Als Elfjähriger begann der am
20. Februar 1945 im böhmischen Graslitz geborene Roland Leistner-Mayer
mit dem Komponieren, durch seinen aufgeschlossenen Ingolstädter
Musiklehrer vor allem von Bartók, Hindemith und Werner Egk
beeinflußt. Als er 1968 an der Münchner Musikhochschule
sein Kompositionsstudium bei Harald Genzmer aufnahm, verfügte
er bereits über eine solide handwerkliche Grundlage, der nun
weiterer Schliff zukam. Nach zwei Jahren wechselte er in die Klasse
von Günter Bialas, dessen Methodik seine schöpferische
Entwicklung stark prägte. Bis zum Studienabschluß 1974
waren Eindrücke von Hartmann, Lutoslawski, Penderecki und Stockhausen
besonders prägend. Doch mit dem ersten Streichquartett schlug
Leistner-Mayer 1975 endgültig eine andere Richtung ein. Er
hat seither unermüdlich in vielerlei Genres für allerlei
Besetzungen geschrieben, bis hin zu sehr wertvollen Musiken für
Jugend- und Laienensembles, denn es ging ihm seit jeher um die Belebung
der musikantischen Wurzeln, die die unentbehrliche Basis jeder Musikkultur
bilden und in der ganzen westlichen Welt zunehmend vernachlässigt
werden. Leistner-Mayer zählt zu den potentesten Tonschöpfern
im Münchner Raum, ist aber hierzulande unterbewertet und genießt
andernorts - zum Beispiel in Tschechien, wo sich das renommierte
Suk-Quartett für seine Werke einsetzt - weit größere
Anerkennung.
CS: Was fanden Sie 1975 in ihrem ersten Streichquartett?
RLM: Erstmals den Mut, von innen heraus zu schreiben. Die Mode war
ja, die persönliche Schwingung auszuschalten - Sachlichkeit
war 'in'. Ich wurde nun ein 'unsachlicher' Komponist. Trotzdem ist
das erste Quartett noch sehr eingeengt vom überlieferten, motivtechnischen
Denken. Der langsame Satz ist mir am besten gelungen, der ist am
freiesten. Seine Form war nur bestimmt von dem Ziel, mit maximaler
Intensität einen Höhepunkt aufzubauen in langsamem, konsequentem
Anwachsen. Das war praktizierte Inhibition, und die Form war Ergebnis
des Ausdrucks, nicht umgekehrt. Damit hatte ich meine persönliche
Stimme als Komponist gefunden. Der dritte Satz ist ein obsessionelles
Furioso, und auch das hat seine Fortsetzung gefunden. Die Scherzi
spielen eine zentrale Rolle bei mir: Da ist die humorvolle Komponente,
und die knappe Anlage verträgt keine Redseligkeiten, sondern
fordert die Konzentration aufs Essentielle. Scherzi sind die beste
Schule für den Formsinn! Überhaupt ist die Beherrschung
von Genreformen da von Bedeutung. Ich hätte übrigens seither
viel mehr Streichquartette geschrieben, wenn die Auftragslage es
zugelassen hätte. CS: Wie stehen Ihre späteren Werke demgegenüber
da?
RLM: Die Melodie schwingt nunmehr in ihrer Ganzheit, sie ist mehr
als eine Summe von melodischen Gliedern. Das Ende der Melodie ist
in mir bereits da, wenn ich den Anfang ausgestalte. Auch Periodik
im klassischen Sinne ist stets wirksam. So ist der unmittelbare
Mitvollzug für den unbefangenen Hörer möglich. Meine
Musik bedarf keiner intellektuellen Vorkenntnisse. Das war mir immer
wichtig. Wesentlich sind immer auch eindeutige harmonische Felder
- meine Musik ist durchgehend tonal empfunden: in freitonaler Funktionalität.
CS: Sie dirigieren nun in einem Münchner Konzert ihr Streicherwerk
"Ratibor". Gibt es da eine kompositorische Leitidee?
RLM: "Ratibor" ist eine Hommage an Eichendorff.
CS: Bedeutet das auch eine freiwillige Naivität?
RLM: Eichendorff mag in den Romanen eine gewisse Naivität an
den Tag legen, nicht aber in seinen Gedichten. Die poetische Essenz
seiner Schlüsse bezieht sich wirklich auf den letzten Sinn
des Seins! Das ist höchstes Genie.
CS: In welcher Weise meinen Sie, daß sich der Eichendorffsche
Geist "instrumental niedergeschlagen" haben könnte?
