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Charles Koechlin (1867-1950)

Alchimist des Orchesterklangs

Musikgeschichte wird, vor allem in unserem Jahrhundert der rastlosen Umwälzungen, meist in Trends, Strömungen und Kategorien geschrieben, die stets mit wenigen überragenden Persönlichkeiten in Zusammenhang gebracht werden. Dabei wird gerne übersehen, daß auch viele jener Komponisten, die üblicherweise nicht zu den "ganz Großen" gezählt werden, Persönlichkeiten sind, deren Werdegang und Werk in keine Schublade paßt, sondern eine eigene Kategorie begründet. Unter Kollegen und Kennern hoch geschätzt, ist er bis heute dem breiten Publikum ein Unbekannter geblieben:
Charles Koechlin (1867-1950).Alchimist des Orchesterklangs

 
"Das Leben des Künstlers, der vor allem anderen über die Schönheit nachdenkt, ist beneidenswert. Es erlaubt, sich auf ein Ideal hin zu bewegen. Ein solches Leben schenkt Freiheit. Diese Freiheit ist: 'ganz du selbst sein', zu schreiben in deinem Elfenbeinturm, der ein Leuchtturm für die Welt werden kann."
Alle hielten sie höchste Stücke auf ihn, ob Debussy, Dukas, Roussel, Ravel, Milhaud, Honegger oder Poulenc. Der 25 Jahre jüngere, keineswegs rückwärtsgewandte Darius Milhaud beispielsweise schrieb, er habe "den Eindruck, es mit der Musik eines Zauberers zu tun zu haben, der der Generation nach mir angehören könnte". Aber die Versuche, Koechlins Werke populär zu machen, hatten keinen durchschlagenden Erfolg. Charles Louis Eugène Koechlin (sprich: Kéklin) wurde am 27. November 1867 in Paris als siebtes Kind einer wohlhabenden, gebildeten elsässischen Familie geboren. Er wollte Astronom werden – Nachklang dieser Neigung mögen die vielen evokativen Nachtstücke und -stimmungen in seinen Werken sein. Fünfzehnjährig begann er zu komponieren, und 1890 entschied er sich endgültig für den musikalischen Weg. Doch beide Begabungsstränge – der freie Künstler und der systematische Forscher – koexistierten weiter, um sich im Laufe seines langen Lebens immer unauflöslicher zu durchdringen. Am Pariser Conservatoire studierte er beim Fugenpapst André Gedalge und Jules Massenet, sodann bei Gabriel Fauré, dessen Assistent er von 1898 bis 1901 war. Mehr als alle anderen Leitbilder wurde ihm Fauré, der ihm die Instrumentation seiner Pelléas et Mélisande-Suite übertrug, in seiner diskret progressiven, nie aufdringlichen Diktion zum ästhetischen Exempel. Nicht nur Fauré, auch Debussy vertraute Koechlins magischen Orchestrationskünsten, und die Fusion zwischen Komponist und Orchestrator in Khamma ist perfekt. Am Anfang seines Schaffens (1890-1908) dominiert eine umfangreiche Liedproduktion. Die ersten Orchesterstücke sind impressionistische Stimmungsbilder. Nach 1908 begann Koechlin nach eigener Aussage, nach und nach seine "technique du développement" zu vervollkommnen und sich aus den konventionellen Vorgaben zu entklammern. Er fand seinen Stil, der sich in seiner verwinkelten Diversität einschränkender Definition entwindet, und betrat von nun an nicht nur endlich mit der Kammermusik das seines Erachtens heikelste Terrain, sondern entwarf vor allem seine großen, überquellend imaginativen Tondichtungen für großes Orchester. Bestaunt man sein riesenhaftes, vielgestaltiges Œuvre (er komponierte noch ein halbes Jahr vor seinem Tod an Silvester 1950), so erhält man den Eindruck eines multiplen Laboratoriums, in welchem etliche Werke als work-in-progress-Projekte über viele Jahre hinweg parallel, sich überlappend, aufeinander rück-und vorausbeziehend entstanden sind. Die resultierende Qualität ist sehr unterschiedlich. Koechlin war primär kein Vollender, sondern eine Erfindernatur.
Das Orchester, seine kombinatorischen und charakteristischen Phänomene kannte er wie wohl keiner außer Gustav Mahler, wobei Koechlin freilich viel gezielter neue Klangkonstellationen erschloß und mit hochsensibler Könnerschaft in seinen kühnen Formgestalten herausziselierte. Er war ein Alchimist des Orchesterklangs, wobei seine unerschöpfliche Phantasie mit methodischer Erfassung Hand in Hand ging, wie seine umfassende Traité de l’orchestration in 4 Bänden belegt. Tiefer in die Geheimnisse der Orchesterbehandlung ist keine Studie eingedrungen. Und gäbe es Patentrechte auf Instrumentalkombinationen, Koechlin wäre uneinholbarer Rekordhalter – wobei seine Kombinationen, entgegen vieler anderer, stets funktionieren, wie man in der nie ermüdenden Einfärbung und Registrierung der reinen Monodie in La loi de la jungle, in der bizarren Intellektuellensatire im Affengewand der Bandar-Log, in den unbegrenzten Farbdimensionen von La course de printemps oder Le buisson ardent hören kann.

