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Interview mit Magnus Lindberg

"Ich bin ein synthetischer Denker"

Magnus Lindberg ist einer der virtuosesten Orchesterkomponisten der jüngeren Generation. Der 1958 geborene Finne, zudem ein exzellenter Pianist, verschrieb sich von den ersten Anfängen an bedingungslosem (für nordische Verhältnisse) Modernismus unter Anwendung elektronischer Mittel und serieller Techniken. Mit seinem 1984 komponierten Orchesterwerk "Kraft" hatte er den internationalen Durchbruch, der sich seither in vielen Auszeichnungen und Festivalschwerpunkten niederschlug. "Kraft" wurde mit Hilfe eines Computerprogramms geschrieben, dessen Ausarbeitung alleine Lindberg ein Jahr kostete, und ist ein Meilenstein in der wirkungssicheren Kalkulation von Klangmassen. Diese rauhe und gefrorene Soundmotion besteht einerseits aus unablässig wild herausfahrenen Gesten von hoher Komplexität (bis zu 70 verschiedene Tonhöhen gleichzeitig) und ist andererseits von geradezu primitiver, Rockmusik-naher Direktheit. In den folgenden Jahren bekannte sich Lindberg zusehends zur entemotionalisierten, non-tonalen Harmonie der "Spektralisten": Klänge, die strahlend aufeinander bezogen sein sollen, ohne auf den Menschen bewegend zu wirken. Anfang der neunziger Jahre fand Lindberg zu einer Art "neuem Klassizismus", dem auch seine "Corrente"-Kompositionen zugehören - die Formen wurden dynamischer geprägt, die bleiern-mechanistische Statik der Vorgängerwerke lockerte sich. "Corrente II" ist das zentrale Werk dieser Phase.
CS: Was war neu in Ihrer Komposition "Corrente"?
ML: Ich habe immer nach neuen Möglichkeiten gesucht, danach, mich vollständiger auszudrücken. In "Kraft" waren die Tonhöhen Nebenwirkungen. Ich benutzte Systeme zur Organisierung der Tonhöhen - sehr vieler Tonhöhen! Aber die harmonische Dimension war weniger strukturiert als beispielsweise die rhythmische. In der folgenden Trilogie "Kinetics", "Marea" und "Joy" hingegen war die harmonische Seite definitiv die Hauptangelegenheit. Danach wurde es immer mehr die ganze Idee der Form, dann zunehmend die Idee der zusammengehörenden Gruppierung der einzelnen Erscheinungen, die mein Tun dominierten: die zuvor erschlossenen Stilmittel zu integrieren! Aber in "Corrente" versuchte ich, aus dieser gestisch verhafteten Denkungsart herauszukommen. In der gestischen Kompositionsmanier gibt es ein Hauptproblem: Etwas fängt an, etwas hört auf, etwas fängt an, etwas hört auf... Man sucht vergeblich nach Kontinuität im Nacheinander endloser Beliebigkeiten. Ich wollte jetzt die Musik in einer Art kontinuierlichem Prozeß organisieren. Eine Konsequenz davon war, daß meine Musik in mancherlei Hinsicht "klassischer" wurde. Alles ist nun sehr stark mit allem verwoben. Das führte sogar zu Stücken allzu simpler Machart wie "Coyote Blues", das ich für kein wichtiges Werk von mir halte. "Corrente" ist in der vielgespielten ersten Fassung ein zwölfminütiges Kammerorchesterstück, das ich dann für die kleinere Besetzung meines Ensembles Toimi als "Decorrente" arrangierte und schließlich zum umfangreicheren "Corrente II" für großes Orchester ausarbeitete.
CS: Was ist von Bedeutung, wenn Sie davon sprechen, mehr Aufmerksamkeit dem musikalischen Formprozeß zu widmen? Welche Rolle spielen Kontinuität, Wiederholung?
ML: Wenn Sie Kontinuität vermeiden, also Wiederholung in irgendeiner Weise, dann gibt es keinen Rhythmus mehr. Rhythmus ist nicht die Aufsplitterung der Zeit in Stückchen. Er bedarf einer sehr einfachen, primitiven Grundlage, und die heißt Wiederholung. Unser ganzes Leben beruht auf Wiederholung. Beethovens Rhythmen sind viel komplexer als die meisten hochkomplizierten Rhythmen, die in unserem Jahrhundert erfunden wurden. Er arbeitet mit der Psychologie des Hörers - mit Erwartungen und plötzlichen Wendungen. Aufbauen und zerstören. Ich bin schon lange besessen von der Frage: Was ist Periodizität in unserer Zeit?
CS: Welche Antwort geben Minimalisten wie Philip Glass?
ML: Sie geben keine Antwort auf diese Frage. Ich hasse Minimalismus! Es ist ein hochgezüchtetes Debakel. Diese Leute haben die sehr oberflächliche, äußerliche Seite afrikanischer Musik geklaut, die aus einem völlig anderen Zusammenhang stammt. Natürlich gibt es auch gute Stücke von Minimalisten, zum Beispiel von Steve Reich, vom frühen Terry Riley, manches von Louis Andriessen. Aber im Allgemeinen reduziert Minimalismus das Material zur Inhaltslosigkeit, zu organisiertem Schwachsinn.

