und aus dem alle weitere Bewegung geboren wird.
Sein kompositorisches Denken war grundsätzlich von der organischen
Ausfaltung des vielstimmigen Potentials bestimmt, was mit zunehmender
Reife zu immer unkonventionelleren Lösungen führte. Als
der alte Rubbra gefragt wurde, welche seiner Werke er am höchsten
schätze, nannte er seine späten Symphonien, in denen mehr
denn je der gesamte Formprozess den Triebkräften einer in stetigem
Fluß befindlichen Vielstimmigkeit unterworfen ist. Fast kann
es da scheinen, als habe der Komponist als ausdrucksbedürftige
Person sich aus dem Geschehen zurückgezogen, um das Kräftespiel
weit ausladender Eigendynamik zu überlassen. Dabei sind seine
"fingerprints" unüberhörbar, der Stil ist eigentümlicher
denn je in den letzten Werken, was der Interessierte am besten anhand
der sehr gelungenen Erstaufnahme der zehnten Symphonie unter Schönzeler
mitvollziehen kann. Hier sind die Aspekte, die Rubbra ein Leben
lang beherrschten, zu vollendeter Fusion geführt: Die unwillkürliche
Entfaltung der kontrapunktischen Energie, deren Ausrichtung sich
die farbige Harmonik anschmiegt; das Improvisatorische, Unvorhersehbare,
welches den Fluß nie unterbricht, sondern ihm neue Reize und
Kontraste zuführt und damit spannungsfördernd wirkt; die
ornamentische Faktur, die nicht zuletzt aus Rubbras Neigung zu orientalischer
Musik gespeist ist; und, aus all dem resultierend, eine das Zeitempfinden
sprengende, der stimulierten Bewegung übergeordnete Langsamkeit,
jene meditative Dimension, die mit Rubbras fernöstlicher Geistigkeit
zugeneigter Religiosität übereinstimmt. Wer sich in dieser
Tonwelt überschwänglicher Innigkeit wohl fühlt, wird
sich natürlich auch für die umliegenden Werke interessieren:
die zuvor entstandene 'Sinfonia sacra', wo Rubbra die religiöse
Aussage, das gesungene Wort in einen kontinuierlichen musikalischen
Fluß gießt, der in dem Choral "Oh Haupt voll Blut
und Wunden" ausmündet; und die elfte und letzte Symphonie,
von der symphonischen Tradition am weitesten entfernt im völligen
Entrinnen aus erkennbarer Gliederung der Abschnitte, in der mosaikhaft
verschlungenen Anlage.
Edmund Rubbra wurde am 23. Mai 1901 in Northampton geboren. Er wuchs
in den bescheidenen Verhältnissen einer Arbeiterfamilie auf,
wo seine Mutter ihm ersten Klavierunterricht erteilte. 14-jährig
verließ er die Schule, arbeitete als Bahnangestellter und
gab mit 16 Jahren ein erstes Konzert mit Werken von Cyril Scott,
der so auf ihn aufmerksam wurde und ihm daraufhin Klavier- und Kompositionsstunden
erteilte. Vier Jahre später wurde er am Royal College of Music
in London aufgenommen, wo seine Lehrer Gustav Holst (Komposition)
und R. O. Morris (Harmonie und Kontrapunkt) waren. Beide hatten
starken Einfluß auf seine weitere Entwicklung, und mit Begeisterung
studierte Rubbra die Tudor-Musik der englischen Renaissance. Freilich
verschaffte er sich mit der Zeit eine Breite des Horizonts, die
diejenige der meisten seiner englischen Kollegen bei weitem überschritt.
Wie trittsicher und kenntnisreich er sich in der Musikgeschichte
bewegte und prinzipiellen Fragen nachging, kann man bei der Lektüre
seines hervorragenden Büchleins 'Counterpoint' von 1960 erfahren
hier geht es um die zugrundeliegenden Prinzipien und Möglichkeiten,
nicht um Regelwerk und Kniffe.
Bis zum Zweiten Weltkrieg führte Rubbra ein künstlerisch
äußerst bewegtes Leben, als Pianist und Tonsetzer (in
beiden Funktionen wirkte er bei einer reisenden Theatergruppe mit),
Lehrer und Kritiker. In den dreißiger Jahren wurde man allmählich
auf sein Schaffen aufmerksam, das mittlerweile ausgeprägten
Eigenton bewies. Seine erste Symphonie entstand 1934-37. Innerhalb
vier Jahren folgten drei weitere Symphonien, die ihm den Rang als
einer der führenden Komponisten des Landes sicherten
auch wenn, da sich bei ihm in besonders offensichtlicher Weise alle
Elemente der kontrapunktischen Substanz unterordneten, oftmals seine
Instrumentation als grau und eintönig gerügt wurde und
das Desinteresse am ausgeprägten Effekt breiterem Erfolg auf
Dauer im Wege stehen sollte. Nach dem Krieg sorgte das fortschrittsbetonte
Klima zunehmend für Gegenwind. Bald galt Rubbra als Konservativer,
was sich bei näherer Betrachtung nicht aufrecht erhalten läßt
(man denke nur auf rhythmischer Ebene an das 'Scherzo polimetrico'
seines zweiten Streichquartett oder die permanente 3:4-Opposition
im Mittelsatz seines Bratschenkonzerts die fantastische Aufnahme
mit Rivka Golani ist leider gestrichen). Die Symphonien Nr. 5-7,
zwischen 1947 und 1957 entstanden, waren zeitweise ziemlich erfolgreich
und wurden unter Dirigenten wie Stokowski, Boult oder Barbirolli
gespielt. Jedes dieser Werke hat seine ganz eigenen, sich mit mehrmaligem
Hören erschließenden Qualitäten. Besonders der 'Canto'
aus der Sechsten mit den herrlichen Quintparallelen ist von berückendem
Zauber.
