Vor allem die Uraufführung seiner
Lukas-Passion am 30. März 1966 im westfälischen Münster
zur Siebenhundertjahrfeier des Doms und die "zeitgeistliche"
Resonanz dieses Monumentalwerks hatten zur Folge, daß Penderecki
noch in den sechziger Jahren zum weltweit populärsten Komponisten
unserer Zeit wurde, dem dann z. B. UN-Generalsekretär U Thant
den Jubiläumsauftrag zum 25jährigen Bestehen der Vereinten
Nationen erteilte: "Kosmogonia", am 24. Oktober 1970 im
Plenarsaal der UN in New York durch das Los Angeles Philharmonic
Orchestra unter Zubin Mehta aus der Taufe gehoben.
Ab 1951 studierte der am 23. November 1933 in Südostpolen geborene
Krzysztof Penderecki in Krakau, vor allem bei Artur Malawski, und
starke Einflüsse Bartóks und Prokofiews waren zunächst
prägend. Über das Experimentieren mit elektronischen Klängen
für Filmmusiken wurde Penderecki zu seinen revolutionären
Neuerungen angeregt: er entdeckte und entfaltete die sinnlichen
Spektren der Geräuscherzeugung und schrieb die aufsehenerregendsten
Werke der polnischen Avantgarde, darunter "Emanationen",
"Anaklasis", "Threnos" für die Opfer der
Hiroshima-Bombe, "Polymorphia" und "Fluorescences".
Neue Freiheit des Satzes, Emanzipation des Geräuschs, Katastrophenmusik
- dies sind einige bleibende Etikettierungen seiner radikalen Phase.
Doch zunehmend spürte Penderecki den Bedarf, diese einseitig-endzeitlichen
Klangvisionen mit der Zeitlosigkeit des Wohlklangs, der tonalen
Zusammenhänge zu konfrontieren. Eine Maximierung dieser divergierenden
Stilmittel präsentierte die Lukas-Passion. Vor allem als Komponist
von geistlichen Werken, Symphonik und Opern hat Penderecki seit
dem Riesenerfolg der Passion seinen Ruhm vergrößert.
Mitte der siebziger Jahre überraschte er im Violinkonzert für
Isaac Stern mit einem unverblümten Eintauchen in die romantische
Orchestertradition, die zweite Symphonie wurde zum vielgeschmähten
Symbolwerk der Neoromantik. Später nahm er dann die Errungenschaften
seiner Frühzeit wieder auf, um sie in den neuen, traditionsverbundenen
Kontext einzuschmelzen. Heute sieht er sich als "Fin de siècle-Künstler",
der sich der gesamten Palette der errungenen Möglichkeiten
bedient - denn, um mit Peter Greenaway zu sprechen: "Jede Kunst
ist barock."
CS: Wie kommt es dazu, daß Ihre dritte Symphonie erst nach
der fünften beendet wird?
KP: In den letzten Jahren komponiere ich zyklisch, schreibe immer
drei bis vier verwandte Werke gleichzeitig. Die Symphonien Nummer
drei, vier und fünf sind bezüglich des Materials eigentlich
ein Werk, das sich über nunmehr fünfzehn Jahre ausdehnt.
Die Dritte hat jetzt fünf Sätze in der Folge: Langsam
- Allegro con brio - Langsam - Passacaglia - Vivace. Der zentrale
langsame Satz ist zuletzt entstanden.
CS: Aus Avantgarde-Kreisen werden Sie als "Populist" und
"Anachronist" angegriffen...
KP: Ich war der erste, der mit der Neoromantik richtig anfing. Meine
zweite Symphonie war insofern ein Schock. Aber ich kam zu der Ansicht,
daß man nicht immer wieder dieselben avantgardistischen Techniken
verwenden kann.
CS: Es war also eine Reaktion auf die Unergiebigkeit der neuen Mittel?
KP: Ich mache, was ich für richtig halte. Und ich habe recht
behalten, denn heute machen das viele. Die extreme Rückwendung
zur Romantik kam, als ich mit dem Dirigieren anfing. Ich hatte plötzlich
genug vom Klang meiner früheren Werke. Geschmack ist veränderlich.
Hätten Sie mich in den sechziger Jahren gefragt, was ich mag,
so hätte ich sicher nicht Bruckner genannt, sondern Avantgarde,
Schönberg, Webern. Aber als ich 1972/73 zu dirigieren begann,
entdeckte ich, was für eine Tiefe die Musik Schostakowitschs
hat. Als Studenten hatten wir Schostakowitschs Musik natürlich
als "sowjetisch" abgelehnt, denn sie stand für den
offiziellen Kurs. Später entdeckt man dann und lernt schätzen,
was man schon früher kannte und nicht zu schätzen wußte.
Schostakowitsch ist Mahler-nah, seine Instrumentation ist sehr davon beeindruckt.
In den letzten Symphonien verdankt meine Instrumentation Bruckner
mehr, und auch Sibelius ist sehr wichtig geworden. Ich wollte mehr
Klangfülle, die Möglichkeiten des großen Orchesters
wirklich benutzen. Also bediente ich mich überlieferter Orchestrationstechniken:
Verdopplungen, Oktavierungen - weg vom spröden Klang der Schönberg-Nachfolge,
der mir zu eingeengt war.
CS: Heute integrieren Sie Elemente Ihrer avantgardistischen Periode
in die "neoromantische" Klangsprache.
KP: In Maßen. Ich werde nie mehr in meine avantgardistische
Epoche zurückgehen. Ich dirigiere zwar noch sehr oft Werke
aus jener Zeit, z. B. "Fluorescences", "De natura
sonoris Nr. 2", "Threnos" und "Polymorphia",
und die Lukas-Passion mag ich noch sehr. Aber die repräsentiert
eine andere Einstellung: mir waren alle Mittel recht. Die Passion
ist "turba", die Menge - eine sehr direkte Musik. Aber
mit den Jahren sagt man die Dinge indirekter, nicht so für
jeden, und man wendet nicht mehr wahllos alle Mittel an.
CS: Wenn Sie von eher indirekter Musik sprechen: was ist das Direkte,
das Ihnen nicht mehr so viel bedeutet?
KP: Die Macht des Einfalls. Mit wachsender Erfahrung denkt man mehr
an die Durchführung als an den genialen Gedanken - den hat
nämlich auch der schlechte Komponist. In der vierten und fünften
Symphonie sind neunzig Prozent Durchführung.
CS: Können Sie noch andere kompositorische Vorbilder nennen?
KP: In Instrumentation und Ausdruck hatte Tschaikowskijs vierte
Symphonie eine bedeutende Funktion für mich, und selbstverständlich
Schostakowitsch, dessen vierzehnte Symphonie ich besonders liebe.
Der Strawinskij der zehner Jahre war wichtig, Bartók sowieso,
und eine zeitlang Honegger mit der zweiten und dritten Symphonie
- einer der wenigen westlichen Komponisten, die in den Fünfzigern
in Polen geduldet wurden. Webern war mir immer näher als Schönberg.
Aber heute sind Bruckner und Sibelius meine Favoriten.
Interview: Christoph Schlüren
(Beitrag für das Münchner Kulturmagazin 'Applaus' anläßlich
der Uraufführung von Pendereckis Dritter Symphonie durch die
Münchner Philharmoniker unter Leitung des Komponisten am 8.
Dezember 1995)
(Warszawa, 4.10.95) |