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Aphoristischer Bekenntnismusiker

Portrait György Kurtág

Kein Wunder ist es, daß der mittlerweile über siebzigjährige György Kurtág in langen Jahren intensiver schöpferischer Arbeit nur ein schmales Œuvre hervorgebracht hat. Seine Musik ist von intensivstem Ringen um den exakten Ausdruck des Erlebten, um die unmittelbare klangliche Umsetzung seelischer Inhalte durchdrungen, von brisanter, immerwährender Suche, die aus neuen wie altbekannten Klangbausteinen immerzu einmalige, unentdeckte Zusammenhänge schürft. Selbst das abgegriffenste Klischee kann vor Kurtágs innerem Ohr Echtheit und Würde zurückgewinnen, indem es nicht beliebiger Collage unterworfen, sondern unverzichtbarer Bestandteil eines organischen Prozesses ist. Kurtág entlockt unscheinbarsten Materialien mittels spontan gehörter, minutiös durchstrukturierter Verknüpfungen archetypische Qualitäten suggestiver Eindringlichkeit, er entfesselt in der Gegenüberstellung oft scheinbar unvereinbarer Elemente Kraftfelder hochkomplexer Gestalt, die unbedarfter produzierenden Künstlernaturen verschlossen bleiben. Die Dichte der Aussage, die Fähigkeit, aus scheinbaren Nichtigkeiten ganze Welten tönender Gewalt aufbrechen zu lassen, die Poesie zwischen Mut zur nackten Substanz und obsessivem Ausreizen der in einer Klangverbindung liegenden Möglichkeiten, die paradoxe Durchbrechung mühelos zufliegender "objets trouvées" und existentieller Identifikation: all das ist Folge der "unbeirrbaren Suche nach dem Wahren", was als Motto über Kurtágs musikalischem Lebensweg stehen könnte. So entstand jene unverwechselbare, gleichwohl nie voraussehbare kompositorische Handschrift, für die Kurtág nun den mit 250.000 DM dotierten Siemens-Musikpreis, den höchsten Musikpreis im deutschsprachigen Raum, erhielt.
Bedenkt man, daß er sich schon seit Ende der 50er Jahre als überragende Komponistenpersönlichkeit profilierte, so kam die Anerkennung außerhalb seiner ungarischen Heimat sehr spät, erst Ende der 70er Jahre, als Boulez auf ihn aufmerksam wurde und die internationale Avantgardeszene ihm einen führenden Platz einzuräumen begann. György Kurtág wurde am 19. Februar 1926 in der Nähe von Temesvar geboren. Er studierte nach Kriegsende in Budapest bei Sándor Veress, Ferenc Farkas, Pál Kadosa und Leo Weiner. 1957 ging er für ein Jahr nach Paris, wo er an den Klassen von Darius Milhaud und Olivier Messiaen teilnahm. Bisher vor allem von Bartóks Musik beeinflußt, lernte er nun im Schnellverfahren die westliche Avantgarde kennen und wurde mit der zweiten Wiener Schule vertraut, insbesondere mit Anton Webern. Als seine eigentliche

Kompositionslehrerin in jener Zeit hat er die Psychologin Marianne Stein bezeichnet. In der Arbeit mit ihr lernte er seine wahren Stärken kennen als aphoristischer Bekenntnismusiker, der einem Minimum an Material ein Maximum an Expressivität und Gestaltreichtum abzugewinnen versteht. Das Streichquartett op. 1 ist der Einstieg in diese unerschöpflich reiche Miniaturwelt, die wie eine fantastische Synthese von Weberns asketischer Konzentration und Sensibilität mit Bartóks abgründigem Musikantentum anmutet, restlos verinnerlicht und transzendiert ins Eigene. In Werken wie den 40 "Kafka-Fragmenten" für Sopran und Geige, den 21 "Botschaften des verstorbenen Fräulein R. V. Trusova" für Sopran und Kammerensemble erweist sich seine Fähigkeit, diese sich so eigensinnig gebärdenden Miniaturen zu großen Zyklen zu ergänzen. Daß er in größeren Formen nicht weniger zu sagen hat, bewiesen in den letzten Jahren Stücke wie das Doppelkonzert für Klavier, Cello und 2 Ensembles oder "Stele" für großes Orchester, wo die im Material liegenden Möglichkeiten großzügiger entfaltet, in den Klangraum hinausprojiziert werden und den Hörer mit absolut musikalischen Mitteln tief erschüttern.

Christoph Schlüren

(Beitrag für Music Manual anläßlich der Verleihung des Siemens-Musikpreises 1998)

CD-Empfehlungen

Musik für Streichinstrumente; Keller Quartett; ECM 453258-2.
Játékok (Spiele) und Bach-Transkriptionen; Márta und György Kurtág (Klavier); ECM 453511-2.
Liederzyklen, Quasi una fantasia; Sony SK 53290.
Portraitkonzert Salzburger Festspiele 1993; col legno 2CD WWE 31870 (Vertrieb: Sony).
Kafka-Fragmente; Adrienne Csengery (Sopran), András Keller (Violine); Hungaroton 31135.
Werke für Sopran; Adrienne Csengery; Hungaroton 31576.
Die Sprüche des Péter Bornemisza op. 7; Hungaroton 31290.
Stele, Grabstein für Stephan; Berliner Philh., Abbado; DG 447761-2.
Werke für Viola, Hommage à R. Sch.; Kim Kashkashian (Viola); ECM 437957-2.
(Stand 1998)