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Nicolas Bacri

VI. Symphonie op. 60 & Violakonzert 'Une prière' op. 51

Mit den heute bedenkenlos verordneten, etablierten Messlatten des so schnelllebig-oberflächlichen wie reaktionär-orthodoxen Modernismus beurteilt, hätte Wolfgang Amadeus Mozart seinerzeit keine Chance gehabt, als "wichtiger Komponist" erkannt zu werden. Man hätte in ihm einen gewandten Haydn-Epigonen ausgemacht und sein Schaffen als generellen Anachronismus abgetan. Mit welcher Form von Ästhetik hätte er, in dem die Welt heute den größten Komponisten aller Zeiten erblickt, sich gegen das Urteil einer selbstgerecht-inkompetenten Fachwelt wehren können?

Nicolas Bacri ist nicht Mozart, und die Welt ist kindlicher geworden. Der am 23. November 1961 in Paris Geborene hatte schon recht früh seinen Durchbruch zu breiter Anerkennung geschafft, und seine frühe, an post-Webernschen Atonalität orientierte Stilphase gipfelte in der Elliott Carter gewidmeten Ersten Symphonie (1983-84). Große Autoritäten der älteren Komponistengeneration wie Carter oder Henri Dutilleux zollten ihm hohes Lob als frühvollendetem Handwerker und ergreifendem, inspiriertem Tonschöpfer. Schon als 23-jähriger hatte Bacri die Idee des progressiven Modernismus ausgeschöpft. Er suchte nach Wegen, die sachliche Innovation der Tonwelt zu transzendieren, und verbunden damit nach der spirituellen Dimension hinter der materialistisch organisierten Behandlung des klingenden Materials. Man könnte dies auch den Versuch nennen, der horizontalen Vereinnahmung dessen zu entrinnen, was heute Musik genannt wird, und eine neue Vertikale zu errichten, die über das Schöne und Hässliche, das Emotionale und Konstruktive hinaus in verschüttete Tiefen und entschwundene Höhen vordringt und diese energetisch verbindet.

Bacris Schaffensweg weist über ästhetische Kategorisierungen hinaus. Das Ausfalten eines kontinuierlichen Melos, die umfassende Achtung der tonalen Natur des Klanges, darauf gründend die Bewusstheit über Form als lebendigen, erlebten und dadurch erlebbaren Zusammenhang, der in seiner Essenz nicht intellektuell begründet werden kann und die Sogkräfte der emotionalen Anhaftungen beherrscht, indem er sie vogelperspektivisch als Werkzeuge des Affekts arbeiten lässt -- all das hat mit der postmodernen Haltung, die Stilmittel aus dem kalten Büffet der Überlieferung auszuwählen und nach Gutdünken zu mischen, nichts zu tun. Natürlich sucht Bacri, Ratio und Gefühlswelt in eine -- stets zerbrechliche -- Balance zu bringen, aus ihrer scheinbaren Gegensätzlichkeit überraschende Lösungen abzuleiten. Aber als Künstler ist er ein intuitiver Täter, dessen Werke der Niederschlag mit allen Sinnen erspürter Notwendigkeit sind. Seit vielen Jahren gilt sein dezidiertes äußeres und inneres Streben zudem einem emanzipierten Klassizismus, der Willkür, Sentimentalität und modische Klangemanation in Schach hält. Beide auf dieser CD vereinten Werke, die Sechste Symphonie und das Violakonzert 'La prière' , haben, so der Komponist, "auf der Basis von sehr unterschiedlichem Material die gleiche formale Grundkonzeption: Beide sind sie Sonatenformen in einem Satz."

Nicolas Bacri hat sich selbst seit früher Zeit als Symphoniker verstanden, und immer wieder steuerte sein Schaffen kathartisch auf eine nächste Symphonie zu. Die Sechste Symphonie komponierte er 1998 als Auftragswerk von Radio France für das Orchestre National de France, welches unter Leonard Slatkin die Uraufführung spielte. Sie ist, zunächst bedingt durch die Auftragsmodalitäten, ein äußerst knappes, mit immenser Präzision ausgeführtes Werk, worüber Bacri sagt:

"Kann eine Symphonie von zwölf Minuten Dauer eine 'wirkliche Symphonie' sein? Mir scheint, dass die Frage zu bejahen ist, wenn das Werk die konzeptionellen Kriterien der Gattung erfüllt, indem es einerseits jegliches Vorurteil hinsichtlich der meßbaren Länge übergeht und andererseits -- wie ich es tue -- davon ausgeht, dass Musik nicht so sehr eine Kunst ist, die mit der Organisation von Zeit zu tun hat, als vielmehr mit der Aufhebung von Zeit. Kürze sollte die organische Ganzheit des Stücks verstärken."

