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Schwarzgeflügelter Wachtraum

Hanna Kulentys Psycho-Oper

Emphase des Monotonen, besitzergreifender Primitivismus als Klangbild psychischer Zerrüttung: Im Münchner Marstall-Theater wurde im Rahmen der Musiktheater-Biennale The Mother of Black-Wingéd Dreams - Libretto von Paul Goodman, Musik von der 1961 in Bialystok geborenen, in den Niederlanden lebenden Polin Hanna Kulenty - uraufgeführt. Es geht um den Psychokrieg innerhalb der einzig eigentlichen Figur Clara, die ihre Persönlichkeitsaufspaltung erlebt und ins Kreuzfeuer immer unauflöslicher sich widersprechender Attitüden, Begehrlichkeiten, Bewußtheiten getrieben wird - there's no way out of here. Zu den zwei Scheren und den zwei Clicks, die Clara-identisch in rotem Shirt und bravem Nachkriegsmoderock paarweise agieren - Agonie contra Eloquenz, Sprödheit contra Koketterie, Symbolfiguren auslebender Inbalance in mustergültig-greller Darstellung und Personenführung - tritt grandios-unsäglich M.D. Woodraven, einzig anti-identisches, in sich multiples Alter-Ego: phallokratischer Herr Gut-und-Böse, offenbar äußerlicher Verursacher (sexueller Mißbrauch des Kindes Clara, die ihn nun wachträumt und, wahrscheinlich, diesen Eingriffen ihre MPS - multiple personality syndrome - verdankt) und innerlicher Auflöser der Zersplitterung zugleich, der, mitten im Unerträglichen, die Eskalation der hämmernden Wahnflut - elf Claras umtosen ihn, der vorübergehend das Tollhaus der Seele zentriert - mit der Kurzzelebration aus dem simplen Lauf einer Knarre zerreißt. Der Schuß, Tod einer mother of alter egos - Höhepunkt, Wendepunkt des Seelenkrebses nach einer knappen Stunde wuchernder Gefühlsdivergenz. Danach eine halbe Stunde zur Besinnung kommend, oder in sich zusammensinkend: schwarzgeflügelter Terror gebiert schwarzbeflügelte Ruhe.
Hanna Kulentys Musik setzt moderne Klangsprache im Dienste barbarischer Emotionsfokussierung ein: Trance ist das Gebot des sich fortpflanzenden Moments, Klagetrance der kleinen Terz, Kollisionstrance des Halbtons, melody in slow time. Es ist Kulentys erste Oper, und der Konstruktionsaspekt ist von verschwindender Bedeutung, noch belangloser als in ihren gleichfalls soghaft den Hörer auf die Reise in einer sich in sich selbst drehenden Welt schickenden Instrumentalwerke. Solche auf das Ekstatische setzende Klanglichkeit bedarf ekstatischer Musizierhaltung, immer im Begriff, aus sich herauszugehen, potentiell wahnsinnig eben auch, ganz so, wie es in mancher traditionellen afrikanischen Musik geschieht: Suggestiv, unwiderstehlich muß es sein, nicht die Noten, nicht die bewußte Formwerdung sind es, sondern unerbittlich gerichteter Taumel, wachgeträumt, einen ultimativen Trip fordert die Komponistin ein. Wenn man das so routiniert-halbgar abliefert wie das Septett aus dem Hamburger Staatsorchester unter dem undifferenziert eifrigen Paul Weigold, wird das Publikum um die Essenz dieser treibenden Klangvision betrogen, und das primitive Nacheinander wird Endlosmakulatur, kunst- und ereignislos (dabei ist alles, aber auch wirklich alles, jeder Einsatz im multiplen Clara-Gewirr, strikt auskomponiert, wofür ein Subdirigat notwendig war).

Insofern wurden in München nur die Noten - und auch die keineswegs vorbildlich (Glissando mit Gangschaltung) -, nicht aber die Musik uraufgeführt. Paul Goodman hat ein phantastisch-assoziatives Libretto geschrieben, wirr-klar, die nicht-lineare Motivation auf den Punkt gebracht. Die Inszenierung Claus Guths verdient in ihrer prall prunkenden Sachlichkeit höchstes Lob, hat den Charakter nicht erzählerischen Erzählens in satten Farben verwirklicht, und Christian Schmidts Ausstattung kippt erbärmlichsten Alltag in die Karaffen der Schizophrenie. Die Sänger, allen voran Kurt Gysen und Christa Bonhoff, zeigten erfreuliches bis ausgezeichnetes Format.
Wie geht es weiter mit der Münchner Musiktheater-Biennale? Auf Beschluß des Stadtrats ist der Bestand als jährliche Einrichtung über das Jahr 2000 hinaus gesichert, nachdem Mitte dieses Jahres auf einen von der SPD befürworteten Antrag der Grünen hin die Schreckensmeldung die Runde gemacht hatte, die '97er-Biennale würde nicht stattfinden. Doch das Einlenken der koalierenden Mehrheit hat seinen bitteren Preis, der bei allem Selbstlob der Münchner, wider den Trend der Zeit der Kultur die Stange zu halten, umso unfaßbarer ist. Zwar kommen im April '97 zwei Opern, Helle Nächte vom Münchner Killmayer-Schüler Moritz Eggert und Juniper Tree vom von Henze favorisierten Schotten Roderick Watkins, zur Uraufführung, doch in Auftrag hatte die Landeshauptstadt vier Werke gegeben. Zwei für die zweite Jahreshälfte vorgesehene Ereignisse entfallen jetzt, werden behende unter den Teppich der kulturregierenden Selbstgefälligkeit gekehrt: Seid's doch froh, daß wir überhaupt weitermachen. Nein. Soll man ignorieren, daß einer von Englands besten Komponisten, Simon Holt, ein sehr produktiver Geist, vier Jahre fast ausschließlich über seiner Lorca-Oper saß? Die existentielle Seite solcher Arbeit kann von Politikern anscheinend nicht ermessen werden. Und spielt der Ruf langfristig keine Rolle? Die Uraufführung soll nun, ein Jahr später, bei Leeds stattfinden. Eine Chance, die Kulturgrenze zwischen Mitteleuropa und dem Rest der Welt zu überwinden, wird vertan. Der weltweite Prestigeverlust ist enorm. Oder ist es noch nicht zu spät, dieses wichtige Ereignis doch noch an den eigentlich zugesagten Ort zu holen, anstatt zwei Feuertaufen an einer fehlenden Million scheitern zu lassen?

Christoph Schlüren
(Rezension für Frankfurter Rundschau)