Am 9. Februar wird er neunzig Jahre alt: Harald Genzmer, einer der führenden
deutschen Komponisten seit Ende der dreißiger Jahre, ist ungebrochen
aktiv. Im vergangenen Jahr hat er seine Fünfte Symphonie vollendet,
die eine letzte Krönung seines symphonischen Schaffens sein
soll, und eine Sonate für Klarinette und Klavier komponiert,
die Jörg Widmann und Moritz Eggert an seinem Geburtstag in
der Bayerischen Akademie der Schönen Künste uraufführen
werden.
Harald Genzmer wurde 1909 in Lilienthal bei Bremen als Sohn des
angesehenen Juristen und Altgermanisten Felix Genzmer, von dem bis
heute gebräuchliche Übersetzungen der Edda und des Nibelungenlieds
stammen, geboren. Die Mutter spielte Klavier, und der Sohn erhielt
"ein bißchen Klavierunterricht, ziemlich schlechten leider,
da wir ständig umgezogen sind: Ich ging zuerst in Posen zur
Schule, dann in Berlin, in Rostock und in Marburg, da mein Vater
immer versetzt wurde in eine andere Stadt. Das ist natürlich
für ein Kind gar nicht gut. Zum ersten Mal ein Orchester hörte
ich mit etwa 13 Jahren in Rostock. Die spielten ausgerechnet die
Alpensymphonie von Richard Strauss. Wenn nun ein Kind empfänglich
ist für so etwas, ist das überwältigend. Und ich
bettelte und bettelte und durfte am nächsten Sonntag bei der
Wiederholung noch mal reingehen. Und ich war völlig überrascht
ich wußte ja nicht, daß ich dafür begabt
war , weil ich jeden Ton wiedererkannte. Es war mir vollkommen
vertraut. Das war wie bei einer Schallplatte, auf der noch nichts
aufgenommen ist. Dies war mein erstes echtes Musikerlebnis."
In Marburg endlich erhielt Genzmer beim dortigen Universitätsmusikdirektor
Stephani exzellenten Unterricht in Harmonielehre und den Anfängen
des Kontrapunkts sowie Klavierunterricht bei Trautmann in Siegen.
Ein großes Konzerterlebnis der Marburger Zeit bescherten ihm
Adolf Busch und Rudolf Serkin. Nach einem Konzert des Amar-Hindemith-Streichquartetts
mit einem Quartett von Hindemith beschloß Genzmer, bei Hindemith,
der an die Berliner Musikhochschule berufen wurde, Komposition zu
studieren: "Ich bereitete mich bei Stephani sehr gut vor, so
daß ich die Aufnahmeprüfung spielerisch bestand. Hindemiths
Unterricht war hervorragend. Und auch jene Studenten, denen seine
Musik fremd war, schätzten ihn sehr, weil er völlig natürlich
war. Als Hindemith verboten werden sollte, setzten sie sich für
ihn ein. Die Hochschule versuchte, ihn zu halten, und gab ihm Urlaub,
was Hindemith benutzte, um in Ankara eine Hochschule aufzubauen.
Er fragte mich, ob ich nicht auch in die Türkei emigrieren
wollte, aber ich konnte dem nicht folgen, denn ich bin nicht sprachbegabt.
Hindemith war eine große und starke Persönlichkeit. Die
Einzigen, die die Ehre und Freude hatten, sehr oft bei ihm zu Gast
zu sein, waren Oskar Sala mit seinem Trautonium woran er
schon während seines Studiums bei Hindemith arbeitete, was
diesen sehr interessierte und ich. Außerdem war in
Hindemiths Klasse noch Franz Reizenstein, ein jüdischer Kollege
und exzellenter Pianist, der rechtzeitig nach England emigrierte.
Der konnte was, auch als Komponist. In Berlin hatte ich außerdem
Klarinettenunterricht bei Prof. Alfred Richter, Soloklarinettist
an der Städtischen Oper und dem Kammermusiker, der mit dem
Klingler-Quartett die großen Quintette spielte. Und dann war
da an der Hochschule Curt Sachs, den wir alle heiß verehrten.