Das alles ist Musik für erfahrene Gourmets, die in ihrer insgesamt statisch ausgerichteten, energetisch stringente Eindeutigkeit meidenden Art dem weniger gebildeten Hörer erst mit mehrmaligem Hören ihre Schönheiten preisgibt, abgesehen vielleicht von Werken wie der Seven Stars Symphony, welche in unerhört illuminativer Weise große Filmstars wie Lilian Harvey, Greta Garbo oder Charlie Chaplin tableauisierte. Außer der Oper hat Koechlin alle Genres beackert, sogar die Messe (ohne Credo!). Sein musikalischer Kosmos ist unausschöpflich. Die Pfade, denen er folgt, führen ins Unvorhersehbare. Kaum bekannt ist das musikalische Vermächtnis des zeitlebens auch so asketischen Formen wie Fuge, Kanon oder Monodie huldigenden Bach-Verehrers, die Offrande musicale sur le nom de BACH . Und viele seiner wichtigsten Werke sind nach wie vor nicht verfügbar: die Symphonien, späte Hauptwerke wie die Tondichtung Le docteur Fabricius oder die Partita für Kammerorchester. Vor welchen Schwierigkeiten schrecken die Schatzgräber zurück?

Christoph Schlüren

('Kleiner Lauschangriff' für Klassik Heute, 1999)
Monographie:
Robert Orledge: "Charles Koechlin. His Life and Works"; Harwood Academic Publishers, Chur 1989; ISBN 3-7186-4898-9
Diskographie:
Dschungelbuch: La Loi de la jungle op. 175, Les Bandar-Log op. 176, La méditation de Purun Baghat op. 159, La course de printemps op. 95; Staatsphilh. Rheinl.-Pfalz, L. Segerstam; Marco Polo/Naxos 8.223484
Dschungelbuch, zuzügl. 3 poèmes op. 18; RSO Berlin, D. Zinman; RCA/BMG 09026 61955 2
Le buisson ardent opp. 203 & 171, Sur les flots lointains op. 130, Au loin op. 20; Staatsphilh. Rheinl.-Pfalz, L. Segerstam; Marco Polo/Naxos 8.223704
Offrande musicale sur le nom de BACH op. 187, Klavierwerke; C. Koechlin (Klavier, Sprecher), RSO Frankfurt, P. Izquierdo; MFB CD 019
Seven Stars Symphony op. 132, Ballade pour piano et orch. op. 50; B. Rigutto (Klavier), Orch. Philh. de Monte-Carlo, A. Myrat; EMI 764369-2
Seven Stars Symphony, 4 interludes op. 214, L’Andalouse dans Barcelone op. 134; DSO Berlin, J. Judd; RCA/BMG 09026 68146 2
Les heures Persanes op. 65 (Orchesterfassung); Staatsphilh. Rheinl.-Pfalz, L. Segerstam; Marco Polo/Naxos 8.223504
Silhouettes de comédie op. 193 für Fagott und Orch., Werke für Fagott und Klavier; E. Hübner (Fagott), SWF-SO, R. Bader; cpo/jpc 999434-2
Sonate op. 58 für Oboe und Klavier, 2 Sonatinen für Oboe d’amore mit Oktett op. 194, Monodie für Englischhorn; Lajos Lencsés (Oboe, Oboe d’amore, Englischhorn), Mitglieder des RSO Stuttgart; Audite/Naxos 97.417
Sonate à sept op. 221, 14 pièces op. 179 für Oboe Bzw. Englischhorn und Klavier, Monodien; Lajos Lencsés (Oboe, Oboe d’amore, Englischhorn); cpo/jpc 999614-2
L’Album de Lilian (Folgen 1 und 2), Vers le soleil op. 174 (Monodien für Ondes Martenot), Stèle funeraire für Flöte op. 224; K. Graf (Sopran), P. Racine (Flöte), C. Simonin (Ondes Martenot), D. Cholette (Klavier); Accord 201232
Les heures Persanes op. 65; H. Henck (Klavier); Wergo/Schott 60137-50
Paysages et marines op. 63, L’Ancienne maison de campagne op. 124, Nocturne chromatique op. 33; D. Richards (Klavier); cpo/jpc 999054-2
Lieder aus opp. 1, 5, 7, 8, 13, 31, 35, 68, 151; C. Leblanc (Sopran), B. Sharon (Klavier); Hyperion/Koch 66243
Werke für Flöte und Klavier, Sonate op. 75 für 2 Flöten, Ausschnitte aus L’Album de Lilian; J. West (Sopran), L. Buyse, F. Smith (Flöten), M. Amlin (Klavier); Hyperion/Koch 66414
Sonate op. 70, Ausschnitte aus Sonneries opp. 123 & 153 und Pièces op. 180; B. Tuckwell (Horn), D. Blumenthal (Klavier); ASV/Koch 716
45 Stücke aus Les chants de Nectaire (opp. 198-200); A. Still (Flöte); Koch 3-7394-2
Les Bandar-Log op. 176; Bundesjugendorch., H. Holliger; Ars musici/Note 1 AMP 5082-2
Septuor à vent op. 165; Bläser der Berliner Philh.; BIS/Disco-Center 536
Sonate op. 66 und Chansons Bretonnes op. 115 (Buch 1 und 2) für Cello und Klavier; M. Lidström (Cello), B. Forsberg (Klavier); Hyperion/Koch 66979
Poème pour cor et orchestre op. 70bis; M. L. Neunecker (Horn), Radio-Philh. Hannover, U. Mayer; Koch-Schwann 3-6412-2
(Stand 1999)