Äußerlichkeiten interessierten Eduard Erdmann nie besonders. Als
Pianist hielt er nichts von passagentrunkenem Virtuosentum. Sein
Klang wurde stets gerühmt als einmalig und suggestiv, doch
war er nie etwas anderes als das bezwingende Ergebnis der wesentlichen
inneren Dynamik dessen, was er da gerade spielte. Als Komponist
orientierte er sich immer an der tonsätzlichen Substanz und
den ihr innewohnenden Möglichkeiten und versuchte nicht, Wirkungen
zu erzielen, die er dem gewählten Material hätte aufzwingen
müssen. Als Mensch im täglichen Gemeinleben bedeutete
ihm sein 'Erscheinungsbild' eigentlich nichts, und abgewetzte Hosen,
abgetragene Jackets mit zu kurzen Ärmeln waren die Normalität,
wenn man den Aussagen vieler Freunde und Bekannter Glauben schenken
möchte.
Als Pianist war Erdmann der vehementeste Vorreiter zeitgenössischer
Musik im Berlin der zwanziger Jahre, und zugleich stieg sein Ruf
unaufhaltsam als begnadeter Bach- und Schubert-Spieler. Auf reine
Schubert-Recitals ließ er sich allerdings keinesfalls ein:
wer seinen Schubert hören wollte, mußte - oder durfte
- vorher Kompositionen von entschiedenen Neutönern wie Arnold
Schönberg, Artur Schnabel, Heinz Tiessen, Alban Berg, Ernst
Krenek oder Hans Jürgen von der Wense anhören. Krenek
blieb ihm als Komponistenkollege wie auch Tiessen und Philipp Jarnach
lebenslang verbunden, auch nach der alle schöpferischen Wege
trennenden Zeit des Nationalsozialismus. Es entzieht sich sicherlich
jeder Beschreibung, welch inwendigen Zugang Erdmann zur Musik Schuberts
gewonnen hatte, doch mag folgender Bericht Ernst Kreneks, der 1920
als Kompositionsschüler Franz Schrekers nach Berlin kam, eine
Ahnung davon vermitteln:
"Wie Erdmann über Musik sprach, war mir vollständig
neu, aber ich war anscheinend innerlich bereit für diese Wendung,
so daß ich seine Anschauungsweise sogleich mit Begeisterung
übernahm. Hier wurde über Musik und vor allem Komposition
ganz sachlich gesprochen, ohne Mystifikation oder dumpfe und vage
Instinkthörigkeit, als über eine Sache, die vom Menschen
gemacht und kontrolliert wird und deren technische Voraussetzungen
definiert werden können und müssen. Dabei wurde sie aber
auch nicht zum bloßen Handwerk degradiert, als ob sie nur
bescheidene Gebrauchsartikel zu erzeugen vermöchte, sondern
hohe intellektuelle Ansprüche wurden stets betont.
Diese mir so neue Einstellung wurde mir sehr bald ebenso überraschend
wie schlagend an den Liedern von Franz Schubert demonstriert. Erdmann
muß aus irgendwelchen Bemerkungen entnommen haben, daß
ich von Schubert keine Ahnung hatte, und er unterwarf mich mit ebensoviel
Geduld wie Begeisterung einem veritablen Kursus, in dem wir an manchem
langen Nachmittag und Abend Hunderte von Schuberts Liedern durchnahmen.
Man kann sagen, daß Erdmann dabei sein sensitives und brillantes
Klavierspiel mit einer angenehmen hohen Baritonstimme begleitete,
deren Mangel an Volumen und konventioneller Tonschönheit durch
kristallklare Intonation, intelligente Phrasierung und exakte Artikulation
mehr als aufgewogen wurde. Da ich bis dahin gelernt hatte, die Bedeutung
von Liedern nur danach zu bemessen, wie weit es dem Komponisten
gelungen war, den Gefühlsgehalt des Textes musikalisch 'auszudrücken',
wobei der zwar 'genial begabte, aber wirklich primitive' Schubert
dem raffinierten Hugo Wolf nicht das Wasser reichen konnte, war
ich zunächst schockiert, als Erdmann mir erklärte, daß
die Beziehung zum Text höchstens von sekundärer Bedeutung
sei, daß er selbst beim Studium dieser Lieder auf die Worte
gar nicht achte, daß dieses oder jenes Lied ebenso schön
wäre, wenn die Singstimme auf einem Horn geblasen würde
- daß es auf ganz andere Dinge ankäme, wie: Ausbalancieren
unsymmetrischer Periodenglieder durch harmonische Rückungen
oder Verschiebung von Akzenten, Störung und Wiederherstellung
des metrischen Gleichgewichts durch Varianten in Dynamik, Textur
und Registerlage, und viele andere solche, scheinbar rein 'technische'
Details. Ich entwickelte nicht nur eine bis heute andauernde tiefreichende
Affinität zu Schuberts Werken, sondern entdeckte auch eine
ganz neue musikalische Welt. Durch diesen Schubert-Lehrgang hat
Eduard Erdmann auf mein musikalisches Denken einen entscheidenden
und permanenten Einfluß ausgeübt.