Man drückt sich als Student ja gerne um diese und jene Vorlesung,
aber bei Curt Sachs habe ich keine einzige versäumt. Es war
unglaublich interessant. Er war auch Leiter der Instrumentensammlung,
und dort spielten wir erstmals auf den alten Instrumenten: Als Klarinettist
spielte ich Zink, Hindemith spielte so eine alte Viola usw.: vierchörige
Stücke von Praetorius eine Streicher- und eine Bläsergruppe,
eine Orgel und ein Chor. Heute sind das Selbstverständlichkeiten.
Damals, 1929/30, waren das Pionierunternehmungen."
Nach dem Studium ging Genzmer nach Breslau, wo er bald Studienleiter,
also "sozusagen Mädchen für alles" im dortigen
Orchester wurde: "Hier lernte ich wirklich, für Orchester
zu schreiben. Abgesehen davon, daß ich die ganzen Werke genau
kennenlernte und große Gewandtheit im Blattspielen erlangte.
Da erfährt man am Abend vorher, daß man am nächsten
Morgen "Intermezzo" von Strauss proben soll. Ich kannte
das "Intermezzo" einfach nicht. Also: Entweder man kann
es dann, oder nicht. Kann mans nicht, so hat man seinen Beruf
verfehlt. Ich konnte es und wurde mit dieser Vertrauensstellung
belohnt, spielte im Orchester Klavier, Orgel, Harmonium, Celesta,
Cembalo in den Strauss-Opern. Durch diese Praxis kam ich ins Orchesterschreiben
rein und konnte daher dann das Trautoniumkonzert schreiben, nachdem
ich aus Breslau aufgrund der unangenehmen politischen Lage weggegangen
war. Ich wollte nicht in die Partei eintreten und tats auch
nicht. Also ging ich nach Berlin, denn mir war völlig klar,
daß in solchen Zeiten Windstille nur im Zentrum des Organs
herrscht. Sala und die Berliner Philharmoniker unter Carl Schuricht
gaben eine erstklassige Aufführung des Trautoniumkonzerts,
von der leider kein Band mehr existiert. Ich spielte oft mit Oskar
Sala im Funk, in der Sendung "Allerlei von Zwei bis Drei".
Für den Funk richtete ich auch Klavierbegleitungen von Paganini-Piècen
ein, die Sala, der ein echter Virtuose war, auf dem Trautonium spielte.
Daraufhin erhielt ich Aufträge für Unterhaltungsorchester-Arrangements,
die mir ein bescheidenes, aber ausreichendes Einkommen sicherten.
Als der Krieg begann, kam ich als Klarinettist zur Militärmusik
und wurde sehr bald als Pianist für Lazarettkonzerte eingesetzt,
wo ich die blinde Sängerin Frau von Winterfeld, die Lehrerin
Wunderlichs, und den Flötisten Gustav Scheck, mit dem mich
noch viel verbinden sollte, begleitete. Verwundet wurde ich nur
in Berlin, beim Bombenangriff, wo meine ganze Habe, auch sämtliche
Manuskripte, zerstört wurde. Das nimmt einen etwas mit, aber
anderen sind viel schlimmere Sachen passiert."
Nach Kriegsende schlug sich Genzmer zunächst in Tübingen
unter anderem als Musikkritiker durch, bevor ihn Gustav Scheck für
den Aufbau der Musikhochschule als stellvertretenden Direktor nach
Freiburg holte: "Die Aufgaben eines Direktors waren andere
als heute. Man mußte Stühle und Fensterscheiben besorgen,
sehen, daß man aus Wohnungen, die die Franzosen für sich
beanspruchten, schnell noch den Flügel als Leihgabe an die
Hochschule bekam. Und Noten beschaffen, wenigstens so was wie die
Beethoven-Sonaten! Ich fing allmählich wieder an, zu komponieren:
eine zweite Flötensonate für Gustav Scheck; die virtuose
Klavier-Suite in C für Carl Seemann, in der sich die ganze
Aufregung der Zeit spiegelt; Chor- und Orchesterwerke, darunter
das 2. Klavierkonzert und das 1. Flötenkonzert, das Scheck
mit den Berliner Philharmonikern unter Celibidache spielte. Davon
gibts nur noch eine Aufnahme und keine Noten mehr, denn die
hatte ich auf Anfrage nach Italien an Severino Gazzelloni geschickt,
wo sie seither leider verschollen sind.
