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Interview mit Peter Kiesewetter

"Das Intervall als Erlebnisgröße"

Geboren am 1. Mai 1945 im unterfränkischen Marktheidenfeld als Sohn schlesischer Eltern, erhielt Peter Kiesewetter als Zwölfjähriger in Augsburg ersten Musikunterricht. 1966 nahm er sein Kompositionsstudium an der Münchner Musikhochschule bei Günter Bialas auf und betätigte sich für viele Jahre nebenher als Musikjournalist. Nach Abschluß des Studiums leitete er unter anderem die Konzertreihe "musik unserer zeit", wirkte als Lehrbeauftragter an der Musikhochschule, studierte Musikwissenschaft und besuchte 1980 die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik. 1982 gab er die journalistische Tätigkeit auf, um sich ganz dem Komponieren zu widmen. Durch Gidon Kremer und Yehudi Menuhin wurde sein "Tango pathétique" zum Erfolgsstück. In den folgenden Jahren ermöglichten Stipendien halbjährige Studienaufenthalte in der römischen Villa Massimo, und ab 1986 stieg seine schöpferische Produktivität bedeutend an. Gidon Kremer und die Berliner Festspiele erteilten Kompositionsaufträge, 1990 wurde in München in der Musica viva seine konfliktgeladene Erste Symphonie "Purgatorio" auf Worte von Torquato Tasso und Michelangelo Buonarroti uraufgeführt. 1991 wurde er Professor an der Münchner Musikhochschule, im Jahr darauf folgte die Berufung als Kompositionsprofessor an die Musikhochschule Hannover. Doch eine schwere Erkrankung machte die Ausübung der verantwortungsvollen Ämter zunichte, ja einige Zeit sah es so aus, als müsse Kiesewetters schöpferische Stimme ein für allemal verstummen. Stattdessen aber hat er über den Umgang mit der Krankheit und die Folgen umsomehr zu sich selbst gefunden, das Wesentliche noch klarer vom Unwesentlichen zu unterscheiden gelernt. In den letzten Jahren hat Kiesewetters Auseinandersetzung mit der jüdischen Kultur und Lebenswelt seine künstlerische Arbeit entscheidend geprägt. "Bereshit" wurde 1995 begonnen, der erste Teil ist rechtzeitig für das Benediktbeurer Konzert vollendet worden, und das gesamte Werk wird im kommenden Jahr in München erstmals vollständig aufgeführt werden.
CS: Herr Kiesewetter, wie fangen Sie es an, wenn Sie ein neues Stück komponieren?
PK: Es ist nicht allzu schwierig, einen imposanten Anfang zu finden, der eindrucksvoll für sich dasteht, in dem aber noch lange nicht die Notwendigkeit, bis zum Ende weiterzugehen, angelegt ist. Der Theoretiker Hermann Pfrogner war so etwas wie mein Großvater, was das musikalische Denken angeht - zu Großeltern hat man ja ein entspannteres und produktiveres Verhältnis als zu den Eltern - und er stieß mich darauf, daß es vorrangig sei, die Beziehung zwischen Musik und Psyche im Auge zu behalten. Also: Keine Materialschlachten zu veranstalten, sondern zu warten, bis das treffende Material auftaucht, das Sie suchen und erwarten, von dem Sie jedoch nicht wissen, wann und woher es kommt - der Geist weht bekanntlich, wann und wo er will. Pfrogner half mir, aus einer schwierigen Situation herauszufinden. Als ich gegen Ende des Studiums mit dem Problem konfrontiert war, den passenden Anfang zu finden - passend heißt: Alle inneren Instanzen sagen "Ja, das ist es" - da unterstützte er mich in meinem Schweigen und Suchen nach einem Anfang, der gewissermaßen alles Kommende enthält. Es war eine dreijährige Suche, deren rationaler Teil darin bestand, versuchte Anfänge als "nicht tragfähig" auszusortieren.
CS: Was unterscheidet einen gelungenen Anfang von einem mißlungenen?
PK: Günter Bialas pflegte zu sagen: "Die ganz schlechten Stücke erkennt man sofort als schlecht." Der Anfang ist von zentraler Bedeutung, indem er alles Kommende potentiell enthält. Jedes Material ist nur für eine bestimmte Zeit tragfähig. Ich muß dem Anfang abspüren, welche Potenz er in sich trägt.
CS: Und - falls es gelingt - was können Sie über das Kommende sagen?