Ein direktes Ergebnis unserer Schubert-Studien war Erdmanns Anregung,
Schuberts unvollendete C-Dur-Sonate für ihn 'fertig zu komponieren',
da er dieses ihm nahestehende Werk als ein Ganzes in sein Repertoire
aufnehmen wollte. In der engen freundschaftlichen Beziehung, die
sich damals zwischen uns schnell entwickelte und bis zu Neds vorzeitigem
Ableben fortdauerte, war sein Pianistentum freilich stets von untergeordneter
Bedeutung. Was uns verband, war unser zentrales Interesse an der
Komposition von Musik, nicht an ihrer Aufführung."
Soweit Ernst Krenek in den 'Erinnerungen an einen Freund'. Hören
Sie nun Eduard Erdmann in einer Aufnahme vom 17. März 1952
im Seidlhaus mit der späten Klaviersonate in B-Dur DV 960 von
Franz Schubert, mit den Sätzen:
- Molto moderato
- Andante sostenuto
- Scherzo. Allegro vivace con delicatezza
- Allegro ma non troppo
Sie hörten Franz Schuberts späte B-Dur-Sonate DV 960,
gespielt von Eduard Erdmann.
Eduard Erdmann wurde am 17. März 1896 im livländischen
Wenden geboren (im heutigen Lettland), und die Rechtsanwaltsfamilie
übersiedelte 1902 nach Riga, wo der Achtjährige ersten
Klavierunterricht erhielt. 1910 trat er bei einem Schülerkonzert
in Riga erstmals öffentlich auf der Bühne. 1912 entstand
mit dem Lyrischen Stück für Violine und Klavier "An
den Frühling" op. 1 nicht nur Eduard Erdmanns erste später
bei Ries & Erler veröffentlichte Komposition. Zudem setzte
er seine Klavierstudien bei dem Leschetitzky-Schüler Bror Möllersten
fort und nahm am allrussischen Klavierwettbewerb in Moskau als jüngster
Mitbewerber teil. Das nächste Jahr wurde vom Tod seines Vaters
überschattet. Er erhielt musiktheoretischen Unterricht vom
Rigaer Domorganisten Harald Creutzburg, klavieristische Unterweisung
von Jean du Chastain, und absolvierte im Frühjahr 1914 das
Abitur mit vierzehn Hauptfachprüfungen. Hochbedeutend für
sein pianistisches Vorankommen waren Sommerkurse in Königsberg
mit Conrad Ansorge, bei dem er nach der Übersiedlung mit seiner
Mutter nach Berlin an der dortigen Musikhochschule weiterstudierte.
Es war eine glückliche Fügung für Eduard Erdmann,
daß er in Berlin Kompositionsschüler von Heinz Tiessen
wurde, des aus Königsberg stammenden Vordenkers der "Neuen
Klassizität", die dieser schon 1911, also einige Zeit
vor Busoni, zur Notwendigkeit erklärt hatte. Tiessen war in
seinen früheren Werken, zu denen die Symphonie 'Stirb und Werde!'
zählt, einerseits Fortführer Richard Straussischer Errungenschaften,
andererseits mutiger Erkunder freitonaler Räume. Später,
vor allem in den zwanziger Jahren, wurde er einer der führenden
Komponisten des Expressionismus. Als Symphoniker bewunderte er besonders
Anton Bruckners umfassende Meisterung der großen Form und
stand der kaleidoskopischen Welt Mahlers skeptisch gegenüber.
In dieses organisch-lebendige Formverständnis, wo jedes Detail
nur hinsichtlich seiner Funktion innerhalb des Gesamterlebnisses
eine Berechtigung hat, wuchs auch der junge Eduard Erdmann rasch
hinein. Zunächst schrieb er unter Tiessens Aufsicht eine Reihe
Klavierstücke und Lieder, und das 1918 abgeschlossene 'Rondo
für Orchester', Tiessen gewidmet, wurde 1921 von den Berliner
Philharmonikern unter Arthur Nikisch uraufgeführt. Im Jahr
zuvor war bereits unter Peter Raabes Leitung in Weimar auf dem Tonkünstlerfest
des Allgemeinen Deutschen Musikvereins seine Alban Berg gewidmete
erste Symphonie erstmals erklungen, die noch deutlich die Spuren
Tiessenscher Zielsetzungen trägt, typisch für die komplexen
harmonischen Strukturen und hochfahrenden thematischen Gegensätzlichkeiten
jener Zeit von unentwegtem Rubatogebrauch lebt. In der folgenden
Violinsolo-Sonate op. 12 für Alma Moodie fand Erdmann zu einem
weit persönlicheren Ausdruck, der in der unbedingten Linearität
und Zielstrebigkeit der Harmonik die eigentümliche polyphone
Welt seiner weiteren Werke immer intensiver durchdrang. Die Ernst
Krenek zugeeignete zweite Symphonie op. 13, das Klavierkonzert op.