"Pattern music", die ihre Spannung aus der Grauzone zwischen ständigem Verändern und Unverändertem bezieht, kann hingegen sehr faszinierende Wirkungen erzeugen. Solche Musik ist übrigens horrend schwer zu spielen.
CS: Wie wichtig ist für Sie heute elektronische Klangerzeugung?
ML: Ich habe die elektronischen Mittel schon immer mehr zu strukturellen Zwecken benutzt. Ich kann ohne elektronisch erzeugte Klänge leben. Aber die Kenntnisse, die ich durch ihre Verwendung erlangte, haben meinen gesamten Zugang zum klassischen Orchester verwandelt. Ich habe auch keine ästhetischen Bedenken gegen die Erweiterung des Orchesterklangs mit Hilfe der Elektronik. Aber ich bin sicher, daß völlig künstlich erzeugte Klänge die natürlichen Klänge nicht ersetzen können. Klangliche Synthesen jedoch eröffnen neue Horizonte. Es ist ein Problem, daß künstlich geschaffene neue Klänge oft sehr steril wirken. Aber heute baut eben keiner mehr neue Instrumente. Deshalb ist das Auffinden dieser neuen Klänge gewissermaßen unsere Art, "Instrumente zu erfinden".
CS: Wohin entwickelte sich Ihr Stil seit "Corrente", also seit Anfang der neunziger Jahre?
ML: Die vierzigminütige Symphonie in einem Satz "Aura" war eine Art Résumé meiner bisherigen Hervorbringungen in einem großen symphonischen Kontext. Jetzt bin ich mehr denn je an Kontrapunkt interessiert, an realer Vielstimmigkeit - ich beschäftige mich wirklich mit dem traditionellen Regelwerk, studiere "Tonsatz". Bisher war meine Musik sehr heterophon und homophon, eine Mischung dieser beiden Methoden, aber nicht wirklich mehrstimmig. Jetzt versuche ich, mir die Musik melodisch vorzustellen, also horizontal, und dazu den vertikalen Zusammenklang - folglich also ist mein Zugang nun diagonal. Mit Hilfe des Computers kam ich sehr nahe an die echten Wurzeln des Kontrapunkts, bei Guillaume de Machaut und seiner Zeit. Ich habe das ausgesprochen starke Gefühl, daß ich derzeit mit Dingen arbeite, die Strawinskij Ende der fünfziger Jahre beschäftigten. Einerseits breche ich völlig mit dem, was ich bisher getan habe. Andererseits spüre ich, daß es ein logischer Weg ist. Immer wieder orientierte sich mein Schaffen um ein zentrales, neues Projekt herum: um "Kraft", um "Kinetics", um "Corrente", um "Aura". Es ist ein Leben von Krise zu Krise, und mittendrin sind sie mit einer Leere konfrontiert, die sie manchmal kaum annehmen können. Ich bin ein synthetischer Denker, und einer meiner großen Favoriten ist Bernd Alois Zimmermann. Diese Art, verschiedene Parameter zusammenzubringen, habe ich immer bewundert.
Interview: Christoph Schlüren
(Interview für das Münchner Kulturmagazin 'Applaus', 1996 anläßlich einer Aufführung von 'Corrente II' in der Münchner Philharmonie)
 
 
CD-Tips: Das frühe Klavierquintett "... de Tartuffe, je crois" zeigt Lindberg auf der Höhe assoziativ-gestischen Wechselspiels, gekoppelt mit dem Cello-Concertino "Zona" und zwei weiteren Werken jener Phase Anfang der achtziger Jahre (Finlandia/east-west CD 1576 50033-2). Zwei halbstündige Hauptwerke finden sich auf der nächsten CD: "Action - Situation - Signification" kombiniert Naturgeräusche und instrumentale "musique concrète", durchorganisierte Rohheit beherrscht Lindbergs Erfolgwerk "Kraft" (Finlandia/east-west CD 1576 53372-2) - Klassiker des eher sportiven Modernismus, ob man sie mag oder nicht. "Metalwork" und weitere Kammermusiken offeriert eine weitere Zusammenstellung (Finlandia/east-west CD 1576 50034-2). Eine orchestrale Trilogie bilden die Werke der spektral-statischen Phase "Kinetics", "Marea" und "Joy" (Ondine/Helikon CD 784-2). Das lebensfreudig wirbelnde "Away" findet sich auf einer Anthologie neuer finnischer Musik für Kammerorchester (Ondine/Helikon CD 866-2). Und die kammerorchestrale Erstfassung von "Corrente" repräsentiert neben der radikal-harschen Welt von "Ur" und zwei weiteren Stücken sein Schaffen auf einer Portrait-CD des Ensemble Intercontemporain (Adès CD 203582) - vielleicht die empfehlenswerteste Scheibe.

(Helsinki, 8.2.96)