Vielleicht befinden sie sich ja in
seinem Nachlaß. Daraufhin schrieb ich eben ein 2. Flötenkonzert,
wieder für Scheck." Als Kompositionsauftrag des Südwestfunks
entstand 1951 das Konzert für Mixturtrautonium (die elaboriertere
Form des Trautoniums), welches Sala und das SWF-Sinfonieorchester
unter Hans Rosbaud uraufführten. 1957 wurde Genzmer als Professor
für Komposition an die Münchner Musikhochschule berufen,
an der er bis 1974 lehrte. Bald erhielt er den Preis der Bayerischen
Akademie der Schönen Künste, wurde ein Jahr später
Mitglied der Akademie und nach einem weiteren Jahr Direktor der
Musikabteilung der Akademie eine verantwortungsvolle Stellung,
die Genzmer mit freisinnigem Engagement bekleidete. Als Komponist
hatte Genzmer zu diesem Zeitpunkt längst seinen eigenen Stil
gefunden, der die prägenden Einflüsse von Hindemith, Strawinskij,
Bartók, französischer Musik usw. aufgesaugt und umgewandelt
hatte. Der manchmal gegen ihn erhobene, oberflächliche Einwand,
er sei zu sehr im Fahrwasser Hindemiths geblieben, ficht ihn verständlicherweise
nicht an: "Ich habe bei Hindemith studiert, so wie z. B. Killmayer
bei Orff studiert hat. Wozu sollte ich das verleugnen? Nach irgendeinem
Zeitabstand wird man sehen, daß ein Stück wie meine "Sinfonietta"
für Streicher etwas ganz anderes ist. Halten Sie einmal Hindemiths
"Fünf Stücke für Streichorchester" dagegen.
Das Fazit ist ganz einfach: Das sind zwei verschiedene Komponisten.
Oder nehmen Sie meine Chöre das dürften so um die
200 sein : das ist völlig anders als die Chöre,
die Hindemith geschrieben hat. Ich würde eine Messe nie so
schreiben wie Hindemith natürlich ist die kompositorisch
ein Meisterwerk, aber so kompliziert, daß nur Spitzenchöre
sie singen können. Ich habe immer an die normalen, guten Chöre
gedacht, die gute neue Literatur brauchen."
Das kommunikative, spielerische, im besten Sinne musikantische Element
hat in Genzmers Schaffen stets eine dominierende Rolle gespielt,
was sich in idiomatischer Behandlung von Stimmen und Instrumenten
und dem nie erlahmenden Interesse an damit verbundenen Fragen, und
in besonders günstiger Weise in den zahlreichen für die
Möglichkeiten von Laien berechneten Werken niederschlug. Er
war nie ein abstrakter Utopist, sondern immer ein Praktiker, dem
das Neue als Selbstzweck nichts, Verständlichkeit jedoch gewissermaßen
alles bedeutet. Genzmers kompositorische Bandbreite ist immens,
umfaßt eigentlich alle Gattungen außer der Oper
das Außermusikalische reizte ihn weniger, er ist tief in der
"absoluten Musik" und einem damit verbundenen handwerklichen
Ethos der einstigen Neuen Sachlichkeit verwurzelt. Seine Musik freilich
ist keineswegs sachlich kühl. Im Gegenteil: Die besten Stücke
sind von großem Stimmungszauber, versprühen unentwegt
Charme und Grazie. Genzmer ist einer der wenigen Komponisten, die
noch treffliche Scherzo-Sätze zu schreiben verstehen, indem
er neoklassizistische Anklänge nicht zu scheuen braucht, da
ihm handwerkliche Überlegenheit und charakteristische Eleganz,
nüchterner Geschmack und differenzierte Unterscheidungsfähigkeit
in einem Maß zu Gebote stehen, die den Geruch von Altbackenem
nie aufkommen lassen. Fruchtbarkeit und Vielseitigkeit sind sicher
Eigenschaften, die auf ihn zutreffen. Und es versteht sich von selbst,
daß bei einem Komponisten, der so viel geschrieben hat, nicht
alles gleichwertig ist. Mißglücktes wird man jedoch vergeblich
in seinem uvre suchen, dafür aber immer wieder auf besondere
Juwelen stoßen wie die kapriziöse Zauberspiegel-Ballettsuite,
viele seiner klangsinnlichen Streicherstücke und Chorwerke,
seiner spielfreudigen Solokonzerte und von Einfällen übersprudelnden
Kammermusiken. Besonderes Augenmerk gilt auch bei ihm der Symphonie:
"Das Vorbild, wenn man eine Symphonie schreibt, ist letzten
Endes immer Beethoven. Nicht stilistisch, sondern bezüglich
der Verantwortung." War die 1943 uraufgeführte "Bremer
Sinfonie" noch ein erster Versuch, "meine Nullte, in der
das Symphonische noch nicht so gelungen ist", so schrieb er
die Erste "sozusagen als meine Visitenkarte für München".