15 und das unglücklicherweise 'Ständchen' betitelte Orchesterwerk
op. 16, allesamt in der Universal Edition erschienen, ließen
den Komponisten Erdmann dem genialen Pianisten wenigstens ebenbürtig
erscheinen, für den Busonis 'Fantasia contrappuntistica' das
"wohl bedeutendste Werk der modernen Klavierliteratur"
war: "Dieses Werk muß man kennen."
Erdmann war nicht nur als Komponist und ausführender Musiker, der viele
heutige 'Klassiker der Moderne' ur- und wiederaufführte, eine
der zentralen Gestalten der Neuen Musik in den zwanziger Jahren
in Deutschland. Bei den vom Fürsten von Fürstenberg ausgerichteten
ersten 'Donaueschinger Kammermusiktagen für zeitgenössische
Tonkunst' war er Jurymitglied. Er wirkte entscheidend bei den Bauhauskonzerten
mit - unter anderem bestritt er das Eröffnungskonzert am 4.
Dezember 1926 in Dessau - und stand in regem Austausch mit anderen
Größen des kulturellen Lebens wie dem Philosophen Max
Scheler und dem Maler Emil Nolde.
Inzwischen hatte er mit seiner Frau Irene, die eine begabte Liedkomponistin
war, ein Landhaus in Langballigau an der Flensburger Förde
erworben, das allmählich eine auf etwa 12.000 Bände anwachsende
Privatbibliothek beherbergen sollte, eine nahezu vollständige
Erstdrucke-Kollektion von Luther bis Rilke. Und 1925 war er vom
Kölner Generalmusikdirektor Hermann Abendroth als Klavierprofessor
an die dortige Musikhochschule berufen worden, wo er nun engen Kontakt
mit dem gleichfalls dort lehrenden deutsch-katalanischen Komponisten
Philipp Jarnach pflegte. Ab 1929 trat er im Klavierduo mit Walter
Gieseking auf.
Doch dann stellten die Nationalsozialisten den Menschen Erdmann
kalt und ließen ihn nur noch als konzertierenden Pianisten
gewähren, nachdem er 1935 seine Kölner Professur aus Protest
gegen von der Partei veranlaßte Ausschreitungen gegen mißliebige
Kollegen niedergelegt hatte. Seine Kompositionen wurden mit Aufführungsverbot
belegt. Das einzige Werk, das er während des Dritten Reichs
schrieb, war ein Nolde gewidmetes Streichquartett op. 17, einer
der eminentesten Beiträge zu dieser in unserem Jahrhundert
an Meisterwerken nicht armen Gattung, dessen zentraler langsamer
Satz seinem selbstkritischen Schöpfer auch in späten Jahren
noch besonders am Herzen lag. (Es ist mittlerweile auf CD erhältlich,
MDG/Helikon CD 525 0645-2.)
Nach dem Kriege komponierte er, der nun unermüdlich vormals
'Entartete Musik' zur Aufführung brachte, zunächst ein
Konzertstück für Klavier und Orchester, dann 1947 die
dritte Symphonie op. 19, auf die lediglich noch drei weitere Orchesterwerke
bis zu seinem Tod am 21. Juni 1958 in Hamburg folgen sollten: die
vierte Symphonie, 'Capricci' op. 21 und 'Monogramme' op. 22.
Für eine Berliner Erstaufführung durch die Philharmoniker
unter Richard Kraus gab Erdmann seiner dritten gegenüber der
schwerer verständlichen vierten Symphonie den Vorzug. Erstere
hatte bei der Essener Uraufführung am 23. September 1951 unter
Gustav König begeisterte Aufnahme gefunden, und Ernst Krenek
hielt den langsamen Satz daraus für "das schönste
im 20. Jahrhundert komponierte Adagio". Zum Scherzo bemerkte
Erdmann: "Sowohl Scherzo wie Trio sind vorwiegend auf dem Tritonusschritt
(verminderte Quint) aufgebaut, der vor allem in der Paukenstimme
fortlaufend verwandt wird. Das sehr bewegte Tempo des Scherzos kontrastiert
mit dem Ländlerzeitmaß des gesangvollen Trios. Bei der
Wiederholung des Scherzos ist die Instrumentation völlig verändert."