PK: Man kann als Komponist nicht absehen, welche Art "Botschaft" man formuliert. Der Komponist weiß nicht mehr über den Inhalt der Musik als der Hörer. Wenn ein Stück fertig ist, muß ich es kennenlernen wie Eltern ein Neugeborenes. Aufführende Musiker, die die Musik wirklich ernst nehmen, kennen diese in der Regel wesentlich besser als der Komponist selbst. Ausnahmen bestätigen wie stets die Regel. Ich meine nicht die korrekte Wiedergabe der Noten, sondern den Gehalt, der nicht verbalisierbar, nicht fixierbar ist.
CS: Sie suchen wie manche anspruchsvoll schöpferische Zeitgenossen gezielt die Reduktion aufs Wesentliche, fern der allgemeinen Reizüberflutung. Was geben Sie dem Hörer in ihrer Musik in erster Linie zur Orientierung an die Hand?
PK: Es ist für den Schaffenden wichtig, das einzelne Intervall ernst zu nehmen, den Hörer immer wieder mit diesem Intervall zu konfrontieren. Die ideale Ausführung dieses Prinzips ist in der Gregorianik anzutreffen: Ein Kernintervall wird umspielt und kann dadurch, in der wechselnden Beleuchtung, umso nachdrücklicher seinen Charakter entfalten. Was heute oft übergangen wird, aber von fundamentaler Bedeutung ist: Das Intervall ist nicht nur Material, sondern Erlebnisgröße. Das Kernintervall ist der überragende Charakter, der Hauptakteur im Umfeld der Klangbeziehungen und unverzichtbarer Leitfaden.
CS: Wie haben Sie mit dem Komponieren begonnen?
PK: Pubertär. Mit Klavierstückchen, die die Kennzeichen jener Werke der Musikgeschichte trugen, die mich gerade faszinierten: Haydns "Londoner" Symphonien, Lassos "Prophetiae Sibyllarum", Isaacs "Missa Carminum" - die Neue Musik kam später auf der Schule, und als ich so um die achtzehn war, wurde es ernst mit dem Komponieren. Ich mußte eine erste, dreijährige "Trockenperiode" überstehen, deren "nasser" Anteil im Chorsingen, übrigens mit meinem Kollegen Wilfried Hiller, bestand. Hiller war es auch, der den Kontakt zu Günter Bialas herstellte, welcher mich dann als Schüler akzeptierte. Da waren die Ohren bereits geweitet: für Hartmanns sechste Symphonie, Henzes "Being Beautious" usw. Ich wollte gleich große Oratorien schreiben. Aber Bialas trainierte meinen Sinn für "schlanke Formen" mit Einstimmigkeit, Kanons zu zwei und drei Stimmen. Doch seine Regelvorgaben fingen an, mir nicht einzuleuchten. Ich reduzierte den Tonvorrat der einzelnen Stimmen radikal auf je zwei bis drei Töne, von Stimme zu Stimme verschieden.
CS: Wie sehen Sie Ihre weitere Entwicklung heute?
PK: Am ersten Morgen in der Villa Massimo saß ich da und dachte: "Die ganze deutsche Neue Musik ist 1000 Kilometer entfernt. Mach also, was du willst!" Diesen Zustand versuche ich von Zeit zu Zeit erneut herzustellen. Aber zur Sache: Ich sehe, wie im Laufe der Zeit die Tendenz zur Einstimmigkeit immer stärker wird. Ich bin ja von Jugend an durch den Gregorianischen Choral stark geprägt. Immer wieder schrieb ich Stücke für unbegleitete Soloinstrumente, eines gar für das Alphorn, dem nur dreizehn Tonhöhen zur Verfügung stehen. Im Zuge dessen wurden auch meine mehrstimmigen Kompositionen zunehmend von einer einstimmig zentrierenden Denkweise gelenkt, weg von der realen Polyphonie zu auffächernder Heterophonie.
CS: Um was geht es im ersten Teil ihres neuen Werks "Bereshit"?
PK: "Bereshit" ist das erste Wort der Bibel: Im Anfang. Hier ist es ein Zyklus von acht Textauszügen aus dem ersten Buch Mose, bezugnehmend auf die zweite Schöpfungsgeschichte, wonach zuerst die Erde, dann der Himmel geschaffen wurde: Das Paradies entsteht, dann wird die "Gehilfin" erschaffen - Chawwa, die Urmutter, die Erde - und es folgt die "Geschichte mit der Schlange". Aber die ist ja bekannt...

Interview: Christoph Schlüren

(Interview für das Münchner Kulturmagazin 'Applaus' anläßlich einer Teil-Uraufführung von 'Bereshit' in Benediktbeuern)

(Vogach bei Odelzhausen, 1.7.96/München, 11.7.96)