Ab der achten Symphonie (1966-68) wurde Rubbras Orchesterpalette noch farbenfroher,
sinnlicher. Der späte Höhepunkt seiner Symphonik ist meines
Erachtens die 1974 entstandene Zehnte. Einen reichen Schatz hat
er auch in der Kammer- und Chormusik (zumal der geistlichen) hinterlassen,
und man muß sich beispielsweise fragen, warum die Blockflötisten
sich nicht auf seine Werke stürzen. Das Attraktive daran erschließt
sich allerdings nicht ohne weiteres, denn die Thematik wirkt meist
zunächst geradezu lapidar, oft so, als wäre ein Soggetto
aus einem Renaissance-Chorstück versehentlich in die Fänge
einer Instrumentalkomposition unserer Zeit hineingeraten. Was aber
Rubbra auslöst in seiner Kunst des improvisatorischen Mäanderns
über ein einziges Ausgangsmotiv, darin liegt der eigentliche,
verborgene Reiz seiner Musik.
Christoph Schlüren
('Kleiner Lauschangriff' für Klassik Heute, 2001)
Literatur
Ralph Scott Glover: The Music of Edmund Rubbra (Scolar Press, 1993;
ISBN 0 85967 910 1)
Diskographie:
10. Sinfonie, A Tribute, Improvisations on Virginal Pieces by Giles
Farnaby;
Bournemouth Sinfonietta, Hans-Hubert Schönzeler
Chandos 6599
5. Sinfonie (+ Bliss, Tippett);
Melbourne SO, H.-H. Schönzeler
Chandos 6576
1. Sinfonie, Sinfonia concertante, A Tribute;
Howard Shelley (Klavier), BBC National Orchestra of Wales, Richard
Hickox
Chandos 9538
Sinfonien Nr. 2 und 6;
BBCNO of Wales, R. Hickox
Chandos 9481
Sinfonien Nr. 3 und 7;
BBCNO of Wales, R. Hickox
Chandos 9634
Sinfonien Nr. 5 und 8, Ode to the Queen;
Susan Bickley (Mezzosopran), BBCNO of Wales, R. Hickox
Chandos 9714
Sinfonien Nr. 4, 10 und 11;
BBCNO of Wales, R. Hickox
Chandos 9401
9. Sinfonie 'Sinfonia sacra', The Morning Watch;
Lynne Dawson (Sopran), Della Jones (Alt), Stephen Roberts (Bariton),
BBC National Chorus and Orchestra of Wales, R. Hickox
Chandos 9441
Brahms/orchestr. Rubbra: Variationen und Fuge über ein Thema
von Händel (+ Brahms);
Philadelphia Orchestra, Eugene Ormandy
Sony 63287
Violinsonaten Nr. 1-3;
Krysia Osostowicz (Violine), Michael Dussek (Klavier)
Dutton CDLX 7101
Klaviertrios Nr. 1 und 2, Sonate für Oboe und Klavier, Suite
'The Buddha', Fantasie für 2 Violinen und Klavier, Duo für
Englischhorn und Klavier, Meditazioni sopra 'Curs désolées';
Endymion Ensemble
Dutton CDLX 7106
Komplette Kammermusik und Lieder mit Harfe;
Danielle Perrett (Harfe), Tracey Chadwell (Sopran), Timothy Gill
(Cello)
ASV DCA 1036
Four Medieval Latin Lyrics, Song of the Soul, Inscape, Veni, creator
Spiritus, Natum Maria virgine;
Stephen Varcoe (Bariton), Academy of St. Martin in the Fields Chorus,
City of London Sinfonia, R. Hickox
Chandos 9847
Geistliche Chormusik a cappella;
Voces sacrae, Judy Martin
ASV DCA 1093
Geistliche Chormusik (+ Hadley);
The Choir of Gonville & Caius College, Geoffrey Weber
ASV DCA 881
Vertriebe:
Chandos und ASV über Koch
Dutton über Helikon harmonia mundi
(Stand: Januar 2001)
|