Hören Sie nun Scherzo und Finale, welches letztere in einer
A-B-A-C-A-B-A-Rondoform geschrieben ist und mit einem zyklischen
Rückgriff auf das Hauptthema des ersten Satzes schließt,
aus Eduard Erdmanns dritter Symphonie op. 19 in einer Aufführung
mit den Münchner Philharmonikern unter Leitung Gustav Königs
vom 13. März 1955.
Sie hörten den dritten und vierten Satz, Scherzo und Rondo-Finale,
aus der dritten Symphonie von Eduard Erdmann. Gustav König
dirigierte die Münchner Philharmoniker.
Wie sein Lehrer Heinz Tiessen wurde Eduard Erdmann nach dem Zweiten
Weltkrieg als Komponist weitgehend vergessen. Der Siegeszug der
neuen 'Avantgarde'-Generation auf der Suche nach immer neuen Klängen,
der absolutistische Anspruch der Serialisten - das paßte nicht
zum freitonalen, aber doch ungebrochen den tonalen Formenergien
nachspürenden Geist der Freidenker der zwanziger Jahre. Entweder
man bekannte sich zur Schönbergschen Ästhetik, wie dies
auch Krenek tat, oder man wurde ignoriert. So wurde Erdmann schließlich
als ein grandioser Pianist betrachtet, der nebenbei auch - relativ
wenig inzwischen - komponierte. Und ein grandioser Pianist war er,
der seit 1950 an der Hamburger Musikhochschule auf Berufung Philipp
Jarnachs eine Meisterklasse für Klavier betreute, wahrlich
nach wie vor. "Vergeistigtes Spiel", "himmlisch und
dämonisch zugleich", "entpersönlicht im besten,
lebensvollsten Sinne" - die Würdigungen seines Wirkens
überschlugen sich, ohne etwas sagen zu können. Hören
Sie nun Eduard Erdmann und das damalige 'Orchester des Reichssenders
München' unter Hans Rosbaud in einer Aufnahme vom 17. Januar
1945 mit Robert Schumanns 1849 komponiertem 'Introduction und Allegro
appassionato'-Konzertstück für Klavier und Orchester op.
92.
Robert Schumanns Konzertstück 'Introduction und Allegro appassionato'
op. 92 spielten Eduard Erdmann und das Symphonieorchester des Bayerischen
Rundfunks unter Leitung von Hans Rosbaud in einer Aufnahme kurz
vor Kriegsende.
In seinen letzten Lebensjahren mußte Eduard Erdmann als starker
Raucher nach zwei Herzinfarkten sein Konzertpensum immer mehr herunterschrauben.
Doch zuvor, von 1946-54, widmete er sich intensiv den öffentlichen
Auftritten, die er selbst als Angelegenheiten des Lebensunterhalts
herunterzuspielen beliebte. Seine musikalische Vorstellungskraft
war ungeheuer stark, und er zog das 'stille' Partiturvergnügen
längst dem Konzert vor. So erzählte sein Lehrer Heinz
Tiessen: "Er wollte nichts hören, was er kennt, denn er
empfängt von jeder Musik sofort einen festen ersten Eindruck,
an dem sich, wie er betonte, niemals auch nur das Geringste ändert;
das gilt für sein eigenes Spiel wie für die Wiedergabe,
die er unabdingbar von seinen Schülern verlangt, und wenn er
Abweichungen hört, wird er ungemütlich. Auch eine eigene
Entwicklung, die den Interpreten in ein Werk tiefer oder gar anders
hineinwachsen läßt, war ihm demnach fremd."
Ein anderer Schüler Tiessens, der zu jener Zeit in Berlin Berühmtheit
erlangte, war Sergiu Celibidache, der sich nicht entsinnen kann,
je sonst ein so bezwingendes Bach-Spiel gehört zu haben wie
von Eduard Erdmann. Doch leider ist kein Takt Bach unter Erdmanns
Händen aufgenommen worden von diesem Mann, der Aufnahmesitzungen
haßte und als erster großer Pianist die Goldberg-Variationen
ungekürzt und unbearbeitet in seinem Repertoire führte.
Ein Pianist freilich, das wollte er zuletzt sein - ein Sänger,
ein universeller Musiker: ja, der notgedrungen auf dem Klavier musizierte.
Und doch war er auch ein Pianist, einer der ganz Großen. Hören
Sie zum Abschluß die 'Bilder einer Ausstellung' von Modest
Mussorgskij in einer Aufnahme vom 17. März 1952 im Seidlhaus.
Am Klavier: Eduard Erdmann.
Sendemanuskript für BR4 (Redaktion und Musikauswahl: Wilfried
Hiller);
"Eduard Erdmann zum 100. Geburtstag",
'Aus dem BR-Archiv';
Sendung: 18.4.1996, 20:15-22:oo.
Christoph Schlüren, 4/96
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