Die Zweite, ein reines Streicheropus, "ist eines von meinen
Lieblingsstücken". Die groß dimensionierte Dritte
Symphonie, eines seiner Hauptwerke, war ein Auftrag der Münchner
Philharmoniker: "Irgendjemand in einflußreicher Position
hatte damals bei Celibidache schlecht über mich geredet. Celibidache
reagierte darauf allerdings mit Interesse und besuchte mich, um
die ersten zwei Sätze meiner neuen Symphonie zu lesen. Er setzte
sich also hier in den Stuhl, trank ein Glas Saft und guckte ganz
konzentriert die Partitur durch. Er merkte, daß das Stück
mit Ernst geschrieben war, veranlaßte den Auftrag und machte
die Uraufführung. Vom Beginn der ersten Probe an studierte
er das Stück ohne Partitur ein. Er kannte es wirklich besser
als der Komponist und regte mich noch zu einigen sinnvollen Verbesserungen
an. Ich habe ihm großartigste Aufführungen zu danken."
Mit der strukturell sehr zugänglichen, effektfreudigen Vierten
Symphonie wollte Genzmer Anfang der 90er Jahre "mal ein Stück
schreiben, das auch für gute Provinzorchester relativ leicht
zu bewältigen ist." Sie kam, wie eigentlich alles von
Genzmer, "glänzend beim normalen Publikum an" und
wird in Bälde bei Thorophon auf CD erscheinen. Mit der jüngst
vollendeten Fünften schließlich "wollte ich im höheren
Alter noch ein Stück machen, welches eine letzte Kraftprobe
ist. Es ist in meinem Stil, denn ich halte nichts davon, wenn man
Ende achtzig ist und seinen Stil noch ändert. Junge sollen
andere Wege gehen und das machen, was sie für richtig halten.
Und ich tue auch das, was ich für richtig halte. Die Fünfte
war also eine äußerste Kraftprobe, und ich habe über
ein Jahr daran gearbeitet. Nach ein paar Einleitungstakten kommt
ein sehr charakteristisches Unisono-Thema, das in verschiedensten
Formen in allen Sätzen wiederkehrt, so daß das Stück
wirklich eine Art innerer Einheit bildet."
Interview: Christoph Schlüren
(Beitrag für Klassik Heute)
Konzerte zu Genzmers 90. Geburtstag:
7. 2. München, St. Bonifaz, 12:15 Uhr: Deutsche Messe und Instrumentalwerke
mit Orgel; E. Krapp u. a.
9. 2. München, Bayerische Akademie der Schönen Künste,
19 Uhr: "Junge Musiker spielen Genzmer", Uraufführung
der Klarinettensonate und weitere Kammermusik; J. Widmann, M. Eggert
u. a.
11.2. München, Musikhochschule, 20 Uhr: 2. Orchesterkonzert,
Konzert für Klavier und Schlagzeug (Höhenrieder/Sadlo),
Sonate für Cello und Harfe (Storck & Storck) usw.
22.2. München, Max-Joseph-Saal der Residenz, 20 Uhr: 2. Concertino
für Klavier und Streicher, Sonatina seconda für Str.;
M Höhenrieder, Amati-Ensemble, A. Bálogh
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