 

Bacri widmete die Sechste Symphonie seinem einstigen Kompositionslehrer Serge Nigg (geb. 1924), und in ihrer orchestralen Brillanz, strukturellen Leichtigkeit, transparent fließenden Kontrapunktik, rhythmisch-melodischen Vitalität und formalen Makellosigkeit ist sie ein würdiger und angemessener Tribut an den Ravel geistesverwandten Mentor. Da Bacri sich zum Zeitpunkt der Entstehung sicher war, dass dies seine letzte Symphonie im ausgehenden Jahrhundert würde, versah er sie mit mehr oder weniger offenkundigen Reminiszenzen an Antonín Dvoráks gegen Ende des 19. Jahrhunderts kompoierte Symphonie aus der Neuen Welt (Beginn des Finales) und Henri Dutilleux' in der Mitte des 20. Jahrhunderts entstandene Erste Symphonie (Scherzo). Auf die Introduktion folgt das erste, dann das zweite Thema (hier in den Celli, später in der Reprise in den Geigen). Das Scherzo bringt die Durchführung, die in den langsamen Satz übergeht, in welchem vermehrt Elemente aus der Introduktion empordrängen. Das enthusiastische Finale übernimmt die Funktion der Reprise.

Kaum ein Komponist unserer Zeit dürfte sich so detailliert auf den verschlungenen Seitenpfaden der Musikgeschichte auskennen wie Bacri, und natürlich bezieht er vielfache untergründige Anregungen aus dem Schatz des Erkundeten. Doch transformiert er dies stets ins Eigene. Ein Beispiel soll genügen: Mag der Beginn der andachtvollen Largo-Introduktion manchen aus der Ferne an denjenigen von Sibelius' Vierter und Fünfter Symphonie erinnern, so bezieht sich die Tempobezeichnung des daraus hervorgehenden schnellen Hauptsatzes, Allegro collerico , unmissverständlich auf den Kopfsatz von Carl Nielsens Zweiter Symphonie .

Das gleichfalls vier Sätze in einem umspannende, 1995-97 entstandene und später revidierte Bratschenkonzert 'Une prière' ( Ein Gebet ) ist, so Bacri, "kein symphonisches Werk". Indem es 'dem Gedächtnis der jüdischen Märtyrer aller Zeiten gewidmet' ist, womit Bacri sich auch auf seine eigenen Wurzeln besinnt, hebt es selbstverständlich als Trauermusik an. Das kanonische Largo cantabile ist Bacris Tribut an den streng kanonisch aufgebauten Kopfsatz aus Henryk Mikolai Góreckis Dritter Symphonie , die nicht nur mit erheblicher Verspätung ein kommerzieller Welterfolg wurde; vielmehr hat gerade dieser Satz in seiner Vermählung von strukturell unerbittlicher Konsequenz und emotionalem Sog auf viele Komponisten starken Eindruck gemacht (z. B. Peteris Vasks). Eine kleine Solokadenz der Bratsche bildet die Brücke zum zweiten Thema, welches einen völlig anderen Charakter hat. Hinterher wurde Bacri von einem Musiker auf den "verborgenen Sinn" angesprochen, den er während des Schaffensprozesses nicht beabsichtigt hatte, der ihm jedoch plausibel erscheint: das erste Thema als "Schilderung der jüdischen Seele", das zweite als "Jagd der Barbarei gegen diese". Mit der Passacaglia setzt die von hoher Innenspannung erfüllte Durchführung ein, die über die von Instrumenten des Orchesters attackierte Solokadenz der Bratsche in das Scherzo übergreift und das erwirkt, was Bacri als "Transformation des Materials" bezeichnet. Die Reprise des gesamten Stücks, die Rückkehr der anfänglichen Tonalität, fällt mit der Reprise des Scherzos zusammen, und nun kehren in umgekehrter Folge das zweite und das erste Thema wieder. Die fast unirdisch losgelöste Stimmung des träumerischen Andante-Schlussteils entspricht der Transzendenz von Trauer und Klage -- im Angesicht von Schrecken und Tod sieht der Mensch plötzlich die offene Tür und schaut ins Unvergängliche.

Christoph Schlüren, 2004.