RLM: Ich habe versucht, die Atmosphäre,
die Stimmung mancher Gedichte einzufangen. Gar nicht unbedingt bestimmter
Gedichte: Die haben sich gegenseitig durchdrungen, zum Beispiel
"Auf dem See" - also, es dreht sich keineswegs um die
gegenständlichen Komponenten irgendeines Gedichts. Die Musik
ist die nicht konkretisierbare Widerspiegelung meines Zugangs zu
der Welt seiner Gedichte.
CS: Der Blick in die Partitur legt den Schluß nahe, Eichendorffs
Empfindungswelt sei von sehr homophoner Qualität.
RLM: Seine Gedichte sind nicht kontrapunktisch angelegt. Seine Genialität
spricht sich gerne mit Mitteln der Kontrastergänzung und des
Gleichnisses aus. Aber wie sollte ich das musikalisch ausdrücken
können?
CS: Am 11. April 1997 wird in der Musica-Viva-Reihe Ihre dritte
Symphonie uraufgeführt. Sie heißt "Das weiße
Requiem", ist für Chor, Vokal- und Instrumentalsolisten
und großes Orchester gesetzt und wurde 1994 vollendet. Was
ist die außermusikalische Leitidee und wie ist sie musikalisch
ausformuliert?
RLM: Zuallererst "Das Leben ein Tanz". Am Anfang steht
der "Totentanz" und spannt den Bogen, der bis zum "Tanz
der Seligen", dem achten Satz, durchträgt.
CS: Warum beginnt es mit dem "Totentanz"?
RLM: Der Schritt ins Jenseits ist der dramatischste im Leben. Deshalb
beginnt es mit diesem Abschluß. "Stirb und Werde!"
- um mit Goethe zu sprechen - ja, das ist durchaus mein Glaube!
Ich freue mich ganz besonders, daß mein Freund John-Edward
Kelly bereit ist, den wichtigen Altsaxophon-Part zu übernehmen.
Er ist ohne Übertreibung einer der ganz großen Musiker
unserer Zeit, was nicht allzuviele wissen - eine absolute Ausnahmeerscheinung,
streitbar und musikalisch über jeden Zweifel erhaben. Großes
Glück hatte ich auch mit den Gesangssolisten: der Mezzosopranistin
Daphne Evangelatos und dem Bariton Roland Hermann. Ich hoffe, mit
dem "Weißen Requiem einen essentiellen Beitrag zum zeitgenössischen
Musikschaffen in dieser Stadt leisten zu können.
Interview: Christoph Schlüren
(Interview für das Münchner Kulturmagazin 'Applaus', 1996)
CD-Tip: Hohe innere Komplexität künstlerischen Erlebens
muß sich nicht in hoher struktureller Komplexität des
Kunstwerks niederschlagen. Im Gegenteil: Roland Leistner-Mayer hat
immer unbeirrbar nach dem einfachsten und direktesten Ausdruck des
innerlich Notwendigen gesucht und ist darüber zu einem Personalstil
vorgedrungen, dessen vehemente Attacken und weitgesponnene Kantabilität
stets von konsequenter Durchführung des harmonischen Plans
gebündelt werden: Nur das musikalisch Wesentliche zählt,
es gibt keine Klanglichkeit um ihrer selbst willen. Die Streichquartette
Nr. 2 und 3 haben Idiomatisches seiner böhmischen Heimat aufgesogen,
erinnern in vielem gar an Janácek, sind aber von beharrlicherem,
weniger kapriziösem Charakter. In diesen kraftvoll-feinsinnigen
und musikantisch atmenden Werken offenbart sich ein eherner Romantiker
(iton-CD 60199, Vertrieb:?). Von hoher Einfühlung bei minimalem
Aufwand zeugen die 14 zerbrechlichen Lieder des Zyklus "Beziehungen"
von 1991, die geschmeidig ineinander übergleiten. Anette Niedermeyer
singt mit Intensität und feinem Gespür bei gelegentlichen
Intonationsschwächen (balance-CD 9301-1). Von kompakter Dramatik
ist das kunstvolle Orgelduo "Confutatis" (Motette-CD 12071).
Von der A-cappella-Chorkantate "Ein Lebenstag" auf große
romantische Lyrik sind noch Restexemplare erhältlich (CD "Carpe-Diem-Chor",
erhältlich bei Musikschule Neuried, Haderner Weg 5, 82061 Neuried).
Gilching bei München, 3.6.96 |